Die Tage, die nicht enden wollen

4483 Words
"Samira! Schatz! Samira Flend, würdest du die Freundlichkeit besitzen, mich nicht die ganze Zeit zu ignorieren und endlich einmal aus den Federn kommen?! Es ist schon elf Uhr!", drang da die ungeduldig nörgelnde Stimme meiner Mutter nur langsam in meine Traumwelt zu mir durch. Verstört schlug ich die Augen auf, obwohl ich viel lieber weiter auf meinem blauen Drachen Camiro über die Weiten des Ozeans geritten wäre, der mich in meinem Traum begleitet hatte und konnte im ersten Moment nichts erkennen. War ich plötzlich über Nacht blind geworden? Panik ergriff von mir Besitzt und meine Muskeln krampften sich schmerzhaft zusammen. Seit meine Tante an einem Gehirntumor gestorben war, der ihr am Ende sogar das Augenlicht geraubt hatte, suchte ich bei mir immer wieder nach Anzeichen, dass auch ich krank wurde. Blind zu werden war eines der schlimmsten Dinge, die ich mir vorstellen konnte. Ich liebte es einfach nur dazusitzen und zu beobachten. Die Natur, die Tiere, die Architektur, die Kunst oder die Menschen, die alle so faszinierend verschieden waren. Doch dann erkannte ich die wahre Ursache meiner Sehschwierigkeiten. Meine Mutter war wohl in mein Zimmer gekommen, wie immer ohne meine Zustimmung abzuwarten, hatte das Fenster geöffnet und die Vorhänge zurückgezogen. Danke Mama! Toll gemacht! Das strahlend helle Licht der Mittagssonne blendete mich nun und mir fiel erst jetzt auf, dass ich ganz nassgeschwitzt war. War ja auch ein guter Plan gewesen, mit einer dicken Decke und meinen Lieblingskuschelsocken zu schlafen. Super mitgedacht, Samira! Für Anfang Juni war es dieses Jahr ziemlich warm. Normalerweise gingen die Temperaturen bei uns nicht über 20 ℃, aber seit ein paar Tagen herrschte eine Schwüle von 28℃ vor, die mich nur noch müder und träger werden ließ, als ich es im Moment sowieso schon war. Ich war eindeutig nicht für solche Temperaturen gemacht. Stöhnend überlegte ich, einfach liegen zu bleiben, mich wieder umzudrehen und so zu tun, als hätte ich den Weckterror meiner Mutter gar nicht bemerkt. Ich könnte einfach weiter schlafen, vielleicht noch einmal in meiner Traumwelt verschwinden und den ganzen Alltag hinter mir lassen. Denn ich hatte absolut sowas von gar keinen Bock auf den heutigen Tag. "DEN TAG DER TAGE", wie meine Mutter nie müde wurde zu betonen. Wobei ich ihn eher als "DEN TAG DES GRAUENS" bezeichnet hätte. Aber da waren wir eben anderer Meinung. Ich hätte am liebsten einfach nur vorgespult und morgen wieder angehalten, aber das ging nunmal nicht. Das Leben war kein Buch, bei dem man einfach so mir nichts dir nichts eine Seite übersprang. Und da mir meine Mutter das auch garantiert nicht hätte durchgehen lassen und ich sie nicht noch mehr verärgern wollte, als ich es sowieso schon längst getan hatte, quälte ich mich schließlich doch mit einiger Überwindungskraft aus dem Bett. Seufzend streckte ich mich ausgiebig, wie eine müde Katze. Es fehlte nur noch, dass ich anfing zu schnurren. Ich schüttelte den Kopf und stolperte auf meinen alten Kleiderschrank aus Eichenholz zu, der in einer Ecke des Raumes stand. Ich hatte ihn als kleines Kind auf dem Sperrmüll entdeckt und so lange gebettelt, bis ihn meine Eltern mitgenommen hatten. Er war zwar etwas ramponiert gewesen, aber nachdem ich ihn zusammen mit meinem Vater wieder aufgehübscht hatte, sah er fast wieder wie neu aus. Ich liebte die verschnörkelten Verzierungen und die Tiere, die trotz dass sie nur aus Holz geschnitzt worden waren, beinahe lebendig wirkten. Besonders ein Kolibri, der vor einer Blüte in der Luft schwebte, als würde er gleich aus ihr trinken wollen, hatte es mir angetan. Ich lächelte leicht in mich hinein. Ich war schon eine unverbesserliche Träumerin und das noch immer nach achtzehn Jahren, die ich nun schon auf der Erde verweilte. Nachdem ich mir achtlos eine Hot Pant mit irgendeinem blauen T-Shirt gegriffen hatte, schlurfte ich mit langsamen Schritten ins Bad. Dort fiel mein Blick zuerst in den großen, goldumrandeten Spiegel, der über dem Waschbecken angebracht worden war. Müde grün-grau-blaue Augen starrten mir dort vorwurfsvoll entgegen, meine vollen Lippen waren unzufrieden zusammengekniffen, meine dunkelblonden Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab und ich hatte noch immer Abdrücke vom Schlafen in meinem Gesicht. Grauenhaft! Ich hätte wirklich lieber liegen bleiben sollen. Bei so einem Anblick wäre sicherlich jedes Kind schreiend vor mir davongerannt. Aber naja, ein Gutes hatte es zumindest. Immer positiv sehen. Ich brauchte mir schonmal keine Sorgen über meine Zukunft zu machen. In einer Geisterbahn hätte ich garantiert sofort einen Job angeboten bekommen. Nachdem ich geduscht und mich fertig angezogen hatte, sah ich zumindest wieder halbwegs ansehnlich aus, wenn mich der Anblick auch nicht wirklich zufrieden stellte. Ich machte mich mit wenig l**t auf den Weg hinunter in die Küche, wo ich bereits das geschäftige Klappern von Geschirr und den Duft von frischen Brötchen in der Luft wahrnehmen konnte. Mein Magen knurrte laut und erinnerte mich somit daran, dass ich seit gestern Mittag nichts gegessen hatte. Na dann wurde es jetzt aber höchste Zeit! Ich sprang die letzten drei Stufen auf einmal nach unten, wie ich es als kleines Kind auch immer getan und weswegen ich mich früher immer so groß und toll gefühlt hatte. Nun war es jedoch leider nicht einmal mehr halb so aufregend. Stöhnend ließ ich mich am Kopfende des Esstisches nieder und versuchte irgendwo in mir drinnen Begeisterung für all das hier hervorzukramen, was mir jedoch nicht gelang. Meine Mutter machte sich gerade einen Kaffee, den sie, als er fertig war, zum Tisch trug, während mein Vater bereits am Tischende saß und versunken in der Tageszeitung las. Sie gab ihm einen kleinen Kuss auf die Stirn, was sein Gesicht zum Strahlen brachte. Dann setzte sie sich neben meinen Vater und nahm zärtlich seine Hand in ihre. Wie immer fiel mir auf, dass die Zwei einfach so perfekt zusammenpassten. Sie waren schon seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet und doch noch so verliebt, wie am ersten Tag. Ich hatte sie noch nie wirklich streiten sehen. Klar hatten sie ab und zu Meinungsverschiedenheiten, aber das klärte sich immer wieder sehr schnell. Wenn ich einmal eine Beziehung haben sollte, dann musste es so laufen, wie bei meinen Eltern. Aber bis jetzt sah es in dieser Hinsicht ziemlich mau aus. Ich hatte mit meinen fast 19 Jahren noch keinen einzigen Freund gehabt, außer Eike, meine große Kindergartenliebe, was meiner Meinung nach nicht wirklich zählte. Und langsam zweifelte auch ich daran, dass sich das je ändern würde. Irgendetwas stimmte in dieser Hinsicht wohl einfach nicht mit mir. Wahrscheinlich würde ich als alte Jungfer enden, die allein in einem Häuschen in ihrem Schaukelstuhl saß, versunken Socken strickte, sich selbst bemitleidete, bis sie es selbst nicht mehr mit sich aushielt, sich daraufhin mit der Stricknadel erdolchte oder irgendwann einfach so tot umfiel - was durchaus wahrscheinlicher war, da der Name Samira Flend gleichbedeutend mit Schisserin anzusehen ist - wobei ihre von Wölfen angeknabberte Leiche erst Wochen später gefunden wurde. "Guten Morgen, Schatz! Heute ist dein großer Tag!", begrüßte mein Vater mich euphorisch, wobei er mich damit nicht überzeugen konnte. Ich verdrehte nur genervt die Augen und griff kommentarlos nach dem Brotkorb. Konnten sie das ganze Theater nicht einfach lassen? "Es wird sicher unvergesslich werden. Ich weiß noch genau, als ich so alt war, wie du. Es war so eine schöne Zeit! Die ganzen Leute, die Musik und alles dreht sich nur um dich!", machte meine Mutter sofort weiter. Ihr stand die Begeisterung ebenfalls ins Gesicht geschrieben. Diese war jedoch absolut nicht ansteckend. Ich bestrich mein armes Brötchen wutentbrannt mit Nutella, sodass sich in der Mitte allmählich ein Loch bildete. Dabei konnte ich sein schmerzerfülltes Stöhnen geradezu hören, das schwöre ich euch! Und es sprach mir damit wirklich aus der Seele. "Wir freuen uns so sehr für dich! Das wird so toll werden! Es ist wirklich ein Privileg, eine solch tolle und intelligente Tochter zu...", wollte mein Vater noch eins draufsetzen, doch ich unterbrach ihn heftig. Mir platzte einfach der Kragen. "Ja, ja Pa! Ich weiß. Danke. Aber ihr wisst ganz genau so gut wie ich, dass ich darauf absolut gar keinen Bock habe! Euch mag so etwas ja vielleicht gefallen, aber ich bekomme allein bei dem bloßen Gedanken daran schon das große Kotzen! Ich hasse solche Veranstaltungen. Ich hasse es im Mittelpunkt zu stehen, vor all den Leuten, die mich nur anglotzen, als sei ich ein Tier im Zoo. Ich hasse es! Verstanden?!", zischte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, bemüht nicht vollends zu explodieren,  wobei ich am Ende dennoch lauter wurde. Kräftig biss ich ein Stück von meinem Brötchen ab und zermalmte es knirschend mit den Zähnen. Der Appetit war mir gehörig vergangen. Warum konnten sie mich mit dem Ganzen auch nicht einfach in Ruhe lassen? Sie wussten doch, wie ich dazu stand! Aber nein, man musste ja auch noch darauf herumreiten. Wenn ich an den heutigen Abend dachte, hätte ich am liebsten mein Nutellabrot wieder ausgekotzt. Ich beherrschte mich jedoch gerade noch, diesem Verlangen nachzugeben, zwang mir noch ein zweites Brötchen hinunter und verdrückte mich dann wieder auf mein Zimmer, während in der Küche betretenes Schweigen herrschte. Doch ich ließ mir kein schlechtes Gewissen einreden. Sie waren ja selbst Schuld. ~ ~ ~ Oben angekommen warf ich mich auf's Bett, kramte mein Handy hervor und schrieb meiner besten Freundin Lara eine SMS: Hi Lari! Ich drehe hier noch durch! Ich kann da heute Abend einfach nicht hin. Meine Eltern sind auch schon ganz besessen davon. Ich halte es nicht aus! Wenn mich alle anschauen, als sei ich ein Affe im Zoo, falle ich in Ohnmacht. Das verspreche ich dir. Und wahrscheinlich werde ich in die falsche Richtung laufen, alle anderen umrennen oder es wird mich einfach auf den Boden legen. Was soll ich bloß tun?! Ich glaube ich mache krank. HDL Sami Ich drehte mich auf den Rücken und starrte Löcher in die Luft. Ganz ruhig! Einatmen - Ausatmen - Einatmen - Ausatmen. Bloß nicht in Panik geraten. Ich schaffte das schon. Ich würde es überstehen. Es waren nur ein paar Stunden, dann war es schon wieder vorüber. Dann hatte ich es hinter mir. Ich war stark. Aber ich glaubte meinen eigenen Worten kein bisschen. Sie klangen alle so vollkommen hohl und leer. Ein leises "Pling" kündigte eine ankommende SMS an und ließ mich heftig zusammenschrecken. Schnell griff ich wieder nach dem Handy und laß. Hi Sami, bleib ganz cool, Süße. Jetzt nicht in Panik geraten. Lass deine Eltern einfach reden und schalte auf Durchzug. Das kannst du doch so super. Verziehe dich einfach in deine eigene Welt, wie du es sonst auch immer tust. Und heute Abend, das werden wir schon gemeinsam meistern. Wenn du in Ohnmacht fällst, trage ich dich raus und die ganzen süßen Typen werden bestimmt mit Vorliebe Mund zu Mund Beatmung machen und wenn du in die falsche Richtung läufst, mache ich mit. Versprochen. Das wird schon schief gehen ;) Wir packen das, wie immer. Ich brauche dich nachher, also wage es ja nicht krank zu machen!!! Bis später *mahnender Blick* Lari Ich musste grinsen. Lara war einfach ein Schatz. Ich wusste nicht, was ich ohne sie getan hätte. Wahrscheinlich gar nichts. Ich wäre garantiert schon längst an chronischer Langeweile und dem ständigen Alleinsein gestorben. Wie es aussah, hieß das nun aber wohl oder übel, dass ich da heute Abend wirklich aufkreuzen musste. Da führte kein Weg mehr daran vorbei. Auch wenn ich Laras gut gemeinten Worten nicht so ganz Glauben schenken konnte. Denn es würden keine süßen Jungs kommen, um mich wiederzubeleben, ich würde das Gespött des Abends werden und Lara mit mir, wenn sie nicht aufpasste. Aber was sollte ich schon tun. Gegen sie und meine Eltern war ich machtlos. Was bedeutete: Abschlussball ich komme! (...komme angestolpert oder angekrabbelt oder angekrochen...) ~ ~ ~ Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und setzte mich an meinen Schreibtisch. Meine Mutter hatte mir noch eine Frist von einer Stunde Entspannung gegeben, dann würde sie mir beim Schickmachen helfen, was meiner Ansicht nach völlig unnötig war. Als ob da noch irgendetwas zu retten gewesen wäre. Mit den anderen aus meiner Stufe konnte ich mich doch sowieso niemals messen. Da würden auch die Bemühungen meiner Mutter nichts nützen. Außer sie hatte zaubern gelernt und schenkte mir ein neues Aussehen inklusive einem riesigen Paket mit Selbstbewusstsein. Ich kramte meinen Zeichenblock hervor und zückte einen Bleistift. Vielleicht konnte ich ja tatsächlich noch etwas Ruhe finden, wobei ich es ja eher gesagt ziemlich bezweifelte. Mein Magen zog sich jetzt schon bei dem bloßen Gedanken an den heutigen Abend und die vielen Leute dort schmerzhaft zusammen und rebellierte grummelnd. Nein! Bitte nicht das schon wieder! Diese Angewohnheit hatte ich schon seit ich denken konnte. Wenn ich mich mit zu vielen Leuten in einem Raum aufhielt, die mich bestenfalls auch noch alle anstarrten, als sei ich ein Alien oder sonst etwas, lief ich immer knallrot an, wie eine überreife Tomate und mein Magen rebellierte so lange, bis sich das zuletzt Gegessene wieder vor mir auf dem Boden befand. Sollte dies heute auch wieder einmal der Fall sein, war ich geliefert. Dann konnte ich in ein anderes Bundesland auswandern und mir eine neue Identität anschaffen, so viel stand fest. Mit Mühe gelang es mir irgendwie eine leicht hügelige Landschaft mit einem Wasserfall zu Papier zu bringen, über der ein Adler an einem wolkenlosen Himmel kreiste. "Ich fliege mit dir zusammen fort. Wir brennen durch!", flüsterte ich zu dem Adler, der aber nicht wie erhofft aus dem Bild stieg und mich so weit wie möglich von hier weg trug, an einen Ort, wo es keine dämlichen Abschlussbälle nach dem Ende seiner Schulzeit gab. Ein lautes, vehementes Hämmern gegen meine Zimmertür ließ mich zusammenfahren. Mein Blick fiel auf die Uhr, die auf meinem Schreibtisch stand. Mir stockte der Atem. Es war 16 Uhr!!! In zwei Stunden würden wir aufbrechen. Das Ziehen in meinem Magen war auf der Stelle wieder da und ich krümmte mich fluchend zusammen, während ich meinen Bauch umklammert hielt. Ohne dass ich ein Zeichen der Zustimmung hatte verlauten lassen, ging da die Tür auf und meine Mutter stand im Raum. Ihre kurzen, schwarzen Haare wippten im Takt ihrer Schritte auf und nieder und auf ihren Lippen lag ein Strahlen, als sei heute Weihnachten und Ostern zusammengefallen. "Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich herein gesagt habe. Aber schön, dass du mehr gehört hast, als ich", entfuhr es mir sarkastisch, wobei meine Stimme leicht zitterte. "Du hast nicht geantwortet, also dachte ich...", begann meine Mutter betreten. "Dass du einfach so mir nichts dir nichts hereinspazieren kannst, auch wenn ich vielleicht gerade mit Dingen beschäftigt bin, die meine Eltern nichts angehen", beendete ich ihren Satz. "Tut mir leid ich...", setzte sie wieder an. Sie war sichtlich zerknirscht. "Schon ok. Warte das nächste mal nur bitte wenigstens ein einziges mal ab, bis ich herein sage!", fiel ich ihr ins Wort. Ich hatte im Moment absolut sowas von gar keine l**t zu streiten und mir fehlte auch die Kraft dazu. "Ok...", erwiderte sie erleichtert und streckte mir ein in Plastik eingepacktes Ding entgegen, das sie, nachdem ich nicht reagierte, vor mir auf den Schreibtisch abstellte. "Was ist das da? Eine Zeitbombe?", wollte ich misstrauisch wissen und begutachtete das viereckige Ding von allen Seiten. "Das ist ein Geschenk von mir. Mach es auf, ich will sehen, ob es dir gefällt!", drängelte meine Mutter, wobei sie sich aufführte, als sei sie ein Kind, kurz vor dem Geschenkeauspacken am Weihnachtsabend. Um sie zufrieden zu stellen nahm ich das Ding vor mir und wog es in der Hand. Es war ziemlich leicht. Ich schüttelte es vorsichtig und ein leises Klappern war zu hören. "Also doch eine Zeitbombe", rief ich scherzhaft aus und riss die Verpackung mit einem Ratsch auf. Eine kleine, blaue Schatulle aus Samt kam zum Vorschein, die sich weich in meine Hand schmiegte. Verwirrt starrte ich auf den Gegenstand da in meiner Hand und konnte meinen Augen nicht trauen. "Mum, das ist doch nicht... das kann doch nicht...", begann ich stotternd, doch meine Mutter bedeutete mir es zu öffnen. Ehrfürchtig klappte ich den Deckel nach oben und da lag sie vor mir. Die filigran gearbeitete Kette vom ersten Date meiner Mutter mit meinem Vater, von dem sie mir immer erzählt hatte. Ungläubig strich ich zart über den silbernen Anhänger in Form eines Sterns, in den ein kleiner, blauer Saphir eingelassen worden war. Die Kette musste ein kleines Vermögen gekostet haben! "Aber Mum, ich kann doch nicht...", widersprach ich ungläubig, doch diesesmal war es meine Mutter, die mich unterbrach. "Natürlich kannst du sie tragen! Ich habe sie extra für diesen Tag für dich aufgehoben. Sie hat mir damals Glück gebracht und genauso wird sie auch dich auf deinem weiteren Lebensweg begleiten", lächelte sie bestimmt, wobei ihre Stimme keinen Widerspruch duldete und nahm die Kette aus der Schatulle. Vorsichtig legte sie sie mir um den Hals und verschloss sie in meinem Nacken. Ich stand auf und betrachtete mich im Spiegel, der links neben meiner Tür hing. Die Kette war wirklich wunderhübsch, das musste man ihr lassen. Der Anhänger ruhte genau unterhalb von meinem Schlüsselbein, was meiner Meinung nach eine gute Länge war. Ich fand, dass er perfekt zu mir passte. Er war nicht zu groß und damit protzig, aber auch nicht zu klein, sodass er unterging. "Wow Mum!!! Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll!!!", hauchte ich und fiel ihr stürmisch um den Hals. Sie konnte zwar manchmal wirklich richtig doll nerven, aber ich liebte sie, wie nichts anderes auf der Welt. "Schon gut, schon gut! Es würde mir schon reichen, wenn du mich nicht gleich erdrückst", lachte meine Mutter und strahlte glücklich übers ganze Gesicht. Ich wich einen Schritt zurück und für einen kurzen Moment war wirklich alles vergessen. Die Hektik, der Druck, der bevorstehende Abend und die Ungewissheit, was nach diesem Abschlussball kommen würde, wenn es nicht mehr hieß: "Aufstehen! Jetzt beeil dich doch mal! Du bist zu spät dran, du musst zur Schule!" Aber der Moment war leider viel zu schnell wieder vorbei. ~ ~ ~ Meine Mutter trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während ich mir im Bad mein Kleid anzog, das ich mir für DEN TAG DER TAGE *kotz!* ausgesucht hatte. Dabei hatte meine Mutter es schon längst zu Gesicht bekommen, nämlich als wir es zusammen gekauft hatten, was auch so eine Sache für sich gewesen war. Ich war nämlich wohl irgendwie kein Wesen der weiblichen Spezies. Ich hasste das Shoppen einfach nur abgrundtief! Es war für mich wirklich furchtbar durch die Menschenmassen von Kaufhaus zu Kaufhaus zu hasten, sich irgendwo mit einem Haufen Kleider in der Hand die Beine vor den überfüllten Kabinen abzustehen und dann tausendmal etwas anzuprobieren, bis man am Ende feststellte, dass doch nicht das Richtige dabei gewesen war. Und somit begann das Ganze wieder von vorne. Grauenhaft! Man sollte soetwas auf Strafe verbieten und unter Körperverletzung zählen. Schnell blickte ich nochmals in den Spiegel, schloss den Reißverschluss meines Kleides und atmete dreimal tief durch. Jetzt war ich zumindest schon einmal fertig angezogen. "Du kannst kommen, Mum! Ich bin fertig!", erlöste ich meine Mutter, die daraufhin sofort hereingestürzt kam. Sie blieb kurz vor mir stehen und ich musste mich einmal im Kreis drehen. Es kam mir langsam echt so vor, als sei ich ein Model, das bisher nur von einer einzigen Firma entdeckt worden war, die jedoch zu klein war, sodass es niemand anderen interessierte. "Wow! Einfach nur W-O-W! Mein kleiner Engel ist groß geworden und hat das Fliegen gelernt", rief sie brgeistert aus und strich mir breit grinsend durch's Haar. "Mum, ich bin kein kleines Kind mehr!", stöhnte ich genervt auf und verdrehte die Augen. "Ja, ich weiß, ich weiß. Das ist es ja gerade. Es ist schwer zu glauben, dass das kleine, süße Baby, das ich damals im Arm gehalten habe, nun diese junge, wunderhübsche Dame geworden ist, die nun vor mir steht. Ach! Die Zeit vergeht so schnell!", seufzte sie, was mich betreten den Blick abwenden ließ. Ich hasste es, wenn sie damit anfing. Denn es führte mir schmerzhaft vor Augen, dass ich bald selbst für mich sorgen musste und meine Eltern alt wurden, was unweigerlich irgendwann zum Tod führen würde. Es schüttelte mich. "Machen wir weiter, dass ich endlich fertig werde! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Das waren doch deine Worte oder?", wechselte ich schnell das Thema, wobei meine Stimme seltsam gepresst klang. "Aber natürlich! Los geht's. Setz dich da auf den Stuhl", befahl sie und ich gehorchte kommentarlos. Sie nahm einen Kamm zur Hand und begann damit meine Haare zu bearbeiten. Ich driftete ab... Vor mir sah ich ein zwölfjähriges Mädchen, das vor einem großen Klavier stand. Es war klein und hatte ein süßes, dunkelblaues Kleid an, das mit roten Streifen verziert war. In den Haaren trug es eine dazu passende rote Schleife. Und plötzlich war es, als sei ich wieder dieses kleine, unschuldige Mädchen von damals, das sich auf diesen Tag sowas von gar nicht gefreut hatte und seine Eltern verzweifelt anflehte es nicht dorthin zu schicken. Ich stand auf einer Bühne, die Augen weit aufgerissen und mich ängstlich umblickend. Wie ein Hase in der Falle, umzingelt von kläffenden und geifernden Hunden. Eigentlich sollte ich ja ein Stück von Mozart vorspielen, doch die Beine wollten mir einfach nicht gehorchen. Beim besten Willen nicht. Panisch starrte ich auf die Tasten des Klaviers vor mir und dann in die Menschenmenge, in der auch irgendwo meine Eltern sein mussten. Doch die lähmende Angst ließ nicht zu, dass ich mich bewegte. Stattdessen spürte ich, wie sich mein Magen zusammen zog, ich keine Luft mehr bekam und mir der Schweiß ausbrach. Dann würgte es mich heftig, ein Schütteln lief durch meinen Körper hindurch und der ganze Inhalt des leckeren Mittagessens ergoss sich vor mir auf dem Boden. Ich konnte bitteren Gallengeschmack, vermischt mit salzigen Tränen schmecken und mein Gesicht brannte vor Scham. Da spürte ich auf einmal zwei Hände, die mich sanft in den Arm nahmen und von der Bühne führten. Dies war das einzige und letzte mal gewesen, dass ich irgendwo etwas vorspielen sollte. Erschrocken fuhr ich zusammen, als meine Mutter mich an der Schulter packte und leicht schüttelte. "Du bist fertig. Noch etwas Rouge und Mascara, dann ist alles perfekt. Hach! Du bist so hübsch! Ein Traum!", schwärmte sie in den höchsten Tönen und griff nach der besagten Schminke. Mit geübten Handgriffen vollendete sie ihr Meisterwerk und stand dann zufrieden grinsend vor mir. "Jetzt darfst du dich im Spiegel anschauen", gestattete sie mir gnädigerweise. Ich stand schwankend auf und griff haltsuchend nach der Lehne des Stuhls. Noch immer saß mir der Schock aus meinem Tagtraum tief in den Knochen. Wenn es heute Abend so endete, wie damals, war ich geliefert. Dann würde ich mich vor der ganzen Schule, deren Verwandtschaft und Freunden blamieren. Allein schon bei dem Gedanken daran wollte ich schreiend das Weite suchen. Ich wankte zum Spiegel und wagte gar nicht hinein zu sehen. Wahrscheinlich sah ich aus, wie ein Clown. Ich schminkte mich normalerweise kaum und mich schick zu machen, zählte auch nicht gerade zu meinen Vorlieben. Vorsichtig öffnete ich mein linkes Auge einen kleinen Spalt breit und... mir stockte der Atem!!! Das da konnte doch nicht ich sein?! Das musste meine lange verschollene, gut aussehende Zwillingsschwester sein! "Ach du scheiße!", entfuhr es mir, bevor ich mich bremsen konnte. Meine grün-grau-blauen Augen strahlten mit dem Saphir an meinem Hals um die Wette, meine vollen Lippen glitzerten leicht, meine schulterlangen, dunkelblond gelockten Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt worden, wobei zwei Strähnen daraus hervorgerutscht waren, die mein Gesicht umrahmten und mein rotes, knielanges Kleid umspielte meinen Körper und betonte meine schlanke Figur. Es sah ganz passabel aus, das musste man meiner Mutter wirklich lassen. Sie hatte das Beste aus mir herausgeholt. So hatte ich mich noch nie gesehen. Aber trotzdem würde ich neben den anderen immer noch untergehen, wie ein Gänseblümchen neben einem Strauß Rosen. Man konnte aus einem hässlichen Entlein eben doch kein Schwan machen. "Na, gefällt es dir?", wollte sie erwartungsvoll wissen. "Es ist richtig schön geworden. Danke Mum!", bedankte ich mich trotzdem schnell und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. "Pass doch auf! Du verschmierst ja noch alles!", ermahnte sie mich mit erhobenem Finger, doch aus ihren Augen strahlte der pure Stolz und die Lebensfreude. Als ich dann auch noch meine farblich zum Kleid passenden Schuhe anhatte (mit nicht allzu hohem Absatz, weil mir das echt ein Rätsel war, wie man mit solchen Dingern auch nur einen Schritt laufen konnte) durfte ich mich auch noch meinem Vater präsentieren. Dem klappte doch tatsächlich die Kinnlade nach unten, als er mich so sah. "Das ist... Oha! Du siehst umwerfend aus, Schatz!", staunte er und als sein Blick auf meine Kette fiel, strahlte er nur noch mehr. "Du wirst alle anderen in den Schatten stellen. Wir sind so stolz auf unsere wunderhübsche Tochter", stimmte meine Mutter ihm mit etwas brüchiger Stimme zu, sodass ich beschämt zu Boden blickte. Sie hielten so viel von mir! Dabei war ich bestenfalls Durchschnitt. Nichts Besonderes, sondern einfach nur total gewöhnlich. Ich hatte keine große Oberweite, war nicht irgendwie besonders kurvig, trumpfte auch nicht durch meine große Klappe auf oder hatte sonst irgendwelche außergewöhnlichen Merkmale. Im Gegenteil. Ich war eher unscheinbar und verschwand am liebsten in der Menge. Aber so waren Eltern nunmal. Mussten immer übertreiben. Nachdem ich mir meine Tasche geschnappt und nochmal etwas getrunken hatte, hieß es dann ab ins Auto. Mir brach sofort wieder der Schweiß aus und mit jeder Sekunde, die ich dem heutigen Abend näher kam, wuchs auch meine Angst. Zuerst war da nur ein flaues Gefühl in der Magengegend, dann ein Stechen und schließlich ein Brennen, das mich schüttelte und von innen verschlang. Meine Mutter bemerkte meine Stimmung und blickte mitfühlend in den Rückspiegel. "Wenn wir irgendwo anhalten sollen, sag rechtzeitig bescheid. Besser jetzt, als nachher in der Halle. Aber das wird schon, Schatz! Du packst das! Davon sind wir fest überzeugt. Es wird sicher wundervoll werden", versicherte sie mir fest überzeugt. Ich für meinen Teil versuchte einfach nur verzweifelt die zwei Brote von heute Mittag drinnen zu behalten und nicht die Kontrolle über meinen Magen zu verlieren, was bei der zügigen Fahrweise meines Vaters nicht gerade einfach war. "Außerdem wird deine Tante Hanna als Unterstützung mitkommen. Das wird sicher große Klasse!", versuchte mein Vater mich weiter zu beruhigen, was bei mir eher das Gegenteil bewirkte. Man konnte zwar nicht sagen, dass ich Tante Hanna hasste, aber ich verachtete sie. Sie war eine von den Personen, die einen von vorne bis hinten nur verbesserten. "Samira, spiele mit mehr Leichtigkeit! Das Klavier ist kein Instrument zum Unterstützen des Schlafs!" oder "Samira! Laufe etwas aufrechter! Du bekommst ja noch Rückenprobleme!" Ich wettete, dass sie selbst noch etwas an meinem Kotzen auszusetzen gehabt hätte. "Samira, du musst in einem höheren Bogen reihern, das ist nicht ästhetisch genug!" Ich schüttelte den Kopf und lehnte meine Stirn an die kühle Scheibe. Wenn ich den heutigen Abend unbeschadet überstehen würde, würde ich drei rote Kreuze in meinen Kalender machen, auf die Knie fallen und Gott preisen. Das schwor ich mir hoch und heilig.
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