KAPITEL ZWEI

2017 Words
KAPITEL ZWEI Als Riley April die Treppe hinaufführte, fragte sie sich, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie konnte aber fühlen, dass April aufgeregt und gespannt auf die „Überraschung“ war. Sie meinte, dass April auch ein bisschen nervös schien. Bestimmt nicht nervöser als ich es bin, dachte Riley. Aber jetzt war es zu spät sich es noch einmal anders zu überlegen. Sie betraten Rileys Schlafzimmer. Riley warf nur einen Blick auf den Gesichtsausdruck ihrer Tochter und entschied sich dafür keine Erklärungen im Vorab zu geben. Sie ging zu ihrem Schrank hinüber, in dem sich ein kleiner neuer schwarzer Safe auf einem der Regalbretter befand. Sie tippte den Code in des Tastenfeld ein, entnahm etwas aus dem kleinen Kasten und legte es auf das Bett. April riss die Augen weit auf beim Anblick des Gegenstandes. „Eine Pistole!“ sie schaute auf. „Ist sie für…?“ „Dich?” erwiderte Riley. “Naja, gesetzlich ist es immer noch meine Waffe. Die Gesetze Virginias lassen keinen Waffenbesitz vor dem achtzehnten Lebensjahr zu. Aber Du kannst bis dahin mit dieser hier üben. Wir werden uns damit langsam vorarbeiten, aber wenn Du sie gut beherrschst, wird sie Deine sein.“ Aprils Mund stand offen. „Willst Du sie haben?“ fragte Riley. April schien nicht so recht zu wissen, was sie antworten sollte. War es ein Fehler? fragte Riley sich. Vielleicht war April doch noch nicht bereit hierfür. Riley fuhr fort: „Du sagtest, Du wolltest eine FBI Agentin werden.“ April nickte eifrig. „Naja“, sagte Riley, „deshalb dachte ich es wäre vielleicht eine gute Idee mit Waffentraining anzufangen. Was meinst Du?“ „Ja –– oh, ja“, erwiderte April. „Das ist fantastisch. Wirklich total großartig. Danke, Mom. Ich bin nur etwas überwältigt. Ich hätte das wirklich nicht erwartet.” “Ich auch nicht”, sagte Riley. “Ich meine, ich habe nicht erwartet gerade jetzt irgendetwas in diese Richtung zu machen. Eine Waffe zu besitzen ist eine riesige Verantwortung –– eine die viele Erwachsene nicht meistern können.“ Riley nahm die Pistole aus dem Koffer und zeigte sie April. Sie sagte: „Das ist eine Ruger SR 22 –– eine .22 Kaliber semiautomatische Handfeuerwaffe.“ „Eine .22?“, fragte April. „Glaub mit, das hier ist kein Spielzeug. Ich möchte vorerst nicht, dass Du mit einem größeren Kaliber trainierst. Eine .22 kann genauso gefährlich sein wie jede andere Waffe–– vielleicht sogar gefährlicher. Mehr Menschen werden durch dieses Kaliber getötet, als durch irgendein anderes. Behandle die Pistole mit Vorsicht und Respekt. Du wirst sie nur fürs Training handhaben und in der übrigen Zeit bleibt sie in meinem Schrank. Sie wird in einem Waffensafe aufbewahrt werden, für den man einen Code braucht. Fürs Erste werde ich die einzige bleiben, die diesen kennt.“ „Natürlich“, antwortete April. „Ich will das Ding hier auch nicht einfach rumliegen haben“. Riley fügte hinzu: „Und ich würde es bevorzugen, wenn Du es Jilly gegenüber nicht erwähnen würdest.“ „Was ist mit Gabriela?“ Das war eine gute Frage, wusste Riley. Was Jilly anging so war es einfach eine Frage der Reife. Sie wäre womöglich neidisch geworden und würde eine eigene Pistole haben wollen, was ausgeschlossen war. Gabriela aber, so vermutete Riley, würde beunruhigt sein von dem Gedanken, dass April mit einer Waffe trainierte. „Vielleicht erzähle ich es ihr“, sagte Riley. „Aber jetzt erstmal nicht.“ Riley entnahm das leere Magazin und sagte: „Du musst immer wissen, ob Deine Waffe geladen oder ungeladen ist.“ Sie reichte April, deren Hände etwas zitterten, die ungeladene Pistole. Sie wollte beinahe einen Witz machen… „Sorry, ich habe keine mehr in Pink bekommen.“ Doch im letzten Moment überlegte sie es sich andres. Das hier war kein Gegenstand für Scherze. April fragte: „Aber was mach ich damit? Wo? Wann?“ “Jetzt gleich”, antwortete Riley. “Komm. Gehen wir.” Riley legte die Pistole zurück in den Koffer und trug ihn die Treppe hinunter. Glücklicherweise war Gabriela gerade in der Küche zugange und Jilly saß im Wohnzimmer, sodass sie nicht erörtern mussten, was sich im Koffer befand. April ging in die Küche und teilte Gabriela mit, dass Riley und sie für eine Weile weg sein würden. Sie ging ins Wohnzimmer und gab dasselbe an Jilly weiter. Das jüngere Mädchen saß gerade gebannt vor dem Fernseher und nickte nur. Riley und April verließen beide das Haus und stiegen ins Auto. Riley fuhr sie zu einem Waffenladen der „Smith Firearms“ hieß, wo sie die Pistole vor einigen Tagen gekauft hatte. Drinnen umgaben sie Feuerwaffen jeder Art und Größe, ausgestellt in Glasvitrinen oder einfach an der Wand hängend. Sie wurden von Brick Smith, dem Ladenbesitzer, begrüßt. Er war ein großer, bärtiger Mann, gekleidet in ein Plaid-kariertes Hemd und herzlich lächelnd. „Hallo, Ms. Paige“, sagte er. „Es ist gut sie wiederzusehen. Was bringt sie heute zu mir?“ Riley antwortete: „Das hier ist meine Tochter, April. Wir sind hergekommen um die Ruger auszuprobieren, die ich neulich hier gekauft hab.“ Brick Smith wirkte leicht amüsiert. Riley dachte zurück an den Tag, an dem sie ihren Freund, Blaine, hierher gebracht hatte um ihm eine Waffe zur Selbstverteidigung zu kaufen. Damals schien Brick etwas verblüfft eine Frau zu treffen, die einem Mann eine Waffe kaufte. Sein Erstaunen schwand erst dann, als er herausfand, dass Riley eine FBI Agentin war. Nun war er kein bisschen überrascht. Er gewöhnt sich so langsam an mich, dachte Riley. Gut. Das tut nicht jeder. „Nun gut“, sagte er, während er April ansah. „Sie haben mir nicht gesagt, dass sie die Waffe für ihre Kleine kaufen.“ Der Ausdruck irritierte Riley ein wenig… „…ihre Kleine…“ Sie fragte sich, ob das April beleidigte. Riley blickte April flüchtig an und stellte fest, dass diese immer noch etwas überfordert aussah. Ich vermute, dass sie sich gerade vielleicht auch wie ein kleines Mädchen fühlt, dachte Riley. Brick Smith führte Riley und April durch eine Tür hinter den Laden, auf einen überraschend großen Schießplatz, wo er sie dann allein ließ. „Als allererstes“, fing Riley an und zeigte auf eine lange Liste, die an der Wand angebracht war, „ließ diese Regeln. Frag mich, wenn Du etwas nicht verstehen solltest.“ Riley schaute zu wie April die Regeln las, die natürlich alle Sicherheitsvorkehrungen beinhalteten, einschließlich der Anweisung eine Feuerwaffe nie in irgendeine andere Richtung als in Richtung der Geschoßfänge zu richten. Während April mit ernster Miene las spürte Riley eine merkwürdige Art déjà vu. Sie dachte daran, wie sie Blaine hierher gebracht hatte um eine Pistole zu kaufen und seine neue Waffe auszuprobieren. Es war eine etwas bittere Erinnerung. Beim Frühstück nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht gestand Blaine zögerlich… „Ich glaube, ich brauche eine Waffe. Zur persönlichen Sicherheit.“ Natürlich hatte Riley sofort verstanden, was er meinte. Sein Leben war in Gefahr seit er sie kennengelernt hatte. Und wie sich später herausstellte, hatte er die Pistole tatsächlich nur wenige Tage später gebraucht um nicht nur sich, sondern Rileys gesamte Familie vor einem gefährlichen entflohenen Sträfling, Shane Hatcher, zu beschützen. Blaine hatte den Mann damals beinahe umgebracht. Riley hatte immer noch qualvolle Schuldgefühle wegen diesem schrecklichen Vorfall. Ist niemand in meinem Leben sicher? fragte sie sich. Wird jeder den ich kenne irgendwann eine Waffe brauchen, alles wegen mir? April hatte die Regeln durchgelesen und beide gingen zu einem der leeren Stände hinüber. Dort legte April Sicht- und Gehörschutz an und Riley nahm die Pistole aus ihrer Box und legte sie vor April hin. April schaute die Waffe entmutigt an. Gut, dachte Riley. Sie soll ruhig davon eingeschüchtert sein. April sagte: „Die ist anders, als die Waffe, die Du für Blaine gekauft hattest.“ „Das ist richtig“, antwortete Riley. „Ich habe ihm eine Smith and Wesson 686, einen .38 Kaliber Revolver gekauft. Das ist eine viel mächtigere Waffe. Aber er hat sie auch für einen ganz anderen Zweck gebraucht, als Du –– er wollte sich nur verteidigen können. Er hatte nicht vor den Strafverfolgungsbehörden beizutreten, wie Du es vorhast.“ Riley nahm die Pistole in die Hand und zeigte sie April. „Es gibt einige wichtige Unterschiede zwischen einer Pistole und einer Halbautomatik. Halbautomatik hat viele Vorteile, aber auch einige Nachteile –– gelegentliche Fehlzündungen, Doppelzuführungen, Auswurf- und Ladehemmungen. Ich wollte nicht, dass Blaine sich mit so etwas im Ernstfall herumschlagen muss. Was Dich betrifft –– nun ja, Du kannst gleich von Anfang an alles über diese Dinge lernen, in einem sicheren Rahmen ohne Gefahr für Dein Leben.“ Riley begann damit, April zu zeigen, was sie zu allererst wissen musste –– wie man die Patronen ins Magazin einführte und das Magazin in die Pistole, und dann, wie man die Waffe wieder entlud. Während dieser Demonstration erklärte Riley: „Diese Waffe kann entweder mit Spannabzug oder mit Nichtspannabzug verwendet werden. Der Nichtspannabzug erlaubt es Dir viele schnelle Schüsse hintereinander zu tätigen bis Dein Magazin leer ist. Das ist der große Vorteil einer semiautomatischen Pistole.“ Sie legte den Finger auf den Abzug und fuhr fort: „Der Spannabzug lässt Dich hingegen selbst die Abzugsarbeit machen. Wenn Du anfängst den abzuziehen spannst Du den Hammer auf und wenn Du den Abzug durchgedrückt hast feuert die Waffe. Wenn Du dann einen weiteren Schuss tätigen willst, musst Du das Ganze von vorne beginnen. Das ist viel mehr Arbeit –– Dein Finger arbeitet gegen drei bis fünf Kilo Gegendruck –– daher schießt man langsamer. Das ist auch womit ich mit Dir beginnen möchte.“ Sie drückte einen Knopf und brachte dadurch die Papierzielscheibe auf eine Entfernung von etwa sechs Metern zum Stand. Danach zeigte sie April die korrekte Standhaltung und Händepositionierung und erklärte wie man zielt. Riley sagte: „Ok, Deine Waffe ist jetzt nicht geladen. Lass uns ein paar Leerschüsse probieren.“ Wie damals auch mit Blaine, erklärte Riley April wie man richtig atmete –– langsam einatmen während des Zielens, dann langsam ausatmen während sie den Abzug drückte damit der Körper so still wie möglich war zum Zeitpunkt, an dem der Schuss sich löste. April zielte vorsichtig auf den vage menschlich anmutenden Umriss auf der Zielscheibe und drückte den Abzug mehrere Male. Daraufhin setzte sie nach Rileys Anweisungen das geladene Magazin in die Pistole ein, nahm wieder die korrekte Haltung ein und feuerte einen einzigen Schuss. April gab einen erschrockenen Aufschrei von sich. „Habe ich was getroffen?“, fragte sie. Riley zeigte auf die Zielscheibe. „Naja, du hast auf jeden Fall die Zielscheibe getroffen. Und fürs erste Mal ist das gar nicht mal so schlecht. Wie hat es sich angefühlt?“ April kicherte nervös. „Irgendwie überraschend leicht, ich habe erwartet, dass es einen größeren…“ „Rückstoß gibt?“ „Ja. Und es war nicht so laut, wie ich erwartet hatte.“ Riley nickte und sagte: „Das ist eines der schönen Dinge an einer .22. Du wirst kein Zurückzucken oder andere schlechte Gewohnheiten entwickeln. Wenn du dich dann zu seriöseren Waffen vorarbeitest, wirst Du in der Lage sein mit ihrer Kraft umzugehen. Los, mach das Magazin ruhig leer.“ Als April langsam die restlichen neun Patronen abfeuerte bemerkte Riley eine Veränderung in ihrem Gesicht. Es war ein entschlossener, kämpferischer Gesichtsausdruck, den Riley bei April schon früher einmal gesehen hatte. Riley versuchte sich zu erinnern… Wann war das? Es war nur einmal, dachte sie. Dann schlug die Erinnerung wie ein Blitz ein… Riley hatte das Monster namens Peterson hinunter zum Fluss verfolgt. Er hielt April gefangen, an Händen und Füßen gefesselt mit einer Pistole an ihrer Schläfe. Als Petersons Waffe nicht feuerte, fiel Riley ihn an und stach auf ihn ein. Sie kämpften im Fluss bis er es schaffte ihren Kopf zu ergreifen und ihn Unterwasser zu halten um sie zu ertränken. Sie schaffte es für einen Moment hochzukommen, da bot sich ihr ein Anblick, den sie nie vergessen würde… Obwohl sie immer noch an den Handgelenken und Knöcheln zusammengebunden war, stand April auf den Beinen mit der Pistole, die Peterson fallengelassen hatte, in den Händen. April schmetterte den Handgriff gegen Petersons Kopf… Der Kampf endete einige Augenblicke später, als Riley Petersons Gesicht mit einem Stein einschlug. Jedoch hatte sie sich nie dafür verzeihen können, dass sie es zugelassen hatte, dass April in solche Gefahr gekommen war. Und nun stand sie hier, ihre April, und feuerte auf die Zielscheibe mit demselben entschlossenen Gesichtsausdruck von damals. Sie ist mir so ähnlich, dachte Riley. Und wenn April mit Leib und Seele dabei sein würde, würde sie eine genauso gute FBI Agentin wie Riley werden, womöglich sogar besser, da war Riley sich sicher. Aber war das gut oder schlecht? Riley wusste nicht, ob sie sich schuldig oder stolz fühlen sollte. Jedoch schoss April während ihrer halbstündigen Übungseinheit mit immer mehr Selbstbewusstsein und mit immer höherer Zielsicherheit auf die Zielscheibe. Als sie das Waffengeschäft verließen und nach Hause aufbrachen war es definitiv Stolz, den Riley fühlte. April war aufgeregt und gesprächig und stellte jede Menge Fragen zum Training, das ihr bevorstand. Riley antwortete so gut es ging und versuchte ihre Zwiegespaltenheit, was Aprils Zukunftspläne anging, nicht durchscheinen zu lassen. Als sie schon in der Nähe des Hauses waren rief April: „Schau, wer da ist!“ Rileys Herz wurde schwer, als sie den teuren BMW vor dem Haus stehen sah. Sie wusste, dass er der Person gehörte, die sie gerade am wenigsten sehen wollte.
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