Der Tag der Tage nimmt seinen Lauf

4221 Words
Ich bekam gar nicht mehr mit, wie wir die restliche Strecke bis zu unserer Turnhalle, in der der Abschlussball stattfinden sollte, zurücklegten. Das Einzige, was ich wahrnahm, war mein keuchender Atem, der kalte Schweiß auf meiner Stirn und das gleichmäßige Brummen der Klimaanlage, die vergeblich versuchte die Wärme von draußen zu bekämpfen. Aber ebenso wie ich musste sie einsehen, dass man gegen manche Dinge eben machtlos war. Schwankend hiefte ich mich aus dem Auto, während mein Vater mir galant die Tür aufhielt. Die Schwüle des frühen Abends umhüllte mich und nun bekam ich zusätzlich zu der Übelkeit auch noch einen Anfall von Schwindel. Haltsuchend griff ich nach dem Arm meiner Mutter, die schnell an meiner Seite aufgetaucht war. Sie kannte das ganze Theater ja bereits. Meine Eigenarten waren schon eine Sache für sich. Aber naja, was sollte ich dazu sagen... Es war perfekt, der Abend konnte beginnen! Als ich meine Tante schon von weitem an ihren weißen, auf Hochglanz polierten Mercedes-Benz gelehnt sah, die sich gerade ihre Haare im Seitenspiegel richtete, wäre ich am liebsten in die andere Richtung gelaufen und hätte mich unter einem Auto verkrochen. In meiner Verfassung nun auch noch diese ekelerregende Person auf mich loszulassen, grenzte an Körperverletzung. Aber was sollte ich schon machen. Meine Tante tat, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, ohne dass man sie daran hindern konnte. Da waren auch meine Eltern machtlos dagegen, die beide nur zu genau wussten, wie sehr ich diese Person verabscheute. Schließlich entdeckte meine Tante uns, was ich bis zum letzten Moment versucht hatte zu vermeiden. Wild winkend kam sie auf uns zugeeilt, wenn man das überhaupt eilen nennen konnte. Sie stöckelte wild auf ihren 10 cm High Heels herum, mit denen sie nicht einmal richtig laufen konnte und wackelte dabei wild mit ihrem Hintern. Dazu hatte sie einen knielangen, schwarzen Rock und eine türkisfarbene Bluse an, die meiner Meinung nach viel zu viel Einblick zuließ. Aber das war ihr Ding. Sie musste damit den ganzen Abend herumlaufen. "Hallo ihr drei!", trällerte sie fröhlich und drückte mir links und rechts einen Kuss auf die Backe. Ihhhhhh! Hoffentlich hatte ich jetzt nicht ihren roten Lippenstift im Gesicht hängen. Sonst konnte ich wirklich als Clown durchgehen. "Hallo", war das Einzige, was ich hervorbringen konnte. Zu mehr war ich nicht im Stande. Nachdem meine Tante auch noch an meinen Eltern ihr Begrüßungsritual vollzogen hatte, wandte sie sich wieder mir zu, wobei mich ihre kleinen, blauen Augen abschätzig von oben bis unten musterten. "Heute ist also dein großer Tag. Du hast das Abitur hinter dir. Auch wenn ich sagen muss, dass wir früher eindeutig schlauer gewesen sind, nicht wahr Susanne? Sieht man ja an der PISA Studie. Die Jugend von heute wird immer dümmer. Erstaunlich, dass überhaupt noch so viele das Abitur schaffen. Vor allem du, mit deinen Kinderfantasiegeschichten, in die du immer die Nase steckst. Solch ein Quatsch! Hätte ich echt nicht gedacht, aller Achtung", seufzte meine Tante gequält auf, wobei sie doch tatsächlich meinte, sie mache mir damit ein Kompliment. Jaaaa die Jugend von heute, schlimm! Zu nichts mehr zu gebrauchen... Ich erwiderte nichts darauf. "Und ohhhh, Susanne! Was ist das da für ein prüdes Kleid, das deine Tochter trägt? Geht sie auf einen Seniorennachmittag?", fuhr sie unbeirrt fort, als sei ich gar nicht mehr anwesend. Ich schnappte nach Luft. Das hatte sie doch gerade nicht wirklich... Die Augenbrauen meiner Mutter schnellten unheilvoll in die Höhe, doch sie ging ebenfalls nicht weiter auf die Sticheleien ihrer Schwester ein. Das hätte sowieso nur in einer sinnlosen Diskussion geendet, die den ganzen Abend überdauerte. Stattdessen drückte sie mich noch einmal fest an sich, sodass ich ihre vertraute Nähe spüren konnte, was mir wieder etwas Kraft gab. "Du bist wunderschön, Liebling! Schau dir deine Tante doch an. Sie leidet unter Geschmacksverirrungen. Eine arme, bemitleidenswerte Frau, mit einem Aufmerksamkeitsdefizit", flüsterte sie mir leise ins Ohr. Ich grinste in mich hinein. Meine Mutter wusste immer, wie sie mich aufheitern konnte. Sie war einfach die Beste. Wir schlenderten, stöckelten und stolperten auf den Eingang der Halle zu, während man von drinnen bereits die ersten Soundchecks der Band hören konnte, die extra für DEN TAG DER TAGE engagiert worden war. Wir mussten schon ein komisches Bild abgeben, wie wir da mehr oder weniger freiwillig den Einang passierten, eine völlig bunte Mischung aus Aufreißer, Elegantheit, Schlichtheit, Selbstbewusstsein, Euphorie, Arroganz, Schüchternheit und Panik. Wenn ich uns so gesehen hätte, ich hätte bestimmt fluchtartig das Weite gesucht. Doch die Türsteher ließen uns zu meinem großen Bedauern ohne Probleme passieren, was meiner Ansicht nach ziemlich fahrlässig war. Aber mich fragte ja niemand. In der Eingangshalle standen wild verstreut kleine Stehtische herum, an denen sich schon einige Leute drängten, die Sekt tranken, kleine Snacks aßen und sich angeregt unterhielten. Der Raum an sich war schön dekoriert worden, jedoch konnte man nicht ganz verbergen, dass das hier eigentlich eine Sporthalle war. Immer mehr Menschen strömten nun durch den Eingang ins Innere und das Stimmengewirr wurde immer größer. "Oh mein Gott!!! So viele Menschen!!! Und die sind alle nur wegen uns da!!!", schoss es mir durch den Kopf. Meine Beine verwandelten sich auf der Stelle in Wackelpudding. Das durfte einfach nicht wahr sein! Was machte ich hier? Warum hatte ich Lara zugesagt?! Wie dumm konnte man eigentlich sein... Als ich dann auch noch feststellte, dass Jessica, Sarah und Katja, die drei Oberzicken und Klassenanfürerinnen aus meiner Stufe, die in ihren superchicken Designerkleidern natürlich traumhaft aussahen, sich keine zwei Meter von mir entfernt über mein Kleid lustig machten, war es um meine Selbstbeherrschung endgültig geschehen. Ich entschuldigte mich schnell mit einem unverständlichen Gestottere bei meinen Eltern, dann stürzte ich in Richtung Toiletten davon. "Warum können die nicht leiser lästern? Warum interessiert es sie, dass mein Kleid ihrer Ansicht nach wie ein Sack aussieht? Warum kann nicht ein einziges mal etwas so laufen, wie es soll? Warum bin ich hier? Wie soll ich das hier bloß überstehen? Und wo verdammt nochmal sind die scheiß Toiletten?!" Mein Kopf schwirrte. Ich wusste nicht mehr in welche Richtung ich laufen musste. Die Orientierung war mir völlig abhanden gekommen. Ich rempelte wild irgendwelche Leute an, entschuldigte mich und torkelte weiter. Nun begann auch noch mein Bauch so laut zu knurren, dass ich schon befürchtete, die ganze Halle würde es hören und eine Gewitterwarnung herausgeben. Aber wie es schien, bemerkte es niemand, außer mir selbst. Also suchte ich hektisch weiter. "Irgendwo hier muss es doch sein. Gleich bin ich da. Ich bin mir ganz sicher, dass es genau dort drüben ist", redete ich mir selbst gut zu. Ich quetschte mich zwischen einem Pärchen hindurch, das mich böse anstarrte und stand am Hintereingang der Halle, durch die heute Abend jedoch kein Einlass war. "Mist! Mist! Mist! Mist! Wenn ich nicht gleich etwas finde, werde ich hier und jetzt...", durchfuhr es mich, doch da war es bereits zu spät. Ein Zittern lief durch meinen ganzen Körper hindurch und ich krümmte mich schmerzerfüllt unter Krämpfen zusammen. Alles um mich herum verschwamm vor meinen Augen und wurde schwarz. Das Einzige, was ich noch tun konnte, war geistesgegenwärtig zu einem der zwei Blumentöpfe zu sprinten, die den Hintereingang zierten und dort den Inhalt meines Magens zu entleeren. Ein Würgreiz nach dem anderen schüttelte mich und ich konnte nichts tun, außer zu versuchen nicht daneben zu treffen, was mir zum Glück irgendwie gelang. "Die arme Palme! Sie sieht so hübsch grün aus. Hoffentlich überlebt sie!", war der erste klare Gedanke, den ich fassen konnte, nachdem der letzte Rest meiner zwei Nutellabrote wieder vor mir lag. Dann erst kam die Scham und mit ihr die ganze Tragweite meines Ausrutschers. Was um Himmels Willen hatte ich hier gerade getan?! War ich von allen guten Geistern verlassen?!!! Fehlte nur noch, dass ich mein Kleid vollgekotzt hätte und das oben auf der Bühne vor versammelter Mannschaft. Aber was noch nicht war, konnte ja noch werden. Ich bemerkte, wie ich allmählich rot wurde, auch so eine Angewohnheit, die ich an mir hasste. Denn diese machte das Ganze nicht gerade leichter, sondern erschwerte es eher gesagt um einiges. Denn nun musste ich zusätzlich zu dem ganzen Desaster auch noch aussehen, wie ein Feuermelder, kurz vor der sicheren Explosion dank Überhitzung. "Alles ok bei dir? Hast du dir den Magen verdorben oder bist du einfach nur so begeistert, wie ich, von dem heutigen Abend?", drang da eine etwas besorgte, aber wohlklingende männliche Stimme an mein Ohr und riss mich aus meinen Selbstverwünschungen. Oh nein! Nicht auch noch das! Das Letzte, was ich jetzt im Moment gebrauchen konnte, war irgendjemand, der sich Sorgen um mich machte und versuchte mir zu helfen. Denn das hatte absolut keinen Zweck. In dieser Situation hier konnte man mir schlicht und ergreifend einfach nicht mehr helfen. Es war bereits alles verloren. "Ja, selbstverständlich ist alles ok bei mir. Nach was sieht das denn aus? Ich kotze nur einfach in einen Blumentopf, wie jeden Abend", stieß ich sarkastisch hervor, versuchte tief und gleichmäßig einzuatmen und wappnete mich gegen das, was nun gleich kommen würde. Es gab drei Möglichkeiten. Erstens: Die Person hatte Mitgefühl, was sich derjenige meiner Meinung nach sonstwohin stecken konnte. Zweitens: Sie war besorgt, dass ich krank sei und Hilfe bräuchte, wobei ich Hilfe durchaus gebrauchen konnte, nämlich eine Einweisung in die Klapsmühle, aber das war eine andere Sache. Oder drittens: Es erwartete mich Spott, was den heutigen Abend natürlich erst perfekt machen würde und wovon ich am ehesten von den drei Möglichkeiten ausging. Egal welche Möglichkeit es jedoch war, ich konnte gespannt sein, welche Art von Person mich nun gleich erwarten würde. ...Langsam drehte ich mich zu der Stimme um... ...Bloß nicht in Panik geraten... ...Nicht anmerken lassen, wie verletzlich man war... ...Ich erstarrte... Zwei moosgüne Augen funkelten mir belustigt entgegen und eine Reihe schneeweißer Zähne blitze wild vor mir auf. "Dann bin ich ja beruhigt. Ich dachte schon du hast einen Nervenzusammenbruch erlitten, bist schwanger oder fällst hier gleich in Ohnmacht", lachte der Junge glockenhell auf, wobei sein Lachen, wie das Aufgehen der Sonne klang. Warum ich so einen dämlichen Vergleich im Kopf hatte, wusste ich selbst nicht so recht. Ein Sonnenaufgang war bekanntlich ja eher weniger laut. Aber der Zusammenbruch von eben hatte mir wohl meine Sinne vernebelt. "Dann bin ICH ja beruhigt, wenn ich DICH beruhigen konnte. So gibt es zumindest einen, der heute Nacht ruhig schlafen kann", witzelte ich, fuhr mit meiner Hand über den Mund und richtete mich nun ganz auf. Ich musterte den Jungen vor mir von oben bis unten. Er hatte kurze, kastanienbraune Haare, die er cool zur Seite gegeelt hatte und Sommersprossen, die seine hohen Wangenknochen zierten. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich in seinem Anblick verlor und konzentrierte mich wieder auf seine dunkle, samtige Stimme. "Dafür werde ich dir ewig dankbar sein", entgegnete der Junge vor mir gerade mit ernster Miene. Er musste etwas älter sein, als ich und überragte mich um mindestens einen Kopf. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Und glaubt mir, den konnte man einfach nicht übersehen. Von unserer Schule war er auf jeden Fall nicht. "Gut so! Das ist das Mindeste, was du tun kannst. Anschließend erwarte ich noch einen Kniefall und einen Handkuss, dann bin ich so halbwegs milde gestimmt", grinste ich und stellte selbst staunend fest, dass ich gerade flirtete. Ich flirtete zum ersten mal in meinem Leben wirklich richtig mit einem wildfremden Jungen um die Wette, der nicht einmal schlecht aussah, den ich jedoch noch nie zuvor gesehen hatte und das auf meinem Abschlussball, bei dem ich mich gerade in einen Blumentopf mit einer Palme darin übergeben hatte. Doch das Seltsamste daran war nicht, dass so ein Typ sich überhaupt herabließ sich mit mir zu unterhalten, sondern dass es mich nicht einmal störte, was gerade eben geschehen war. Das Einzige, was zählte, war nur, dass dieser Junge, der da vor mir stand, sich mit mir unterhielt und mich weiterhin so süß angrinste. Und den Gefallen tat er mir. Er lachte sein glockenhelles Lachen, das meine Haare auf den Armen wie elektrisiert zu Berge stehen ließ. Jede Faser meines Körpers sprang auf ihn an. Auf diesen Jungen, der so unverschämt gut aussah, einfach nur unglaublich nett zu mir war und das, obwohl ich nicht einmal seinen Namen kannte. "Wie überaus gnädig!", rief er da schmunzelnd aus und dann tat er etwas, was mich überrascht den Atem anhalten ließ. Er ging vor mir auf die Knie, nahm zart meine Hand in seine und hauchte mir einen flüchtigen Kuss auf den Handrücken. Ich konnte einfach nicht glauben, dass das gerade geschah. Soetwas passierte doch nur in kitschigen Büchern! Das hier konnte einfach nicht real sein! Ich musste träumen. Doch das wohlige Kribbeln, das sich von der Stelle ausbreitete, wo er mich gerade berührt hatte, überzeugte mich vom Gegenteil. ES WAR WAHRHAFTIG PASSIERT! "Gut, gut. Dann sind wir jetzt wohl quitt", brachte ich stockend hervor, wobei meine Stimme mir nicht so ganz gehorchen wollte. "Sehr schön. Dann würde ich dir am besten noch raten die Überbleibsel deines abendlichen Rituals vom Mund zu wischen, damit die anderen nicht mitbekommen, was für coole Hobbys du hast", riet er mir mit einem unwiderstehlichen Lächeln in den Augen, das mein Herz einen Schlag lang aussetzen ließ und reichte mir ein Taschentuch. Beschämt nahm ich es entgegen und wandte den Blick ab. Wie peinlich! Schnell fuhr ich mir mit fahrigen Bewegungen über meine Lippen und sah, dass ich die ganze Zeit über Kotze im Gesicht gehabt hatte. Ich merkte, wie ich schon wieder rot wurde und meine Wangen brannten vor Scham. "s**t! s**t! s**t!", verfluchte ich den heutigen Abend und seufzte. Peinlicher konnte es ja kaum werden. Wobei... bei meinem Talent konnte man nie wissen. "Alles weg?", wollte ich kleinlaut wissen, wagte es aber nicht direkt in seine Augen zu blicken. Ich wollte gar nicht wissen, was ich dort vorfand. Verachtung, Spott, Hohn. "Ja alles weg", bestätigte er, "du bist wieder so sauber, wie ein weißes Blatt Papier. Jetzt kann der Abend ja beginnen." Ich hielt es nun doch nicht mehr aus und wagte einen Blick nach oben. Der Vergleich mit einem weißen Blatt Papier hatte mich seltsamerweise verlegen gemacht. Warum konnte ich auch nicht so genau sagen. Schließlich ist ein weißes Blatt Papier normalerweise nicht gerade etwas Besonderes oder sehr Schmeichelhaftes. Aber aus seinem Mund klang es so. "Juhu! Wie toll!", brachte ich nicht gerade sehr überzeugend hervor und dann trafen seine Augen auf meine. Beinahe hätte es mir den Boden unter den Füßen weggerissen, was vielleicht auch einfach an der Tatsache lag, dass mir bereits vorhin schwindelig gewesen war, aber wer wusste das schon so genau. Es war so ein richtiger Baaaaam!!!!!!!-Effekt. Ein Baaaaam!!!!!!!-Effekt mit sieben Ausrufezeichen. Mindestens. Seine Augen strahlten mich einnehmend an. Er hatte so unglaublich hellgrüne Augen! Sie erinnerten mich an das saftig grüne Gras der Wiesen, wenn die ersten Strahlen der Sonne darauf fielen und es noch feucht vom Tau war. Wunderschön! Einfach unbeschreiblich... "Dann wünsche ich dir weiterhin noch vvviiieeelll Spaß", seufzte er gedehnt, wobei ich aus seinen Worten heraushörte, dass er ebenso wenig wie ich begeistert von der Idee war, dass der Abend gerade erst anfing, "mach's gut, ähhhh... Wie heißt du eigentlich?" "Samira Flend", antwortete ich einen Ticken zu schnell, was ich sofort bereute. Weshalb ich meinen Nachnamen auch noch dazu nannte, keine Ahnung. Oder doch... Vielleicht hatte ich die aberwitzige Hoffnung, dass er mich so irgendwie wieder ausfindig machen konnte und dies nicht unser einziges und letztes Treffen gewesen war. Ein leises Lachen war zu hören, was mich empört hochfahren ließ. Was fiel ihm ein sich über meinen Namen lustig zu machen?! Depp! Was bildete er sich eigentlich ein?! Ich funkelte ihn wütend an. "Hey, hey, hey! Alles gut! Ich lache nicht über deinen Namen, sondern über die Tatsache, dass du ein Blatt in den Haaren hängen hast. Dein Name ist wunderschön", beschwichtigte er mich schnell und seine Hand fuhr mir vorsichtig durch's Haar. Das war die zweite Berührung des heutigen Abends und meine Freude darüber kannte keine Grenzen. Mein Magen dankte es mir mit einem kribbelnden Ziehen. Mir wurde schon wieder schwindelig und ich fühlte mich, als hätte ich ein bisschen zu tief ins Glas geschaut. Dabei hatte ich doch überhaupt nichts getrunken! "So. Ich bin Asher. Asher O' Brien", stellte der geheimnisvolle Junge sich nun auch vor, was mich verzückt aufatmen ließ. Asher! A S H E R   O'  B R I E N Wie cool sich das anhörte! Es passte so perfekt zu ihm! "Dein Name ist auch ganz in Ordnung", gab ich zu, wobei ich nichts von meiner Euphorie verriet, die durch mich hindurchfloss, wie flüssiges Gold. "Nur ganz in Ordnung?! Er ist weltklasse!", protestierte er heftig. Eingebildet war er also ganz und gar nicht. "Aber du hast recht. Gegen deinen klingt er ziemlich langweilig." Bereits zum dritten mal schoss mir die Röte ins Gesicht, diesesmal aber aus einem ganz anderen Grund. Einem viel besseren, als die Male davor. Er mochte meinen Namen! Asher O'Brien mochte MEINEN Namen verdammt nochmal!!! "Sei nicht dumm, Samira! Der flirtet wahrscheinlich einfach gerne mit jeder, die ihm über den Weg läuft. Und da du ihm so eine gute Vorlage gegeben hast den Helden zu spielen, hat er die einmalige Chance gekonnt genutzt", mahnte eine beständig nörgelnde Stimme in meinem Hinterkopf, die ich jedoch geflissentlich überhörte. "Da hast du wohl recht, danke", nickte ich großspurig und unterdrückte ein Grinsen, das bestimmt total verträumt und dämlich ausgesehen hätte. "Dann bis bald, Samira Flend. War schön deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder", lächelte Asher... hach Asher!!!... und das Einzige, was ich wahrnahm, war seine melodische und wohlklingende Stimme, die mich in ihrem Bann gefangen hielt. Viel zu spät erkannte ich, dass er sich bereits auf dem Absatz umgedreht hatte und in der Menschenmenge vor mir verschwunden war, die mir keinerlei Beachtung schenkte. Ich starrte ihm sogar noch nach, als er schon längst weit und breit nicht mehr zu sehen war. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen jedes einzelne Wort und jede einzelne Geste von ihm zu analysieren. Ich hatte es nicht einmal geschafft ihm Tschüss zu sagen. ABER er hatte bis bald gesagt. Und das musste ja etwas Gutes heißen. Oder lag ich da falsch? Ich brauchte noch einige Minuten, bis ich mich von dem ersten Schock erholt hatte. Schließlich geschah es nicht alle Tage, dass ein unverschämt gutaussehender und dazu noch super netter Typ mich ansprach und nach meinem Namen fragte. Er hatte sich wirklich für mich interessiert!!! Oder nicht? Er hatte mich doch so besorgt gefragt, was mir fehlte und war auf meine Späße eingegangen. Das musste doch etwas heißen!!! Oder nicht? Er war es gewesen, der mich zweimal berührt hatte, weswegen mir immer noch heiße Schauer den Rücken hinunter jagten. Das konnte doch einfach nicht nichts bedeuten!!! Oder nicht? Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Meine Gedanken schwirrten wild durch die Gegend, wie ein Schwarm aufgebrachter Wespen, die vor Panik ihre eigenen Kameraden stachen, bis am Ende bloß noch ein Einziger übrig blieb: "Ich muss ihn unbedingt wieder sehen!!!" Doch das entpuppte sich zu meinem großen Bedauern als ein ziemlich unmögliches Unterfangen. Denn erstens kam in diesem Augenblick plötzlich Lara von hinten angejumpt und warf sich mir mit einem Aufschrei um den Hals, was bei mir beinahe einen Herzkasper verursachte und zweitens hätte ich sowieso nicht gewusst, wie ich Asher ansprechen sollte, falls ich ihn in der Menschenmenge überhaupt irgendwie wieder zu Gesicht bekam. "Da bist du ja! Ich dachte schon ich finde dich gar nicht mehr! Gut siehst du aus. Aber was machst du überhaupt hier hinten?", stieß sie erleichtert hervor und musterte mich eingehend. Wie immer bewunderte ich ihre Energie, die sie einfach für alle Dinge aufbrachte. Sie war ein Wirbelwind sondergleichen und soetwas wie schlechte Laune gab es in ihrem Wortschatz nicht. Sie trug ein bodenlanges, blaues Kleid, das ihre Rundungen perfekt betonte. Ihr rot-blondes Haar floss wie ein Wasserfall über ihre Schultern hinunter und ihre hellblauen Augen funkelten unternehmungslustig. Sie war wirklich eine beachtliche Schönheit. Das sah auch eine Gruppe von Jungs so, die ihr gierige Blicke zuwarfen. Sie ignorierte es jedoch geflissentlich. "Du siehst auch super aus! Ich habe die Toiletten gesucht", gab ich wahrheitsgemäß zu und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Topf mit der bemitleidenswerten Palme darin. "Ach du scheiße!", entfuhr es ihr und sie schlug sich die Hände vor den Mund, "da hat wohl wieder mal dein weltberühmtes Spuckmonster zugeschlagen!" Ich musste unwillkürlich lächeln. Lara war wirklich die beste Freundin der Welt, auch wenn sie ziemlich verrückt drauf war. Aber wer war das heutzutage schon nicht. "Ja genau, es hat wieder einmal zugeschlagen. Wirklich ein süßes, schnuckliges Ding mit den großen Augen, den abstehenden Ohren und den winzigen Zähnen. Und so putzig! Seit neustem lockt es sogar süße, gutaussehende Jungs an. Mein braves Monster. Ich sollte es wirklich besser behandeln. Es verdient eine Auszeichnung", ließ ich die Bombe platzen. Lara's Augen weiteten sich erstaunt und sie setzte ihren "Ich-will-alles-ganz-genau-bis-ins-letzte-Detail-wissen-sonst-bringe-ich-dich-um"-Blick auf, dem ich sofort erlag. Ich erzählte ihr alles. Jede noch so kleine Kleinigkeit. Nichts ließ ich aus. Auch nicht die Sache mit der Kotze im Gesicht, bei der Lara hell auflachte: "Du bist mir so eine! Schaffst es sogar mit Kotze im Gesicht Typen aufzureißen." "Ja ja du kannst noch sehr viel von mir lernen, Kleine", erwiderte ich ernst, wobei wir beide genau wussten, dass SIE diejenige mit den meisten Erfahrungen in dieser Angelegenheit war. Sie hatte ihr erstes mal bereits mit 16 hinter sich gebracht und wechselte ihre Freunde, wie andere ihre Unterwäsche. In Sachen Beziehung waren wir beide eben grundverschieden. Darüber hatten wir schon oft genug heftig diskutiert. Sie hob sich den ganzen "Gefühlsquatsch", wie sie das nannte, lieber für Freunde und Familie auf. In einer Beziehung hatte das ihrer Meinung nach nichts verloren. Ich dagegen war die hoffnungslose Romantikerin, die darauf wartete, dass ein Märchenprinz auf seinem weißen Ross angeritten kam und mich als "Die einzig wahre Frau" auserkor. Ok... das Pferd konnte man gnädigerweise meinetwegen auch weglassen. Doch bis jetzt hatte sich mein Märchenprinz wohl verritten oder meine Mutter hatte ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, weil sie dachte er sei von der hiesigen Reitschule und hätte sich verirrt. Ich berichtete ihr noch den Rest der Story, was sich einfach so total unwirklich anfühlte. Ganz so, als würde ich gerade aus einer meiner Geschichten vorlesen oder von einer anderen Person erzählen. Das konnte doch nicht mir passiert sein! Aber ich wusste es besser. Samira Flend hatte das erlebt und nicht einer ihrer Helden aus ihren Büchern. Es gab doch noch Zeichen und Wunder! Als ich zu der Stelle mit dem Namen des Jungen kam, entfuhr Lara ein erschrockenes: "Ohhhhh!" Ich horchte alamiert auf. Kannte sie ihn? Wusste sie, wer er war, wie alt er war und vielleicht sogar wo er wohnte? Das wäre der absolute Hammer gewesen! Doch gleich darauf kam mir ein anderer, erschreckender Gedanke. Was, wenn er einer ihrer Exfreunde war???!!! Das wäre das sichere Todesurteil für eine mögliche Beziehung mit Asher und mir gewesen, die wahrscheinlich auch so nie zustande kommen würde. Ich hatte ihn erst vor fünf Minuten kennengelernt und dachte schon an eine Beziehung? Wie verrückt war ich eigentlich! Ich hatte sie ja wohl nicht mehr alle. "Kennst du ihn etwa?", drängte ich quängelnd zu wissen und blickte Lara eindringlich an. Sie sollte endlich mit der Sprache herausrücken! Ich hielt es nicht mehr länger aus. Ich musste die Wahrheit erfahren! Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen. Lara machte ein betretenes Gesicht und starrte zu Boden. "Ich ähhh... ich also... jaaaa, ich kenne ihn. Braune Haare, grüne Augen, etwas arrogant und super Figur?", wollte sie fragend wissen. Ich nickte bestätigend. Das war er. Eindeutig. Auch wenn ich mit dem Punkt, dass er arrogant sei, nicht ganz übereinstimmte. Aber ich bezweiflte, dass es hier noch einen Asher O' Brien gab, der zufällig genau so aussah, wie dieser. "Woher kennst du ihn?", hauchte ich schwach, wobei ich nicht einmal wusste, ob ich es überhaupt so genau wissen wollte. Die Übelkeit war mit einem Schlag wieder zurückgekehrt. "Kennst du nicht jemanden, der in unserem Kurs ist und zufällig auch O' Brien zum Nachnamen heißt?", half sie mir auf die Sprünge. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich wusste doch, dass er mich an irgendjemand erinnert hatte! Jetzt wusste ich auch an wen. Jessica O' Brien. Die Anführerin der angesagtesten Zickenclique von unserer Schule und diejenige, die vorhin mein Kleid als Sack bezeichnet hatte. Welche Ironie des Schicksals, dass genau deren Bruder mir nun zur Hilfe geeilt war. Wobei ich mittlerweile wirklich bezweifelte, dass er es ernst gemeint hatte. Jessica wollte immer nur ihren Spaß haben und war nur dann freundlich zu jemandem, wenn etwas dabei für sie heraussprang. Irgendwoher musste sie das ja haben. "Bitte nicht die...", stotterte ich angewidert. "Tut mir leid, Süße! Vergiss ihn. Ja, das ist IHR Bruder. Und er ist einer der heißesten Studenten an der Universität für Sport und Gesundheit. Da ist er gerade im zweiten Semester. So weit ich weiß ist er zurzeit mit einer Sportstudentin zusammen, die Lehrerin werden will. Hab die Zwei mal auf einer Party gesehen...", seufzte sie mitfühlend und nahm mich in den Arm. Ich fühlte mich vollkommen leer. Eigentlich hätten da irgendwo Gefühle in mir sein sollen, aber sie waren nicht da. Nur eine Leere, die mich von innen auffraß. Das Leben war so unglaublich ungerecht...
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