Eine sonderbare Begegnung

3211 Words
Völlig perplex riss ich die Augen wieder auf und starrte Asher entgeistert an. War er jetzt voll und ganz übergeschnappt? Was ging bei dem ab?! Er musste den Verstand verloren haben oder unter Drogen stehen, anders konnte ich mir das nicht erklären. "Äh... Samira Flend, aber das weißt du doch bereits...? Wir hatten gestern schon das Vergnügen und... ähm... eine kleine Meinungsverschiedenheit, wenn du dich daran erinnerst", schüttelte ich den Kopf. Vielleicht hatte er ja sein Gedächtnis verloren oder war geistig verwirrt. Das wäre zumindest eine kleine Entschuldigung für das Verhalten von gestern gewesen. Asher stand auf, sodass er mich nun um eineinhalb Köpfe überragte und schenkte mir sein verträumtes Es-wird-alles-gut-Lächeln. Dabei bildeten sich kleine Grübchen in seinen Wangen, was mir zuvor noch überhaupt nicht aufgefallen war. Seine Augen strahlten mich begeistert an und ließen eine Wärme in mir aufsteigen, die mich für einen Augenblick alles vergessen ließ, was gestern geschehen war. Ich versank in diesem Grün, das alles andere im Raum verschlang, als existiere es gar nicht wirklich. Vor mir sah ich stattdessen einen Wald, hügelige Weiten und die unendliche Freiheit. Wie konnte man in einem Paar Augen nur so viel erkennen? "Äh... Samira? Hast du mir zugehört?", riss Asher mich da aus meinen Gedanken und legte mir sanft seine Hand auf die Schulter. Ein Stromstoß schoss durch mich hindurch, von der Stelle ausgehend, wo er mich berührte und ich zuckte erschrocken zurück. In meinem Magen stieg ein flaues Gefühl auf und meine Gedanken fuhren Achterbahn, sodass ich mich stark konzentrieren musste, um einen einigermaßen klaren Gedanken fassen zu können. Mit einem kleinen Stirnrunzeln zog Asher seine Hand schnell wieder zurück und brachte etwas mehr Abstand zwischen uns. Ich spürte, wie eine kleine Welle der Enttäuschung durch mich hindurchbrandete. Warum, wusste ich auch nicht so genau. Natürlich hatte ich nicht aufgepasst, was er zuvor gesagt hatte. Keinen Plan, was er von mir wollte. Aber das durfte ich mir jetzt auch nicht anmerken lassen. "Ja klar", nickte ich zustimmend und bemühte mich überzeugend zu wirken. Wie ich wohl aussah? Bestimmt völlig verstrubbelt und am Ende. Meine Schminke war wahrscheinlich ganz verlaufen und meine Beule konnte man sicherlich auch unter meinen Haaren erahnen. Und dann diese hässliche Uniform...!!! Was für eine sch...!!! Asher fuhr unbeirrt fort, ohne meine Selbstzweifel zu bemerken: "Gut, dass du meiner Meinung bist. Ich wollte nämlich auch noch einmal von vorne anfangen und da du mir großzügigerweise gesagt hast, wo du arbeitest, wollte ich die Gelegenheit nutzen und einen Neustart wagen. So wie es gestern gelaufen ist, tut mir das echt leid. Eigentlich bin ich nicht so. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Wir hatten wohl beide einen schlechten Tag und der Abiball ist uns augenscheinlich schwer auf den Magen geschlagen." Ich kniff erneut fest die Augen zusammen und versuchte mich auf die Lichtpunkte hinter meinen Liedern zu konzentrieren, die dort heftig flimmerten. Ich verstand gar nichts mehr. Er wollte noch einmal von vorne anfangen? Aber wieso verdammt nochmal?! Gestern hatte er mich doch noch so wüst beschimpft und den Supercoolen gemimt. So leicht würde er mir nicht davonkommen! "Ja klar, schwer auf den Magen geschlagen...! Willst du dich über mich lustig...", setzte ich mit hochgezogener Augenbraue an. Jedoch verstummte ich sofort, als ich sah, dass Asher etwas hinter seinem Rücken hervorzog. Es war ein in rotes Geschenkpapier eingepackter Gegenstand. Das Papier hatte beinahe die gleiche Farbe, wie mein Kleid gestern. Ob das Zufall war? Ich schaute misstrauisch auf das Geschenk in Ashers Händen hinab, dann in sein Gesicht und anschließend wieder zurück. Was hatte das zu bedeuten? Ich wusste überhaupt nicht mehr wo mir der Kopf stand. Asher zwinkerte mir zu, was mein Herz einen Schlag lang aussetzen ließ. Wenn das so weiter ging, würde ich bald an Herzversagen krepieren. Für diese Krankheit hier gab es sehr schlechte Heilungschancen. Das wusste ich, obwohl mich diese Epidemie bis jetzt eigentlich größtenteils verschont hatte. Doch nun hatte sie zugeschlagen und mich übel und ohne Gnade erwischt. Ich konnte sie nicht mehr aufhalten, es war bereits zu spät.  Asher überreichte mir das Päckchen bedeutungsvoll und wartete gespannt darauf, dass ich es aufmachte. Mittlerweile hatten sich viele Gesichter zu uns umgewandt und musterten uns neugierig, belustigt und begeistert. Ein einzelnes Klatschen war zu hören, was im Raum jedoch hilflos verhallte. Doch nach und nach stimmten immer mehr Hände mit ein und ein einigermaßen gleichmäßiges Klatschen brandete auf. Oh nein! Zu viel Aufmerksamkeit! Das konnte doch nicht wahr sein! Ich hatte gedacht, dass ich nach gestern dieses Problem erst einmal für eine Weile los sein würde. Ich seufzte resigniert. Nun MUSSTE ich das Päckchen wohl oder übel öffnen. Das erwarteten schließlich auch alle von mir. Unter den gespannten Blicken der anderen versuchte ich mich erst einmal zu sammeln. Bloß nicht in Panik geraten!  Schließlich kam ich dem Wunsch der wilden Meute um mich herum nach und löste vorsichtig den Tesa vom Rand des Päckchens. Ich war wirklich gespannt, was nun gleich zum Vorschein kommen würde. Langsam schlug ich das Papier zurück und vor mir stand... eine kleine Palme in einem Blumentopf. Sie hatte saftig grüne Blätter und war wirklich hübsch anzusehen. An den Stamm der Palme war ein Päckchen Kaugummi befestigt worden, worauf stand: "Für dein tägliches Abendritual. Ich werde es niemandem verraten, versprochen. Gib mir bitte nur noch eine Chance. Ich kann auch anders sein. Und vergiss das mit dem Anzug. Ich weiß, dass du ihn bezahlen könntest, aber mir geschah es gerade recht, nach allem, was ich dir gestern an den Kopf geschmissen habe." Verblüfft richtete ich meinen Blick auf Asher und mir blieb der Mund offen stehen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war ja schon irgendwie süß. Auf jeden Fall tausendmal besser, als irgendetwas Teures und langweilig Unoriginelles. Ich musste zugeben, ich war beeindruckt. Er überraschte mich immer wieder auf's Neue. Ich hätte es nie im Leben für möglich gehalten, dass dieser Kerl so kreativ sein konnte, nach allem, was ich gesehen und von ihm gehört hatte. Und vor allem wunderte es mich, dass er überhaupt zu mir kam und sich daran erinnerte, dass ich hier arbeitete! Warum machte er sich nur solch eine Mühe und das bloß wegen mir? Da riss mir besagte Person auf einmal wieder das Geschenk aus den Händen und Enttäuschung schlich sich in sein wunderhübsches Gesicht. "Wenn es dir nicht gefällt, kein Problem. Dann nehme ich es wieder mit. Ich wollte nur, also ich dachte...", druckste er herum und schlug die Augen nieder. Er war sichtlich zerknirscht und verunsichert. Einer Eingebung nach trat ich einen Schritt nach vorne und überwand die letzte Distanz zwischen uns. Die vielen Augen, die auf uns ruhten, nahm ich gar nicht mehr wahr. Ich breitete einfach die Arme aus und drückte ihn vorsichtig an mich. Sein atemberaubender Geruch umhüllte mich daraufhin sofort von allen Seiten und sein warmer Körper ließ mich voll und ganz vergessen, wo ich mich gerade überhaupt befand. Zuerst stand Asher einfach nur überrascht da und wusste nicht, wie ihm geschah. Doch dann konnte ich spüren, wie er sanft seine starken Arme um mich legte. Sie hielten mich fest an sich gepresst, als wollten sie mich nie mehr loslassen. Ich legte automatisch meinen Kopf an seine breite Brust und nahm seinen gleichmäßigen Herzschlag wahr. Es kam mir so vor, als stimme mein Herz sich von alleine auf seines ab, aber wahrscheinlich lag das an meinem nicht mehr so ganz zurechnungsfähigem Geisteszustand. Zeit und Raum hatten plötzlich keinerlei Bedeutung mehr. Sie waren unwichtig und nichtssagend geworden. Es war alles perfekt, so wie es im Moment war. Und das nur, weil ich vor Asher stand und seine Nähe spürte. Das allein reichte vollkommen aus, um mich sofort hundertprozentig glücklich zu machen. Mehr brauchte ich nicht auf der Welt. Und damit hatte ich die todsichere Bestätigung dafür, dass ich mich verliebt hatte. Wirklich hoffnungslos und unwiderruflich in diesen Macho von Typen, der da vor mir stand und mich in seinen Armen hielt. In Asher O'Brien, den Bruder von Jessica O'Brien, der obersten Oberzicke an meiner Schule und einer der begehrtesten Sportstudenten an der Uni. Ach du meine Güte! Das konnte ja noch heiter werden. Es waren auf jeden Fall grandiose Aussichten, die sich mir da boten. Ich wusste nicht, wie lange wir einfach nur so dastanden und uns keinen Millimeter regten. In mir herrschte ein aufgeregtes Durcheinander von Gefühlen vor, das mich ganz hibbelig werden ließ. Eine Explosion schoss durch meine Blutbahnen hindurch und versengte mich innerlich. Die Nähe von Asher machte mich beinahe verrückt. Meine Atmung beschleunigte sich augenblicklich, ein kleines Flattern erfüllte meinen ganzen Bauch und die Röte stieg mir in die Wangen. Ich glaubte zu träumen. Eine halbe Ewigkeit lang genoss ich einfach nur die Anwesenheit von Asher und doch war es viel zu schnell vorbei. Zu meinem großen Bedauern lösten wir uns nämlich schon wieder voneinander, als von allen Seiten begeisterter Applaus aufbrandete. Den Leuten schien die Vorstellung, die wir ihnen hier lieferten, wohl prächtig gefallen zu haben. Sie hatten ihren Spaß, johlten, pfiffen und erhoben sogar ihre Gläser auf uns. Verlegen trat ich einen Schritt von Asher zurück und brachte so viel Abstand wie nur möglich zwischen uns. Ich musterte eingehend den Boden vor meinen Füßen, der plötzlich ganz interessant war. Es war ein Parkettboden, der schon ziemlich ramponiert war. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?! Ich konnte doch Asher nicht einfach so umarmen! Was fiel mir ein...?! Ich war ja vielleicht mal richtig gestört! Er hatte doch eine Freundin und ich unterstützte seine Anmachversuche auch noch?! Das durfte doch wohl nicht wahr sein! ...Wenn das hier überhaupt soetwas wie ein Anmachversuch gewesen war. Wahrscheinlich hatte das alles nämlich überhaupt nichts zu bedeuten. Es war einfach nur eine gewöhnliche Entschuldigung gewesen. So musste es sein. Das war die plausibelste Erklärung. Er hatte einfach nur ein schlechtes Gewissen und ein angeknackstes Selbstbewusstsein gehabt, das er nun befriedigen musste. Und damit hatte er nun ja auch das erreicht, was er wollte. Also würde er wahrscheinlich gleich wieder abzischen. Er konnte zufrieden mit sich selbst sein. Alles, was er sich vorgenommen hatte, war in Erfüllung gegangen. Sein Ego würde weiter wachsen und bald alles andere in den Schatten stellen. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken, hätte mich nie mehr bewegt und wäre für alle Ewigkeit versteinert an der gleichen Stelle gestanden. Unfähig mich zu bewegen und dazu verdammt von anderen nicht beachtet zu werden. Das wäre auf jeden Fall das Einfachste für alle Beteiligten gewesen. Aber leider tat mir niemand den Gefallen und ließ dies geschehen. Stattdessen kam Sven aus der Küche gerauscht, zwinkerte mir verschwörerisch zu und verkündete großzügig: "Ich entlasse dich für heute aus dem Dienst, Samira. Den Rest werden wir auch noch alleine hinbekommen. Wir wollen der jungen Liebe hier natürlich nicht im Wege stehen. Ihr zwei seid echt süß. Du hast genug gearbeitet für heute. Danke für alles. Macht euch einen schönen Abend und genießt die gemeinsame Zeit." Meinte er uns?! Verdattert schaute ich mich um. Wie? Was? Warum? "Hopp hopp! Jetzt verschwindet schon und schlagt hier keine Wurzen! Ein zweites mal wiederhole ich mein Angebot sicherlich nicht", setzte Sven nach und grinste breit. Ich traute meinen Ohren kaum. Junge Liebe?! Hatte ich mich da gerade etwa verhört? Bitte lass das ein schlechter Scherz von ihm gewesen sein! Ach du sch...! Unsicher schielte ich zu Asher hinüber, der sich gerade die Haare zurückstrich, die ihm kurz darauf sofort wieder ins Gesicht fielen. Wie würde er reagieren? Ich hoffte, dass er es einfach überhören würde. Er beäugte Sven gerade abschätzig von oben bis unten und schüttelte leicht den Kopf. Mist! Er hatte es doch gehört! Dann sollte er es wenigstens ignorieren. Einfach beiseite lassen. s**t! s**t! s**t! Doch ich wusste, dass er mir diesen Gefallen nicht tun würde. Gleich würde er sagen, dass da nichts zwischen uns lief und niemals etwas laufen würde und damit all meine dämlichen Hoffnungen und Träume auf einen Schlag zerstören, von denen ich nicht einmal wusste, woher sie so plötzlich kamen. Da war ich mir absolut sicher. Gleich würde es so weit sein. Asher holte tief Luft und begann zu sprechen, während ich den Atem anhielt und mir am liebsten beide Ohren zugehalten hätte: "Das ist sehr nett von ihnen, dass sie mir und Samira einen gemeinsamen Abend schenken. Zu freundlich. Das nehmen wir selbstverständlich dankend an, auch wenn wir keinesfalls zusammen sind. Wir sind kein Liebespaar ... aber ... was nicht ist ... jaaaaa... also ... kann ja vielleicht noch werden. Wer weiß...." Verdattert starrte ich Asher ungläubig an. Ich hatte mit einer harten Widerrede und Empörung gerechnet. Stattdessen hatte er sich bedankt und das in einer förmlichen Sprache, die ich ihm in diesem Moment nicht einmal zugetraut hätte. Und er hatte gesagt: "Was nicht ist, kann ja noch werden!!!" Wie abgefahren war das denn bitteschön?! "Aber er ist schon vergeben! Und was bitteschön sollte er von MIR wollen?!", warnte eine ständig nörgelnde Stimme in meinem Kopf, die ich wütend zum Schweigen brachte. Darüber konnte ich mir noch später den Kopf zerbrechen. Jetzt würde ich erst einmal den Abend genießen. Ich spürte ein warmes, angenehmes Kribbeln in mir aufsteigen. Am liebsten hätte ich die ganze Welt umarmt. Ich fühlte mich unbesiegbar und nichts und niemand konnte mir etwas anhaben. Ich hätte Bäume ausreißen können! Mit allem hatte ich gerechnet, nur mit dem hier nicht. "Ich gehe mich noch kurz umziehen!", entschuldigte ich mich schnell von den beiden und rannte in Richtung Küche davon. Dort fiel ich Hannes um den Hals, der mir zu seinem Pech als erster über den Weg lief. Dieser war zwar völlig verstört und schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren, doch wen juckte das schon. Die Nacht war jung und ich konnte tun und lassen, was ich wollte. In Windeseile zog ich mich um, auch wenn ich mir in meinen Shorts und dem mitternachtsblauen Top, auf dem in silberner Schrift: "I'm the best and no comment!" stand, etwas schäbig vorkam. Aber wer hätte auch nur im entferntesten ahnen können, dass ich heute Abend auf Asher O'Brien traf, wir uns nicht die ganze Zeit nur heftig und ohne Gnade anzickten und er sogar etwas mit mir unternehmen wollte? Ich auf jeden Fall nicht. Deswegen hatte ich auch leider bloß meine Freizeitkleidung mitgenomm und zu meinem Pech auch keinen Erste-Hilfe-Ausgehkleiderkoffer parat. Doof! Dass man an soetwas auch nicht dachte! Da hatte ich gerade eindeutig eine Marktlücke entdeckt. Nachdem ich mich noch tausendmal eingehend im Spiegel, der im Bad hing, gemustert hatte, stand ich endlich wieder vor Asher und konnte mein breites Grinsen kaum verkneifen. Am liebsten hätte ich Luftsprünge vollführt, doch davon konnte ich mich gerade noch abhalten. Wäre auch sicherlich etwas komisch gekommen. Ich wagte es nicht Asher direkt in die Augen zu sehen, weil ich dann wahrscheinlich auf der Stelle völlig ausgeflippt wäre. Und das galt es zu vermeiden. Ich wollte nicht gleich am Anfang schon so verrückt rüberkommen. Wobei... wahrscheinlich hatte ich dies gestern eh schon verspielt. "Können wir?", fragte ich in dem vergeblichen Versuch normal zu klingen. Doch meine Stimme bebte verräterisch vor Aufregung und unterdrückter Freude. "Selbstverständlich", erwiderte er und öffnete mir galant die Tür. Unter den neugierigen Blicken der Gäste verabschiedete ich mich noch kurz von Sven und dankte ihm tausendmal für alles, was er für mich getan hatte, wobei ihm das ziemlich peinlich war. Er lief rot an und scheuchte mich schnell zur Tür hinaus. Sven war wirklich ein Schatz! Einen besseren Chef konnte es gar nicht geben. Dann fiel endlich die Tür hinter uns ins Schloss und wir waren allein. Geschafft! Zumindest den ersten Teil des Abends. Die Frage war bloß, welcher Teil schwerer mit Bravour zu meistern war. Gemeinsam schlenderten wir hinter das Haus, von wo ich ja noch mein Fahrrad holen musste. Dabei vermied ich es geflissentlich Asher zu nahe zu kommen. Ich spürte so schon viel zu deutlich seine unmittelbare Nähe und die Wärme, die von seinem Körper ausging. Bei dem bloßen Gedanken an eine Berührung von ihm wurden meine Knie weich. Ich musste krank sein! Bestimmt bekam ich eine Grippe. So musste es sein! Die Pferde standen mittlerweile dicht zusammengedrängt unter einem Baum und schliefen. Oh ja! Schlaf hätte ich im Moment eigentlich auch dringend nötig gehabt, doch jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Schlafen konnte man noch lange genug, wenn man tot war. Ich hatte eine Mission zu erfüllen. Die Frage war bloß, was ich mir davon überhaupt erhoffte. Während ich mein Fahrrad aufschloss, sprach keiner von uns beiden ein Wort. Niemand wusste so recht, was er zu dem anderen sagen oder wie er ein Gespräch beginnen sollte. Und nachdem ich dann auch mal endlich startklar war, hatte ich absolut keinen Plan mehr, wie ich weiter vorgehen sollte. Was wollten wir eigentlich machen? Wo wollten wir hin? Was sollte ich tun? Wie sollte ich mich verhalten? Was sollte ich sagen? Wie würde Asher sich verhalten? Würde er sich von seiner guten oder seiner schlechten Seite zeigen? Das waren eindeutig zu viele offene Fragen auf einmal für mich. Mir wurde schlecht bei dem bloßen Gedanken daran, was alles schief gehen konnte. Das konnte ja noch heiter werden! Unschlüssig trat ich von einem Fuß auf den anderen und begann die Steine zu zählen, die sich vor mir auf dem Boden befanden. Das hatte ich als kleines Kind schon immer getan, wenn ich mich wieder einmal sammeln musste. "1, 2, 3, ..., 35, 36, 37, ..., 50." Ich durfte jetzt nicht die Kontrolle über mich verlieren! Ich brauchte im Augenblick einen kühlen Kopf und das sehr, sehr dringend. Sonst würde der Abend in einem einzigen Desaster enden. Dem konnte ich mir gewiss sein. Ich durfte mich von Asher nicht einfach so einlullen lassen! Denn wenn ich nicht aufpasste, würde ich diesem Kerl neben mir vollkommen hoffnungslos verfallen... Doch vielleicht war ich das ja auch bereits längst, ohne es überhaupt bemerkt zu haben. Ich wusste überhaupt nichts mehr sicher. Meine Welt wurde an zwei Tagen über den Haufen gerannt und in das blanke Chaos versetzt. "Ähm... was wollen wir überhaupt machen?", brachte ich schließlich doch mit brüchiger Stimme hervor, als mir das Schweigen zu drückend wurde. Es kostete mich einige Überwindung als Erste zu sprechen, aber irgendetwas musste ich einfach tun. "Ich habe mir überlegt, dass wir doch zusammen zum Sulzbachsee laufen könnten. Ist ja nicht sehr weit von hier und am Abend ist es dort auch wirklich sehr schön", schlug Asher augenzwinkernd vor. Ich überlegte einen Augenblick und nickte begeistert. Das war ein guter Plan! Aber in meinem Inneren wusste ich, dass ich sogar zugestimmt hätte, wenn er mir erzählt hätte, wir würden ein rosa Tütü tragen, dreimal im Kreis rennen, "Alle meine Entchen" rückwärts singen und uns dabei gleichzeitig selbst im Takt auf den Kopf schlagen. So schlimm war es also schon gekommen.... ich war vollkommen verrückt! Gestört! Geisteskrank! Dem konnte ich mir nun auf jeden Fall gewiss sein. Mehr Bestätigung brauchte es nicht. Die Frage war bloß noch, wie verrückt Asher war. Würde er sich auf mich einlassen oder einen Rückzieher machen und alles bereuen, was er hier angefangen hatte? Es blieb auf jeden Fall spannend. Dem konnte ich mir gewiss sein. Am liebsten wäre ich davongelaufen und hätte mich im letzten Winkel meines Zimmers verkrochen. So aufgekratzt wie heute, war ich schon lange nicht mehr gewesen... oder besser gesagt noch nie.
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