Unverhofft kommt oft

3702 Words
Ich wälzte mich die ganze Nacht unruhig von einer Seite zur anderen. Alpträume quälten mich und ich schreckte immer wieder schweißgebadet hoch. Meist blickte ich dann panisch um mich, bis ich mich vergewissert hatte, dass ich mich immer noch in meinem Zimmer befand und nicht nur ohnmächtig in einer stockdunklen Halle lag. Es war immer derselbe Traum, der sich vor meinem inneren Auge abspielte. Er unterschied sich nur darin, dass er manchmal schon bei dem hämischen Gelächter und den Beschimpfungen der anderen endete oder eben erst an der Stelle, wo mich die anderen in die Enge trieben und dann auf mich einschlugen, bis ich schlussendlich das Bewusstsein verlor. Asher hetzte dabei alle gegen mich auf, bis sogar Lara und meine Familie mitmachten. "Langweilerin!", "Du bist an allem Schuld!", "Mann bist du hässlich!", "So jemanden wie dich sollte man einsperren!", "Du Memme!", "Du bist ja sowas von kindisch!", "Du wirst nie einen Freund finden!", "Du bist verachtenswerter Abschaum!", schmissen sie mir an den Kopf und ich konnte mich nicht einmal wehren, weil ich in meinem Traum zusätzlich zu allem Übel auch noch stumm war. Es gelangte einfach kein einziger Ton über meine Lippen, so sehr ich auch versuchte mich zu verteidigen. Nichts geschah. Und so musste ich all das über mich ergehen lassen, ohne etwas dagegen tun zu können, außer wegzulaufen, was auch nichts half. Denn sie waren alle tausendmal schneller, als ich und ich stolperte ständig über meine eigenen Füße. So war ich ziemlich froh, als ich am Morgen endlich aufstand und verschlafen ins Bad tappte. Zumindest die Alpträume ließen mich somit in Frieden. Doch das, was danach kam, konnte es mit meinen Albträumen auch locker aufnehmen. Vielleicht hätte ich im Nachhinein gesehen das Aufstehen an diesem Tag doch besser lassen sollen. Aber hellsehen konnte ich leider immer noch nicht, auch wenn ich schon seit geraumer Zeit versuchte es zu lernen. Ich spritzte mir gerade kühles Wasser ins Gesicht, um wieder einigermaßen zu mir zu kommen, als mein Blick kurz in den Spiegel fiel. Erschrocken sprang ich einen Schritt zurück und meine Hand fuhr unwillkürlich an meine Stirn. Oh mein Gott! Das durfte doch jetzt wohl nicht wahr sein! Das konnte doch nicht... Eine große Beule zierte meine Stirn. Sie war rot und blau unterlaufen und wirklich sehr stylish, das musste man schon sagen. Sie hätte zu einem neuen Trend werden können. Oder lieber doch nicht. Es tat nämlich höllisch weh. Wie sollte ich das bloß verschwinden lassen?! Meine Eltern würden nur noch mehr durchdrehen, wenn sie das zu Gesicht bekamen! Ich war ja so schon geliefert! Wie sollte ich ihnen das nur erklären? Ich hatte absolut keinen blassen Schimmer. Schließlich kramte ich eine verstaubte Tube mit Make-Up aus der hintersten Ecke des Badschranks hervor und versuchte die Beule so gut es ging abzudecken. Es gelang mir auch einigermaßen. Zumindest sah man den blauen Fleck nicht mehr allzu deutlich. Ich trapierte noch meinen langen Pony darüber und fertig war ich. Wenn ich auch aussehen musste, wie ein gerade aus dem Grab entstiegener Zombie, wenigstens die Verletzung war kaum noch auszumachen. Und das war auch das Wichtigste. Über den Rest konnte ich mir noch später genügend Gedanken machen. Unten in der Küche angekommen fand ich bloß einen kleinen Zettel auf dem Esstisch vor. Sonst war alles wie ausgestorben. Komisch... Eigentlich hätten meine Eltern hier sein müssen. Schließlich war es Samstagmorgen und sie ließen sich normalerweise kein einziges gemeinsames Frühstück am Wochenende entgehen. Das war ihnen heilig. Verwundert nahm ich den Zettel zur Hand und begann zu lesen: "Hallo Schatz, wir sind gestern Abend dann auch schon nach dem Essen gegangen. Tut uns leid, dass Jan nicht mehr da war und es so laufen musste. Aber der Ball ist auch nicht so wichtig. Du hast es wenigstens versucht, das ist die Hauptsache. Wir sind stolz auf dich. Du warst die Schönste von allen. Wen interessiert es auch schon, ob man auf seinem Abschlussball mit irgendjemandem getanzt hat oder nicht? Dein Vater und ich haben uns ja auch erst im Studium kennengelernt. Also mach dir keinen Kopf, du hast nicht viel verpasst und man kann alles nachholen. Wir sind mit deiner Tante heute Essen und werden erst später wieder kommen, wenn du schon auf der Arbeit bist. Also sehen wir uns heute Abend. Fühl dich gedrückt. Wir haben dich so unglaublich lieb, vergiss das niemals. Viele liebe Grüße Mama und Papa PS: Essen steht im Backofen, lass es dir schmecken! Erleichtert stieß ich die Luft aus, die ich ohne es zu merken angehalten hatte. Sie waren gar nicht da! Und sie waren nicht sauer! Ich hatte mir schon alle möglichen Szenarien ausgemalt, wie meine Eltern mich zurecht wiesen und sich über mein Verhalten beschwerten. Zum Glück blieb mir wenigstens das erspart. So hatte ich nun schon einmal ein Problem weniger. Doch das größte Problem bestand leider noch immer. Ich musste Asher die Reinigung für seinen Anzug bezahlen und damit heute arbeiten gehen, wenn ich an diesem Samstag auch tausendmal lieber einfach krank gemacht hätte. Aber ich wollte auch nicht, dass meine Eltern etwas davon erfuhren und somit hieß das wohl oder übel Überstunden schieben. Mein Gespartes wollte ich nicht antasten, da ich plante in den Sommerferien richtig cool in den Urlaub zu gehen. Das hatte ich schon lange geplant und würde ich mir auch nicht von diesem Idioten kaputt machen lassen. Es fehlten nur noch 450 €, dann hatte ich es geschafft. Wow, ich konnte es gar nicht glauben! Vor einem Jahr schien es noch so weit weg zu sein und nun... Ein kurzes Hochgefühl durchfuhr mich und ich lächelte. Vier Wochen Kroatien würden so Hammer werden! Ich konnte es kaum erwarten. Neugierig spähte ich in den Backofen und entdeckte eine Auflaufform mit Lasagne. Ohhhhh lecker! Ich hatte bärenhunger und hätte eine ganze Kuh verdrücken können. "Oder einen doofen Ochsen", schoss es mir durch den Kopf und ich sah Asher vor mir. Nein, nein, nein! Warum tat ich das immer? Was interessierten mich seine unglaublich grünen Augen, sein traumhaftes Lächeln und seine warme, wohlklingende Stimme? Warum führte ich mir andauernd jedes Detail von ihm vor Augen? Ich war gestört! Absolut und vollkommen. Bekloppt! Schnell nahm ich mein Handy zur Hand und durchsuchte meine Kontakte, während ich darauf wartete, dass die Lasagne endlich warm wurde. Da stand er: Jan Marks. Diese coolen schwarzen Haare, die braunen, warmherzig glänzenden Augen und diese kleine, süße Narbe auf seiner Stirn. Ich überlegte kurz, aber dann begann ich doch zu schreiben: Hi Jan, ich wollte mich noch einmal für gestern bedanken. Es war wirklich wunderschön mit dir. Wäre cool gewesen, wenn du noch länger geblieben wärst, doch es läuft im Leben nunmal leider nicht immer alles so, wie man sich das wünscht. Aber da du mir als Entschädigung ja ein Essen versprochen hast, ist es nicht ganz so schlimm. Ich nehme das Angebot sehr gerne an. Kann dir dann ja berichten, was du verpasst hast, was nicht allzu viel ist, weil ich auch früher gegangen bin. Heute werde ich erst einmal arbeiten, aber wie sieht es morgen bei dir aus? Ich freue mich schon darauf dich wieder zu sehen. Dir noch einen schönen Tag und ich hoffe es geht dir gut. LG Samira Mein Finger schwebte einige Sekunden lang über dem Senden-Knopf, bis ich ihn doch drückte. Ablenkung würde gut tun. Und ich mochte Jan. Er war richtig nett und eine angenehme Gesellschaft. Ich mochte seine Art, sein süßes Lächeln und seine herzliche und offene Persönlichkeit, die er nicht selbstverliebt zur Schau stellte, sondern nur denen schenkte, mit denen er auch wirklich etwas zu tun hatte. Und vor allem war er noch kein einziges mal wütend oder gemein zu mir gewesen. Kein einziges mal in den ganzen acht Jahren hatte ich ihn mit irgendjemand streiten sehen. Er schien perfekt zu sein. Fast zu perfekt. Aber ich war ja auch gerade erst dabei ihn kennenzulerne. Er war auf jeden Fall eine sehr interessante Gesellschaft. Das musste man ihm lassen. Als die Lasagne endlich fertig war, setzte ich mich mit ihr vor den Fernseher und zappte gelangweilt durch die einzelnen Programme. Normalerweise durfte ich mir soetwas nicht erlauben. Wir aßen alle zusammen am Esstisch in der Küche und dabei gab es keine Ausnahme. Im Wohnzimmer zu essen war eine Todsünde. Doch da meine Eltern nicht da waren, konnten sie mir auch nichts verbieten. Nachdem ich gegessen und halbherzig irgendwelches Assi-TV geschaut hatte, schaltete ich schließlich aus. Normalerweise tat ich so etwas nicht. Aber heute hatte ich das einfach gebraucht. Ich war nämlich immer noch der festen Überzeugung, dass ein solches Programm nur erstellt worden war, um sich selbst nicht ganz so schlecht vorzukommen, wenn man irgendwelche wild gewordenen Teenager sah und eigentlich selbst Probleme mit den eigenen Kindern hatte oder einen assi Hartz4 Empfänger dabei beobachtete, wie er verwahrloste und selbst gerade im Job nicht so ganz klarkam. Diese Sendungen waren doch nur dazu da, um uns am Pech der anderen zu weiden und uns selbst zu sagen, dass wir es im Leben eigentlich gar nicht so schlecht erwischt hatten. Und deshalb hatte ich dieses Angebot heute auch genutzt. Es mochte zwar völlig bescheuert sein, aber ich wollte sehen, dass es durchaus hätte schlimmer kommen können. Ich stellte mein Geschirr in die Spüle und schnappte mir meine Jacke. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass meine Beule noch immer einigermaßen versteckt war. Also konnte ich ohne Bedenken zur Arbeit gehen. Aus der Garage holte ich mein Fahrrad und ab ging es. Die Arbeit rief nach mir. Aber nicht mehr lange, dann hatte ich es hinter mich gebracht. Dann konnte ich für vier Wochen diesem ganzen Irrenhaus hier entfliehen und meinen Alltag hinter mir lassen. Es würde so traumhaft werden! Ich hätte alles dafür gegeben, um jetzt schon verschwinden zu können. Doch leider war das nicht möglich. Zuerst musste ich mich noch weiter durch das Chaos hier kämpfen, das sich mein Leben nannte. Ich versuchte den Weg bis zum goldenen Ochsen so schnell ich nur konnte hinter mich zu bringen. Es war gerade einmal 16 Uhr und eigentlich hätte mein regulärer Dienst erst um 18 Uhr begonnen, doch heute musste ich nunmal früher anfangen. Ich brauchte das Geld dringend und wollte meine Schulden bei Asher so bald wie möglich beglichen haben. Am besten schon heute. Es kotzte mich an, dass ich es überhaupt so weit hatte kommen lassen. Warum hatte ich mir die Mühe gemacht, mich über diesen Idioten aufzuregen?! Er war es nicht wert beachtet zu werden. Naja, die ganze Sache durfte ich jetzt wohl alleine wieder ausbaden. Selbst schuld. Ich sollte hier nicht so herumjammern. Immerhin hatte ich mir das alles selbst zuzuschreiben. Ich hatte also absolut kein Mitleid verdient. Schon von weitem erkannte ich das große Fachwerkhaus, mit dem goldenen Schild in Form eines Ochsen über dem Eingang. Es war ein altes Haus, das jedoch im letzten Sommer frisch saniert worden war. Nun war es wirklich ganz hübsch anzusehen. Wilder Wein wuchs um die große, schwere Holztür herum und die Treppe zum Eingang war mit einem alten Geländer versehen, auf dem rechts und links zwei eiserne Ochsen wachten. Zum Eingang selbst führte eine breite Einfahrt, die von Ahornbäumen gesäumt wurde. Ich wäre sofort hier eingezogen, wenn das irgendwie möglich gewesen wäre. Dieses Haus erweckte in mir immer wieder den Glauben, dass Wunder doch Wirklichkeit werden konnten. Wenn ich einmal alt genug war und es mir leisten konnte, würde ich mir so ein ähnliches Haus bauen lassen. Das hier war eindeutig der Stoff, aus dem Märchen waren. Ich stellte mein Fahrrad hinter dem Haus ab, wo sich ein kleiner Unterstellplatz und eine Koppel befanden, auf der zufrieden drei braune Pferde grasten. Ich stellte mich für einen Moment an den Zaun und zog dieses friediche Bild gierig in mich auf. Eines der Pferde, eine gerade trächtige Stute, kam auf mich zu und beschnupperte mich neugierig. Sie stieß heftig Luft durch ihre Nüstern aus und schnaubte in mein Haar. Ich musste lachen. Diese Tiere strahlten so viel Ruhe und Eleganz aus, dass ich am liebsten einfach hier stehen geblieben wäre. Aber das ging nunmal nicht. Die Arbeit rief nach mir. Durch den Hintereingang gelangte ich direkt in die Küche. Sie bestand aus zwei Küchenzeilen und einem Holzofen. Alles war auf dem allerneuesten Stand und glänzte. Aus dem Schrank direkt neben dem Eingang kramte ich meine Uniform hervor und zog mich in windeseile um. Sie bestand aus einem schwarzen Rock und einer weißen Bluse. Normalerweise zog ich soetwas ja nicht an, aber für die Arbeit ging das irgendwie. Irgendeinen Kompromiss musste ich ja schließlich eingehen. Und da ich auf den Urlaub nicht verzichten wollte, musste ich mich eben mit diesen Klamotten anfreunden. Das ging schon. Vorsichtig lugte ich in den Vorraum des Restaurants, wo bereits reger Betrieb herrschte. Ich wollte gar nicht wissen, wie das dann erst heute Abend aussah. Mir graute es jetzt schon davor. Samstage waren immer so anstrengend... "Hallo Samira! Schon da? Du bist aber früh dran. Aber gut so, heute können wir jede zusätzliche Person dringend gebrauchen", begrüßte mich Sven, mein Chef. Er strahlte mich mit seinen etwas gelben Zähnen, die in alle Richtungen standen, an und klopfte mir auf die Schulter. Dabei wackelte sein Bierbauch heftig unter einem kleinen Lachen. Ich mochte Sven. Er war ein wirklich aufmerksamer Chef und kümmerte sich sehr gut um seine Angestellten. Im Großen und Ganzen hatte ich es mit dieser Arbeitsstelle hier eigentlich ganz gut erwischt. "Hi! Ja ich brauche das Geld. Du weißt ja, dass die Erfüllung meines Traums kurz bevorsteht. Da muss ich jetzt noch einmal richtig reinhauen", erwiderte ich und erkannte, dass Sven mir glaubte. Ich war eigentlich nicht gut im Lügen. Aber warum sollte er auch nicht... "Gut für uns", grinste er und drehte sich zu Melanie, einer Köchin, um, die gerade ein Schnitzel hatte anbrennen lassen. Ich verdrückte mich schnell aus der Schussbahn in den Gastraum, bevor das Donnerwetter folgte und verschaffte mir einen Überblick. Außer mir waren noch Hannes und Annika da, wobei Hannes gleichzeitig beim Bedienen und auch noch in der Küche aushalf. Dieser Part war immer ziemlich anstrengend. Zwei volle Bedienungen mussten jedoch reichen, das bedeutete, dass Hannes ganz in die Küche durfte. Oh je, das konnte ja noch stressig werden. Aber es würde schon schief gehen. Annika begrüßte mich mit einem Kopfnicken und Hannes verschwand einfach in die Küche, ohne mich weiter zu beachten. So lief das samstags meistens ab. Ich erwiderte das Kopfnicken von Annika mit einem Lächeln, für mehr war im Augenblick keine Zeit. Mir gehörten die Tische auf der linken Seite mit den geraden Zahlen und Annika die Ungeraden. Und so stürzte ich mich in die Arbeit. Es lief eigentlich immer gleich ab. Ich lief zu einem Tisch, nahm die Bestellungen auf, gab sie in der Küche weiter und balancierte das Essen und Trinken an die einzelnen Tische. Am Ende kassierte ich dann noch ab und manchmal bekam ich zusätzlich sogar etwas Trinkgeld. Heute sah es in dieser Hinsicht eigentlich ganz gut aus. Es lief! Vielleicht würde ich am Montag ja schon bezahlen und meine Schulden begleichen können. Ich hoffte es so sehr! Die Arbeit war ziemlich eintönig, aber die Hektik und die Tatsache, dass ich wusste, was ich als nächstes tun musste, ließ meine nervtötenden Gedanken verstummen. Zumindest für kurze Zeit. Darüber war ich wirklich sehr dankbar. Nur einmal gab es einen kleinen Zwischenfall, als ein älterer Mann, der bereits um 17 Uhr eine Fahne hinter sich herzog und bei uns längst Hausverbot hatte, zur Tür hereingetorkelt kam. Dieser Anblick tat mir wie jedes mal so unendlich leid. Der Mann war vielleicht Mitte 50, hatte graue, fast weiße, verfilzte Haare, die ihm strähnig ins Gesicht hingen. Sein Atem ging laut und keuchend und seine Augen versanken beinahe in ihren Höhlen. Sie starrten in weite Ferne, als sehe er etwas, was uns anderen verborgen blieb. Sein Gesicht war eingefallen, seine Haut durchscheinend wie Papier, überall hatte er Falten und seine Gestalt war dürr. Bloß noch Haut und Knochen. Er trug einen alten, viel zu kleinen Hosenanzug, der an ihm aussah, als wäre er in der Wäsche eingegangen. In der Hand hielt er einen zerschlissenen, lilanen Damenrucksack, aus dem Flaschen hervorragten. Wie weit konnte man sinken? Alle Augen richteten sich zu dem alten Mann, als ihn ein kratzender Hustenanfall schüttelte und Ekel, Abscheu und Ärger spiegelte sich in deren Gesichtern. Nirgendwo konnte ich auch nur einen kleinen Funken Mitleid erkennen. Ich hatte gehört, dass der Mann hier früher einmal ein wohlhabender Lehrer gewesen war. Doch als seine Tochter bei einer Schlägerei starb, in die sie ausversehen dazwischen geriet, versank er im Alkohol. Dieses Mädchen war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und schon zerstörte sie das Leben von sich und ihrer Familie. Ihre Mutter hatte daraufhin Depressionen bekommen und am Ende Selbstmord begangen. Wie hart und eiskalt die Welt doch geworden war! Niemand sah die verletzte, nach Hilfe suchende Person hinter diesem Auftreten. Sollten sie das doch einmal selbst durchmachen und nicht abstürzen! Dann konnten sie von mir aus so reagieren. Sven kam sofort aus der Küche gestürmt und setzte den Störenfried unsanft wieder vor die Tür. Wie immer schnaubte er vor Wut und konnte sich kaum beruhigen. Das lief eigentlich immer so ab. Und trotzdem kam er jedes mal auf's Neue. Als Sven wieder in der Küche verschwunden war, ging ich kurz nach Draußen, wo der Mann in der Einfahrt kauerte, abwesend vor sich hin murmelte und in seinem Rucksack wühlte. Flaschen klapperten und seine Hände zitterten heftig. Ich ging zu ihm hin und gab ihm eine Tüte mit Butterbrezeln. Das tat ich eigentlich jedes mal, wenn er uns besuchen kam. Ich wusste Sven freute das überhaupt nicht, aber ich musste einfach irgendetwas tun. Es machte mich fast verrückt diesen Mann so zu sehen. Es hätte schließlich auch mich treffen können! Der Mann blickte auf und schenkte mir ein zahnloses Grinsen. Sein Atem stank nach Alkohol und Zigaretten. Ich zwang mich dazu kurz zurückzulächeln und drehte mich zum Gehen um. Schließlich musste ich drinnen weiter machen. Um 22 Uhr konnte ich dann endlich einmal eine kleine Pause einlegen. Hannes übernahm wieder das Bedienen und ich ließ mich erschöpft an den kleinen Tisch in der Küche fallen. Es war heute ein wirklich stressiger Abend. Ich musste wild durch die Gegend rennen und versuchte verzweifelt nicht den Überblick zu verlieren, was gar nicht so leicht war. Das Restaurant hatte bis 1 Uhr offen und bis dahin würden es noch lange drei Stunden werden. Denn je später es wurde, desto schlimmer wurden auch die Gäste. Sie begannen anzügliche Bemerkungen zu machen, einen anzufassen und wurden aggressiv, wenn etwas nicht so lief, wie sie sich das vorstellten. Anstrengend...! Die letzten Stunden waren immer die Schlimmsten. Jolie, eine mütterliche und etwas mollige Köchin, mit grau-grünen Augen und kurzen, schwarzen Haaren, ließ sich neben mich fallen und schob mir einen Teller mit Semmelknödeln, Preiselbeeren und Hirschgulasch zu. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Es roch so traumhaft! "Für dich, Kleines." Mein Magen reagierte sofort darauf mit einem lauten Knurren. "Upps!", stieß ich verlegen hervor und griff nach Messer und Gabel, "danke Jolie. Du bist die Beste!" "Ich weiß. Guten Appetit", lachte sie und stand schwerfällig wieder auf, um weiter zu arbeiten. Ich machte mich heißhungrig über das Essen her und schaufelte alles in mich hinein. Es war wirklich köstlich, das musste man ihnen lassen. Die Köche hatten es drauf! Endlich konnte ich mir mal wieder richtig den Bauch vollschlagen, ohne dass mein Magen rebellierte. Das war ein wunderschönes Gefühl! Ich war gerade bei meinem Nachtisch angelangt, einem Apfelstrudel mit Vanilleeis und Schokosoße, als Hannes an meinen Tisch geeilt kam. Er wirkte ziemlich genervt und schlecht gelaunt. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen. Oh oh! Welche Laus war dem denn über die Leber gelaufen? "Da draußen sitzt ein Gast, der sich partout nicht von mir bedienen lassen möchte. Er verlangt nach Samira Flend, sonst gibt er keine Bestellung auf", knurrte er wütend und warf den Zettel mit den Bestellungen vor mir auf den Tisch. Ich schaute verwirrt auf und verzog wenig begeistert das Gesicht. Wahrscheinlich irgendein Wiederling, der etwas von mir wollte. Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt! "Aha... An welchem Tisch?", wollte ich wenig begeistert wissen und schob mir den Rest des Eises in den Mund. Meine Pause war somit wohl gelaufen. "Tisch acht", erwiderte er launisch und verschwand. Mann hatte der eine Laune! Man konnte ja wenigstens versuchen ein kleines bisschen freundlicher zu sein und so tun, als würde einem die Arbeit Spaß machen. Miesepeter! Mit wenig l**t machte ich mich auf den Weg zu Tisch acht, auch wenn ich mich lieber davor gedrückt hätte. Wer wollte schon die Bestellung nur von mir aufnehmen lassen? Mann, hatte derjenige Probleme. Das war ja richtig Kindergarten! Aber wie sagte man so schön: Der Kunde war König. Bevor ich zu Tisch acht ging, kümmerte ich mich jedoch noch um Tisch zehn, an dem eine Frau ein Glas Wein umgestoßen hatte. Zum Glück keinen Rotwein, weil dann hätte ich das Tischtuch gleich austauschen dürfen. Die Frau entschuldigte sich tausendmal bei mir und bot an die Tischdecke zu bezahlen. Ich beruhigte sie jedoch, dass das nicht nötig sei. Sie war zum Essen hier und um den Rest mussten wir uns kümmern. So war das nunmal. Plötzlich wurde ich von hinten angestupst und fuhr erschrocken herum. Was für ein Schwein wagte es mich anzufassen?! Was fiel demjenigen ein?! Soetwas ging einfach gar nicht, wahrscheinlich hatte diesem Depp mein Arsch gefallen oder sonst irgendetwas Dämliches. Stöhnend stellte ich fest, dass das da hinter mir Tisch acht war. Eine Hand wurde mir entgegengestreckt und mir entglitten meine Gesichtszüge. Was zum Teufel... ! "Hi! Schön dich doch noch zu sehen. Der andere Kellner da war ziemlich unfreundlich, musst du wissen. Ich wollte mich nur kurz vorstellen, ich bin..." Ich schloss die Augen und betete, dass das hier ein Traum war. "Bitte lieber Gott, ich flehe dich an, lass es ein Traum oder eine Halluzination sein!", schrie ich im Stillen zum Himmel hinauf. Doch dieser Wunsch wurde mir zu meinem allergrößten Bedauern nicht erfüllt. Die Stimme vor mir fuhr unbeirrt fort, ohne dass ich etwas hätte dagegen tun können: "...Asher O'Brien. Schön dich kennenzulernen. Ist mir eine große Ehre. Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?"
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