Lass dir bloß nichts anmerken

3599 Words
Mechanisch folgte ich Lara schließlich zu dem Platz zurück, an dem ich meine Eltern und meine über alles geliebte Tante vorhin zurückgelassen hatte. Zu meiner Verwunderung fand ich sie noch immer an der gleichen Stelle vor, nur eben um einen der Stehtische versammelt. Dabei kam es mir wie eine halbe Ewigkeit vor, dass ich sie das letzte mal zu Gesicht bekommen hatte. Wie aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben. Mein Vater hatte seinen Arm besitzergreifend um meine Mutter gelegt und sie lächelten sich verliebt an, während meine Tante ihre Cola Light trank und die Umgebung sondierte. An jedem anderen Tag hätte mich der harmonische Anblick meiner Eltern mit Freude erfüllt, doch heute war da nichts. Absolut gar nichts. Es war, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt und die Gefühle einfach abgeschalten. "Da bist du ja wieder, Schatz! Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Alles ok bei dir?", wollte meine Mutter besorgt wissen, als sie mich erblickte. "Ja, ja alles bestens, Mum. Ich habe nur Lara getroffen", beschwichtigte ich sie und ersparte ihr somit die Details mit Asher. Asher O' Bien, der so aufrichtig nett gewirkt hatte. Ein guter Schauspieler, das musste man ihm lassen. "Dann bin ich ja beruhigt", benutzte sie die gleichen Worte, wie Asher eben. Ich schüttelte den Kopf. Warum dachte ich die ganze Zeit über an diesen Typen, den ich nicht einmal kannte und der zusätzlich dazu auch noch der große Bruder von Jessica war? Die Sache war absolut aussichtslos, egal wie ich es drehte und wendete. Ein jetzt schon verlorenes Unterfangen. Selbst WENN Asher es wirklich aufrichtig und Ernst mit mir meinte und WENN ich ihn wieder sehen würde und WENN er mich irgendwie seltsamerweise in seinen Freundeskreis aufnahm, dann reichte das noch lange nicht aus, um da etwas zwischen uns zustande kommen zu lassen, was den Namen Beziehung auch nur ansatzweise verdient hätte. Denn wie Lara mich vorhin schon gewarnt hatte, hatte er augenscheinlich ja erstens bereits eine Freundin und zweitens spielte ich schlicht und ergreifend nicht in seiner Liga. Davon war ich meilenweit entfernt. Ich konnte einfach nicht mit ihm mithalten, das musste ich einsehen, egal wie schmerzlich das auch war. Es waren mir eindeutig zu viele Wenns und Abers für einen noch so winzigen Hoffnungsschimmer. Nachdem meine Eltern auch noch Lara begrüßt hatten, wobei sich Tante Hanna zum Glück im Hintergrund hielt, verabschiedeten wir uns auch schon wieder von ihnen, da der offizielle Teil des Abends nun gleich beginnen würde, wie eine Lautsprecherdurchsage großspurig verkündete. "Alle Abiturienten und Abiturientinnen haben sich auf der Stelle vor den Eingang der Halle zu begeben, sonst bekommen diejenigen, die dem nicht nachkommen, Ärger mit mir. Alle anderen bitten wir an ihre Tische zu gehen. Der unvergesslichste Abend im Leben eines Schülers kann beginnen!" Applaus brandete von allen Seiten auf und die Leute drängten zu ihren Tischen in die große Halle. Meine Tante wünschte mir zur Verabschiedung noch ein heiteres "Hals- und Beinbruch", wobei ich mir keinesfalls sicher war, ob sie das nicht tatsächlich ernst meinte. Dann war auch sie verschwunden. Bei meiner Tante wusste man nie so genau, was in ihrem kranken Hirn vorging, wenn sie überhaupt eines besaß. Aber über soetwas zerbrach ich mir schon lange nicht mehr den Kopf. Das war die Mühe nicht wert. Lara nahm mich sachte bei der Hand und zog mich einfach mit sich nach Draußen. Ich wäre sonst wahrscheinlich noch ewig so dagestanden, ohne mich auch nur einen Millimeter zu bewegen und hätte Löcher in die Luft gestarrt. Mein Gehirn hatte sich seit der Begegnung mit Asher wohl in den Urlaub verabschiedet. Als wir durch die Tür ins Freie traten, umfing mich die noch immer schwüle Luft des frühen Abends. Eine Amsel zwitscherte ihr schönes Lied, doch es konnte mich nicht so wie sonst erfreuen. Wir stellten uns etwas abseits der Gruppe an eine Wand, sodass man einen guten Überblick über alles hatte, wie wir es sonst auch immer gerne taten. Aber es war mir heute ganz und gar nicht danach zu Mute andere Leute zu beobachten. Nach und nach trudelte auch der Rest unserer Stufe ein, was insgesamt immerhin 122 Schüler waren. Diese redeten aufgeregt durcheinander, lachten, scherzten und waren so aufgekratzt, dass ich mich fragte, was sie alle bloß für Zeug eingeworfen hatten. Ich wollte es auch haben. Mein Blick blieb unwillkürlich an Jessica O' Brien hängen, um die sich wie immer eine Schar ihrer Bewunderer gesammelt hatte. Zusammen mit Katja und Sarah, ihren zwei Schoßhündchen, gab sie gerade eine ihrer Storys zum besten, bei der sie natürlich ohne Frage im Mittelpunkt stand. Am Ende ihres Vortrags gab sie noch ein gekünsteltes Lachen von sich, was auf der Stelle mein Frühstück wieder ans Tageslicht befördert hätte, wenn das nicht schon vorhin längst geschehen wäre. Sie warf mit Schwung ihre gefärbten, wasserstoffblonden Locken zurück, die mich so gar nicht an die Haare ihres Bruders erinnerten und setze gekonnt ihre Oberweite in Pose. Erneut ließ sie ein kleines Lachen erklingen. SEIN Lachen war auf jeden Fall tausendmal besser, als ihres. Richtig bezaubernd süß. Nicht so aufgesetzt. Er schien so vollkommen anders zu sein. Wenn man sich jedoch ihre Gesichtszüge genauer ansah, konnte man zu meinem großen Bedauern deutlich erkennen, dass die Zwei verwandt waren. Sie hatten die selben hohen Wangenknochen, die selbe süße Stupsnase und diese winzigen Sommersprossen, die ihr Gesicht zierten. Nur dass Jessica diese unter einer Schicht Make-Up versteckte. "Aber er hat schönere Augen! Sooooo ein unglaubliches grün! Und natürlich ein hinreißendes Lächeln, das ganz und gar nicht gekünstelt wirkt! Und kurze, perfekt gegeelte braune Haare, die ich so gerne einmal verwuscheln würde! Und seine Muskeln erst! Der Hammer!", begann ich dagegenzuhalten. Doch ich rief mir vor Augen, dass einen das ganz bestimmt nicht zu einem besseren Menschen machte. Das Aussehen sagte eben doch nichts über den Charakter einer Person aus. Daniel, unser Schülersprecher, Freund von Jessica und selbst auserkorener Stufenanführer, ließ uns hintereinander in einer Zweierreihe aufstellen. Dabei musste immer ein Junge neben einem Mädchen stehen. Ein gequältes Stöhnen entfuhr mir, als ich diesen Anweisungen lauschte. Ich wäre viel lieber mit Lara einmarschiert. Nun auch noch irgendeinen Idioten aus meiner Stufe an meiner Seite zu haben, hatte mir gerade noch gefehlt. Es entstand ein wildes Gedränge, bei dem jeder versuchte einen möglichst guten Partner abzubekommen. Fast so, wie im Sportunterricht, wenn Mannschaften gewählt wurden. Ich blieb teilnahmslos stehen und rührte mich nicht vom Fleck. Mir doch egal mit wem ich einlaufen musste. Es war niemand dabei, den ich unbedingt an meiner Seite gewollt hätte. Wobei... einen hätte ich schon gerne an meiner Seite gehabt. Nur leider war der nicht hier. "Reiß dich gefälligst zusammen, Samira! Streich diesen Typen einfach aus deinem Gedächtnis. Ihr habt euch nur kurz freundlich unterhalten und das war's. Ihr werdet euch nie wieder sehen und das Leben geht weiter, wie zuvor", wies ich mich innerlich selbst zurecht. Aber so leicht sich das Ganze auch anhören mochte, ich schaffte es einfach nicht. Asher war in meinen Gedanken, als wäre er schon immer ein Teil von ihnen gewesen. "Darf ich mich zu dir stellen?", störte da eine leise, nachdenkliche Stimme meine Grübeleien. Ich blickte auf und erkannte Jan. Er war in meinem Kurs und einer der eher Unscheinbareren. Eigentlich war er meist freundlich zu jedem und ich hatte ihn schon oftmals dabei beobachtet, wie er jüngeren Schülern Nachhilfe gab. Zwar hatten wir bis jetzt nur ein paar belanglose Worte gewechselt, aber ich mochte ihn. Er gehörte nicht zu den Beliebtesten, war jedoch eine ehrliche Haut, die sich ebenso wie ich lieber im Hintergrund hielt. "Also... ähhh... Du musst nicht ja sagen, wenn es dir nicht passt", setzte Jan schnell nach, als ich nicht sofort antwortete. "Doch, doch! Klar kannst du mit mir einlaufen. Ich würde mich freuen. Muss ich schon nicht mit einem von DENEN da gehen", stimmte ich schnell zu und nickte mit dem Kopf in Richtung Daniel, der mit seinen Kumpels natürlich ganz vorne stand und großspurig Jessica im Arm hielt. Dabei ruhte seine Hand auf ihrem Arsch und er starrte ihr immer wieder in den Ausschnitt. Depp! Da war Jan noch tausendmal die bessere Wahl. "Ach, du sagst nur zu, weil du sonst jemanden von den Obercoolen abbekommen könntest? Wie schmeichelhaft. Aber ich habe ebenso wenig l**t auf Jessica und ihre bemitleidenswert dämliche Bande, also wäscht eine Hand die andere", grinste er einnehmend, was mir ein Schmunzeln entlockte und ich reihte mich neben ihm ein. Ich musterte ihn von der Seite. Er wurde mir immer sympathischer. In seinem schwarzen Anzug, mit der farblich dazu passenden, roten Krawatte sah er auch gar nicht einmal so übel aus. Er hatte schwarze, kurze Haare, die ihm ausnahmsweise einmal nicht wild vom Kopf abstanden, eine schlaksige Figur und er trug eine Nerdbrille, hinter der er mich mit seinen intelligenten, kastanienbraunen Augen neugierig von der Seite begutachtete. Schnell wandte ich ertappt wieder den Blick ab. Ich hasste es beobachtet zu werden. Aber ich war heilfroh Jan neben mir zu haben und nicht einen von diesen Vollidioten, die es hier zuhauf gab. Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Lara hatte Ben ergattert, einen gutaussehenden, braungebrannten Typen im Surferlook, der selbst im Anzug noch ziemlich lässig und cool, aber auf keinen Fall schick wirkte. Er war im Handballteam einer der Besten und ziemlich begehrt. War ja klar. Sie konkurrierte gerne mit Jessica, wobei sie auf eine ganz andere Art und Weise auf sich aufmerksam machte, als diese. Nicht mit dummem Geprotze oder anzüglichem Getue, sondern einfach durch ihre witzige und optimistische Art und durch ihre natürliche Schönheit. Ich hatte es zu Beginn auch niemals für möglich gehalten, dass wir zwei einmal die besten Freundinnen werden könnten. Aber so war es nunmal gekommen. Das Leben ging schon seltsame Wege. Nur hatten leider Laras Beliebtheit und ihr Selbstbewusstsein nicht so ganz auf mich abgefrärbt. Wirklich schade... "Hast du überhaupt mitbekommen, was wir machen sollen? Es geht nämlich gleich los... Bist du noch in dieser Welt anwesend oder schon in einer anderen Galaxie?", riss mich da Jan wieder aus meinen grüblerischen Gedanken. Ertappt blickte ich zu ihm hinüber und wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich hatte dem Geschwafel von Daniel überhaupt keine Beachtung mehr geschenkt. Keine Ahnung, was wir tun sollten. "Das deute ich als ein Ja. Wir sollen uns an der Hand nehmen und dem Vordermann folgen. Direkt vor der Bühne läuft dann die eine Hälfte nach rechts und die andere nach links. Immer abwechselnd, sodass wir von zwei Seiten auf die Bühne kommen. Klingt doch ganz easy", erklärte er alles noch einmal langsam für mich, als sei ich ein kleines Kind. Ich nickte nur schwach. Meine Kehle fühlte sich so ausgetrocknet an, als hätte ich Tage lang nichts mehr getrunken. Oh nein! Ich wollte da nicht rein! Das würde so absolut schief gehen, wie der bisherige Abend auch. "Das schaffen wir schon. Davon bin ich überzeugt. Du siehst übrigens richtig gut aus in deinem Kleid. Es steht dir ausgezeichnet. Mach dir keine Sorgen, wir stehlen denen da vorne garantiert die Show." Verblüfft sah ich auf und starrte ungläubig in das zu einem herzerwärmenden Grinsen verzogene Gesicht von Jan. So viel hatte ich ihn in den ganzen zwei Jahren, in denen wir im gleichen Grundkurs gewesen waren, nicht reden hören.  "Danke", flüsterte ich schwach, "pass aber auf, dass ich dir nicht vor die Füße kotze. Eine schlechte Angewohnheit von mir, die bei solchen Veranstaltungen gerne ans Tageslicht tritt." "Ach, das macht nichts! Das ist schon ok, ich nehme mich in Acht. Falls du aber doch das Bedürfnis verspüren solltest den Inhalt deines Magens zu entleeren, tu es bitte auf meinem Anzug und den Schuhen. Ich hasse diese dämlichen Klamotten. Und so stehlen wir den anderen mit Gewissheit die Show, guter Plan!" Nun konnte ich mir ein kleines Lachen einfach nicht mehr verkneifen. Jan war wirklich schwer in Ordnung. Seltsam, dass mir das erst nach acht Jahren Schulzeit auffiel. "Ich werde es mir merken. Aber ich finde du siehst in der Aufmachung auch nicht einmal so übel aus. Steht dir", meinte ich anerkennend und nahm zögernd seine Hand. Sie war größer und viel wärmer, als meine. Und so völlig anders, als die von Asher. Irgendwie ein bisschen rau, aber auf keinen Fall unangenehm. Ich schüttelte den Kopf. Jetzt war Jan hier und nicht Asher O' Brien. Und das war gut so. Jan schaute schnell in die andere Richtung, doch ich sah trotzdem noch, wie er leicht errötete. Wow! Was war heute Abend bloß los? Das hier war bereits der zweite Junge, mit dem ich flirtete! Dass ich soetwas überhaupt konnte! Meine freie Hand fuhr zu der Kette an meinem Hals, die warm und angenehm auf meiner Haut ruhte. Vielleicht wurde alles ja auch nur halb so schlimm? Vielleicht... Und dann war es zu meinem großen Bedauern leider endlich so weit. Die Reihen setzten sich in Bewegung und strömten in die Halle hinein, aus der man die Band "The final Countdown" spielen hörte. Lara drehte sich noch schnell zu mir nach hinten um und reckte siegessicher den Daumen in die Höhe. Ich erwiderte dies mit einem kleinen Kopfnicken meinerseits, konnte aber nicht sagen, ob sie es überhaupt bemerkt hatte. Denn im nächsten Moment drehte sie sich auch schon wieder zu Ben um und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was diesen laut auflachen ließ. Na wenigstens eine von uns hatte ihren Spaß. Je näher ich dem Eingang der Halle kam, desto schlechter ging es mir. Meine Füße wollten mir nicht mehr gehorchen, der Schwindel drohte mich zu übermannen und mein Instinkt sagte mir, dass ich weglaufen sollte. Einfach nur rennen und rennen und rennen und rennen und nie wieder anhalten. Zumindest so lange, bis ich keinen mehr von diesen Leuten hier sehen musste und ich diese schreckliche Musik nicht mehr hörte, die mir höllische Kopfschmerzen verursachte. "Ich... Ich... Ich kann das nicht. Es tut mir leid", stammelte ich entschuldigend und entzog Jan meine Hand. Dabei fühlte ich mich, wie das letzte Stück Dreck. Jan war so nett und ich... ich schaffte es noch nicht einmal mit ihm in eine Halle einzulaufen. Wie erbärmlich! "Hey! Samira! Ganz langsam. Beruhig dich. Atme tief durch, du hyperventilierst ja noch! Es ist alles gut, alles ist gut, alles ist gut", redete er beruhigend auf mich ein und zog mich aus der Reihe, die ins Innere der Halle drängte, "komm, wir stehen das gemeinsam durch. Du und ich. Wenn du erst einmal den ersten Schritt getan hast, ist es gar nicht mehr so schlimm, glaub mir. Du schaffst das schon! Ich glaube an dich. Du bist stark." Seine kastanienbraunen Augen funkelten mich herausvordernt an. "Aber wenn es gar nicht geht, verschwinde ich mit dir. Versprochen", setzte er nach und streckte mir auffordernt seine Hand entgegen. Ich musterte sie misstrauisch. Sollte ich es wagen? Zögernd machte ich einen kleinen Schritt auf ihn zu und ergriff zaghaft seine Hand, bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte. Ich musste es einfach probieren. Für Jan und für meine Eltern, die in der Halle sicherlich schon gespannt auf mich warteten. Ich war es ihnen allemal schuldig. Wir stellten uns als Letzte in der Reihe an und es kam mir beinahe so vor, als sei ich ein kleines Kind, das sich verängstigt an die Hand eines Erwachsenen klammerte. Wie peinlich konnte man eigentlich sein! Ich war echt schrecklich! Verständlich, dass bisher kein Junge etwas mit mir zu tun haben wollte. Nun standen wir direkt vor dem Eingang. Jan schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und drückte vorsichtig meine Hand, was ich schwach erwiderte. Mein Lächeln wirkte dabei jedoch eher aufgesetzt, wie eine Grimasse und konnte meine Augen nicht erreichen. "Bereit?", fragte Jan da mit fürsorglicher Stimme. Sie war warm und hörte sich viel jünger an, als die von Asher. "Bereit, wenn du es bist", erwiderte ich nun etwas zuversichtlicher und erinnerte mich an das Buch "Rubinrot", in dem die Hauptpersonen dies immer genau dann sagten, wenn sie eine ihrer Missionen zu erfüllen hatten. Nun galt es auch für uns eine Mission zu erfüllen. Wenn diese hier im Vergleich zu denen im Buch auch nicht einmal nur ansatzweise so spannend war. Aber wen interessierte das schon. Für mich reichte es allemal aus. Dafür wurde ich von Jan sofort mit einem strahlenden Lächeln belohnt, was mir ein wohliges Kribbeln verursachte. Er war wirklich richtig süß. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Und da waren wir. Mitten in einer stickigen Halle, in der es von Leuten nur so wimmelte, die an langen Tischen saßen und uns mit bohrenden Blicken musterten. Wir standen im Mittelpunkt und es war genau das, was ich am meisten hasste. So abgrundtief, dass ich fast alles dafür getan hätte, nun nicht hier sein zu müssen. Alles in mir strebte sich dagegen auch nur noch einen Schritt vorwärts zu gehen. Ich hasste femde Menschen! Ich hasste Aufmerksamkeit! Ich hasste Bühnen! Ich stand kurz davor laut aufzuschluchzen.  "Schau mich an!", wies mich Jan zurecht, als er meine ängstliche Stimmung bemerkte. Und das tat ich. Ich betrachtete seine ebenmäßigen Züge, seine rabenschwarzen, schon wieder leicht verstrubbelten Haare, seine langen Wimpern, die Schatten auf seine Augen warfen, seine schmalen, schön geschwungenen Lippen, seine kleine, gezackte Narbe, die weiß auf seiner Stirn schimmerte und mich irgendwie an die Narbe von Harry Potter erinnerte, seine unbeschreiblichen Augen, die mir wie der Spiegel zu seiner Seele vorkamen und seine schmächtige Gestalt, die so gar nicht mit der Muskulösen von Asher, Ben oder Daniel mithalten konnte, aber deshalb nicht minder anziehend war. Alles andere um mich herum verschwamm vor meinen Augen und ich nahm nur noch ihn wahr. Komisch, dass mir erst in diesem Augenblick wirklich auffiel, wie gut er eigentlich aussah. Wir schafften es irgendwie auf die Bühne, ohne dass ich stolperte, hinfiel, jemanden umrannte oder mich auf dem Boden erbrach, was schon ein voller Erfolg war. Staunend stand ich einfach nur da, im Anblick von Jan versunken und bekam gar nicht mehr mit, wie Jessica die Begrüßungsrede hielt, die den offiziellen Teil des Abends beginnen ließ. Aber ich war mir sicher, dass ich nichts verpasst hatte. Ihr Gelaber interessierte mich kein bisschen. Jan selbst warf mir immer wieder heimlich kleine Seitenblicke zu, doch er wagte es nicht mich direkt anzusehen, worüber ich auch ziemlich froh war. Denn ansonsten hätte ich den Blick von ihm abwenden müssen und was ich dann gesehen hätte, wäre sicherlich nicht dienlich für mein derzeitiges Befinden gewesen. Daniel eröffnete noch das Buffet, dann war der erste offizielle Teil des Abends schon einmal geschafft und ich hatte für eineinhalb Stunden erstmal meine Ruhe, bis der erste Tanz begann, den die Abiturienten eröffnen durften. Und davor bangte es mir noch viel viel mehr. Ich hatte zwar einen Standardtanzkurs belegt, aber das mit mäßigem, bis gar keinem Erfolg. Was ich am besten konnte, war anderen auf den Füßen herumzustehen und zu stolpern. Meistens verwechselte ich dabei die Schrittfolgen, bis ich aus dem Takt kam und schließlich gar nicht mehr weiter wusste. Und vor allem musste man von einem Jungen aufgefordert werden!!! Einige tanzten auch mit ihren Freunden oder Freundinnen, was bedeutete, dass es nicht unbedingt aufging. Und dann saß man möglicherweise blöd da... Wobei ich das nun auch nicht allzu schlimm gefunden hätte. Dann hätte ich zumindest nicht tanzen müssen. "Ob Jan wohl eine Freundin hat?", fragte ich mich im Stillen, als er mich von der Bühne hinunter und sogar noch bis zu meinem Platz begleitete. Ich wusste so gar nichts über Jan, stellte ich verwundert fest. Außer dass er 19 war, mit Nachnamen Marks hieß und Kursbester war. Wie wenig wir doch auf andere Menschen in unserem Umfeld wirklich achteten! Dann waren wir am Tisch meiner Eltern angelangt. Ganz Gentleman zog er nun den noch freien Stuhl neben meinem Vater zurück und ließ mich Platz nehmen. Als er meine Hand losließ, fühlte sich das so falsch an, dass ich beinahe protestiert hätte. "Guten Abend Herr und Frau Flend. Ich bringe ihnen ihre wunderhübsche Tochter zurück. Hoffe es macht ihnen nichts aus, wenn ich sie aber später noch einmal zu einem kurzen Tanz entführe", erklärte er und ich merkte, dass meine Eltern seinem Charme sofort erlagen. Ich wurde auf der Stelle rot und blickte auf die weiße Tischdecke vor mir, die sicher einen guten Kontrast zu meinem Gesicht bot. Er wollte mit mir tanzen! Er hatte keine Freundin oder sie war zumindest nicht hier! Ich spürte eine Wärme in mir aufsteigen, die alle Zweifel von eben wegfegte und mich auch das Zusammentreffen mit Asher O' Brien für einen kurzen Augenblick vergessen ließen. "Dankeschön! Aber natürlich kannst du unsere Tochter entführen, solange sie das auch will. Du kannst Susanne zu mir sagen, sonst komme ich mir so alt vor", antwortete meine Mutter strahlend und fügte an mich gewandt hinzu: "Aber wer ist dieser nette junge Mann, Samira? Du hast mir noch gar nichts von ihm erzählt! Stelle ihn mir doch bitte vor!" Unter den vorwurfsvollen Blicken meiner Mutter stotterte ich: "D... da... das ist Jan Marks. Er ist in meinem Grundkurs." "Schön dich kennenzulernen, Jan. Freut mich", lächelte sie und schüttelte ihm die Hand. "Die Freude ist ganz meinerseits", erwiderte Jan und schenkte meiner Mutter sein bezauberndstes Lächeln, was sie sofort dahinschmelzen ließ. Dann wandte er sich wieder an mich: "Ich muss mich nun leider verabschieden. Aber ich komme später wieder, keine Angst. Bis nachher, Samira." "Bis später", verabschiedete ich mich kurz angebunden, wobei ich ihn nicht direkt ansehen konnte. Ich hätte mir niemals auch nur erträumen lassen, dass sich Jan als ein solcher Kavalier entpuppte. Und wenn ich es mir so genau überlegte, mochte ich ihn mehr, als nur ein kleines bisschen. Er gefiel mir von Minute zu Minute besser, je länger ich mit ihm zusammen war.
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