KAPITEL EINS
Als Riley das Auto vor ihrem Haus anhalten hörte fragte sie sich…
Bin ich wirklich in der Lage das durchzuziehen?
Sie betrachtete ihr Gesicht im Badezimmerspiegel und hoffte, dass es nicht zu leicht erkennbar war, dass sie geweint hatte. Dann ging sie hinunter ins Wohnzimmer, wo sich ihre gesamte Familie schon versammelt hatte –– ihre Haushälterin, Gabriela; ihre fünfzehnjährige Tochter, April; Jilly, die Dreizehnjährige, die Riley gerade adoptierte.
Und von all ihnen umgeben, von zwei großen Koffern geflankt, stand der fünfzehnjährige Liam und lächelte Riley etwas traurig an.
Es geschieht nun wirklich, dachte sie. Genau jetzt.
Sie ermahnte sich, dass es alles für das Beste war.
Trotzdem konnte sie nichts gegen ihre Traurigkeit tun.
Dann klingelte es an der Tür und Jilly eilte zur Tür um diese zu öffnen.
Ein Mann und eine Frau in ihren späten Fünfzigern traten ein, strahlend über die ganzen Gesichter. Die Frau trat sofort zu Liam herüber, der Mann ging auf Riley zu.
„Sie müssen Ms. Paige sein”, sagte er.
„Nennen sie mich bitte Riley“, erwiderte sie mit leicht heiserer Stimme.
„Ich bin Scott Schweppe, Liams Onkel“, stellte sich der Mann vor. Er drehte sich zu seiner Frau die währenddessen Liam umarmte. „Und das ist meine Frau, Melinda.“
Mit einem leicht unbeholfenen Grinsen fuhr er fort: „Aber ich nehme an, das wissen Sie alles schon. Auf jeden Fall freue ich mich so sehr, Sie kennen zu lernen.“
Riley schüttelte seine entgegengestreckte Hand. Sie empfand seinen Händedruck als stark und voller Wärme.
Im Gegensatz zu Riley versuchte Melinda gar nicht erst ihre Tränen zurückzuhalten. Als sie zu ihrem Neffen hinaufschaute, sprach sie zu ihm: „Oh, Liam! So eine lange Zeit ist es gewesen! Du warst noch so klein, als wir Dich zum letzten Mal gesehen hatten. Jetzt bist Du so ein stattlicher junger Mann!“
Riley holte mehrere Mal tief und langsam Luft.
Das ist wirklich das Beste für alle, sagte sie sich.
Vor einigen Tagen wäre das, was gerade passierte, das letzte was sie erwartet hätte.
Es schien als wäre es gestern gewesen, dass Liam bei Riley und ihrer Familie eingezogen war. Er war ja auch tatsächlich erst seit zwei Monaten bei ihnen, hatte aber von Anfang an gut hineingepasst und alle im Haushalt waren ihm schon sehr zugetan.
Jetzt hatte es sich aber herausgestellt, dass der Junge Verwandte hatte, die wollten, dass er bei ihnen lebte.
„Bitte setzen sie sich. Machen sie es sich bequem“, bot Riley dem Paar an.
Melinda tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch ab und setzte sich zusammen mit Scott auf die Couch.
Auch alle anderen fanden einen Sitzplatz außer Gabriela, die in die Küche eilte um Snacks und Getränke zu holen.
Riley fühlte sich ein wenig erleichtert, als April und Jilly anfingen Smalltalk mit Scott und Melinda zu führen –– sie fragten sie über ihre zweitägige Reise von Omaha aus, darüber, wo sie in der Nacht Rast gemacht hatten und wie das Wetter die Zeit über gewesen war. Jilly schien bei guter Laune zu sein, Riley meinte jedoch Betrübtheit in Aprils Verhalten zu bemerken. Immerhin stand sie Liam näher als alle anderen.
Riley beobachtete das Paar aufmerksam während sie ihnen zuhörte.
Scott und sein Neffe sahen sich sehr ähnlich –– der gleiche schlaksige Körperbau, dieselben auffällig roten Haare und ein sonnengesprosster Teint. Melinda hingegen war ein stämmiger Typ und sah aus wie eine überaus durchschnittliche, gutmütige Hausfrau.
Gabriela kam bald mit einem Tablett wieder, auf dem sich Kaffee, Zucker und Sahne, sowie köstliche selbstgebackene guatemalische Plätzchen –– Chumpurradas –– befanden. Sie servierte das alles während die anderen redeten.
Riley bemerkte, dass Liams Tante sie ansah.
Mit einem warmen Lächeln sagte Melinda: „Riley, Scott und ich können Ihnen nicht genug danken.“
„Oh –– es war mir eine Freude“, erwiderte Riley. „Es war wunderbar ihn bei uns zu haben.“
Scott schüttelte den Kopf und sagte: „Ich wusste nicht, wie schlimm es mit meinem Bruder, Clarence, geworden ist. Wir hatten uns seit langer Zeit voneinander entfremdet. Das letzte Mal hörte ich vor Jahren von ihm, als Liams Mutter ihn verlassen hatte. Wir hätten in engerem Kontakt bleiben sollen, auch wenn nur um Liams Willen.“
Riley war sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Wie viel hatte Liam seiner Tante und seinem Onkel von dem, was vorgefallen war, erzählt?
Sie erinnerte sich nur zu klar an alles.
April hatte gerade erst begonnen mit Liam auszugehen und er gefiel Riley gleich. Doch nach einem entsetzen Anruf von April eilte Riley zu Liams Haus nur um ihn dort grausam von seinem Vater verprügelt vorzufinden. Riley gelang es denn Mann zu bändigen, jedoch konnte sie Liam unmöglich in seiner Obhut lassen. Riley nahm Liam mit nach Hause und richtete ihm einen Schlafplatz im Wohnzimmer ein.
Natürlich waren dies prekäre Wohnbedingungen.
Liams Vater rief seinen Sohn immerzu an und schrieb ihm SMS, in denen er versprach sich zu ändern und nicht mehr zu trinken –– es war pure emotionale Erpressung, und es war ungeheuerlich schwer für Liam.
Scott fuhr fort: „Ich war total überrumpelt als Clarence mich letzte Woche aus dem nichts anrief. Er klag so, als hätte er seinen Verstand verloren. Er wollte meine Hilfe um Liam zurückzubekommen. Er sagte…naja, er sagte so Sachen, das war ganz schön krass, das kann ich ihnen sagen.“
Riley konnte sich zu gut vorstellen, was für „Sachen“ Liams Vater gesagt haben konnte –– einschließlich dem, was für eine abscheuliche und gemeine Person Riley wäre, dass sie ihm Liam einfach weggenommen hatte.
„Clarence sagte, er würde aufhören zu trinken“, sagte Scott. „Aber ich war sicher, dass er schon während des Anrufs wieder betrunken war. Liam dorthin zurückzuschicken wäre eine schreckliche Idee. Es war klar, dass es nur einen Ausweg aus dieser Situation gibt.“
Riley zuckte bei diesen Worten zusammen.
„…nur einen Ausweg...“
Natürlich war genau dieser eine Ausweg nicht Liam weiterhin in Rileys Familie zu lassen.
Es war einfach gesunder Menschenverstand.
Er sollte gehen und bei seiner nächsten Verwandtschaft leben.
Melinda drückte Scotts Hand und sagte zu Riley: „Scott und ich haben ein leeres Nest, wissen sie. Wir haben unsere drei Kinder schon großgezogen, zwei Söhne und eine Tochter. Unser Mädchen macht gerade ihren Abschluss an der Universität und die Jungs sind beide verheiratet und erfolgreich und bereit eigene Familien zu gründen. Wir sind also nun ganz allein in unserem großen Haus und wir vermissen es junge Stimmen zu hören. Es ist das perfekte Timing für uns.
Erneut zuckte Riley ein wenig.
„…das perfekte Timing…“
Natürlich war es das perfekte Timing. Was hinzukam war, dass es die perfekten Menschen waren –– oder so perfekt wie Eltern überhaupt sein konnten.
Wahrscheinlich sehr viel besser als ich, dachte Riley sich.
Sie selbst war sehr weit davon entfernt alles in ihrem eigenen komplizierten Leben auf die Reihe zu bekommen –– die Verantwortung des Elterndaseins sowie die oftmals in Konflikt dazu stehenden, manchmal gefährlichen, Pflichten einer FBI Agentin.
Tatsächlich fand sie es manchmal unmöglich all das zu vereinen und Liam hier zu haben, hatte ihr Leben nicht gerade einfacher gemacht.
Sie hatte oft das Gefühl nicht genug Aufmerksamkeit für die Kinder aufbringen zu können –– inklusive für Liam. Sie hatte wirklich sehr viel auf sich genommen, als sie ihn zu sich nahm.
Und überhaupt, wie sollte er denn weiterhin in diesem Wohnzimmer leben bis zum Zeitpunkt, an dem er an die Uni ging?
Ja, und wie wollte sie denn bitte überhaupt seine Ausbildung bezahlen?
Nein, das alles war wirklich das Beste für sie alle.
Jilly und April hielten das Geplauder am Laufen und fragten das Paar über deren schon erwachsene Kinder aus.
In der Zwischenzeit füllte sich Rileys Kopf mit Sorgen.
Sie hatte das Gefühl Liam in der kurzen Zeit schon so gut kennengelernt zu haben. Was wussten diese Leute überhaupt nach Jahren der Entfremdung von ihm und von seinem Vater? Sie wusste, dass Scott der Inhaber eines erfolgreichen Fahrradladens war. Er war außerdem in erstaunlich guter Form für sein Alter.
Würde er es verstehen, dass Liam von Natur aus tollpatschig und unsportlich war?
Liam war alles andere als eine Sportskanone und liebte es zu lesen und sich seinen Schulaufgaben zu widmen. Er war außerdem der Kaptein des Schachklubs seiner Schule.
Würden Scott und Melinda sich auf ihn einlassen können und in der Lage sein eine gute Beziehung zu ihm aufzubauen? Würden sie sich genauso gerne mit ihm unterhalten, wie Riley es tat? Würden sie seine Interessen teilen?
Oder würde er sich einsam und fehl am Platz fühlen?
Doch Riley musste sich selbst daran erinnern, dass sie gar nicht in der Position war sich über diese Dinge Sorgen zu machen.
Das ist wirklich alles das Beste für alle, sagte sie sich erneut vor.
Bald –– viel schneller als es Riley lieb gewesen wäre –– hatten Scott und Melinda ihre Kekse gegessen und den Kaffee getrunken und dankten Gabriela für die köstliche Stärkung. Es war Zeit für sie aufzubrechen. Schließlich war es eine lange Fahrt zurück bis nach Omaha.
Scott griff nach Liams Koffern und machte sich auf den Weg zum Auto.
Melinda ergriff herzlich Rileys Hand.
Sie sprach: „Noch einmal, wir können ihnen wirklich nicht genug danken dafür, dass sie sich um Liam kümmerten als er dies am meisten brauchte.“
Riley nickte nur und Melinda folgte ihrem Mann nach draußen.
Jetzt befand sich Riley Angesicht zu Angesicht mit Liam.
Er schaute sie mit weit offenen Augen an, so als hätte er jetzt erst verstanden, dass er sie alle verließ.
„Riley“, sagte er mit seiner charmanten, etwas quietschenden Teenagerstimme, „wir hatten keine Möglichkeit einmal zusammen Schach zu spielen.“
Riley überkam ein Gefühl von Reue. Liam hatte April beigebracht zu spielen, aber irgendwie hatte Riley es nie geschafft selber eine Partie mit ihm zu spielen.
Jetzt hatte sie auf einmal das Gefühl, dass es zu viele Dinge gab, für die sie es nicht geschafft hatte Zeit zu finden.
„Keine Sorge“, sagte sie. „Wir können online spielen. Ich meine, Du wirst doch in Kontakt bleiben, oder? Wir erwarten alle, von Dir zu hören. Oft. Wenn wir nichts hören komme ich nach Omaha. Ich denke nicht, dass Du das FBI vor Deiner Tür stehen haben willst.“
Liam lachte.
“Keine Sorge”, sagte er. “Ich bleib in Kontakt. Und wir werden unbedingt mal Schach spielen.”
Dann fügte er mit einem Grinsen hinzu: „Ich werde Dich im Schach total fertig machen, das weißt Du doch, oder?“
Riley lachte und umarmte ihn.
„Ja, in Deinen Träumen vielleicht“, sagte sie.
Natürlich wusste sie, dass er Recht hatte. Sie war eine ziemlich gute Schachspielerin aber nicht einmal annähernd gut genug um gegen so einen herausragenden Jungen wie Liam zu gewinnen.
Liam sah aus, als wäre er den Tränen nahe und stürzte zur Tür hinaus. Er stieg zu Scott und Melinda ins Auto und die drei fuhren davon.
Während Riley am Fenster stand und ihnen nachsah hörte sie wie Jilly und Gabriela in der Küche aufräumten.
Dann fühlte sie wie jemand ihre Hand drückte. Sie drehte sich um und sah, dass es April war und dass sie sie besorgt ansah.
„Alles ok, Mom?“
Riley konnte es kaum glauben, dass ausgerechnet April ihr in diesem Moment Mitgefühl entgegenbrachte. Schließlich was Liam ihr Freund gewesen, als er hier eingezogen war. Jedoch hatten sie seit diesem Zeitpunkt eine Pause in ihrer romantischen Beziehung eingelegt. Sie mussten unter diesen Umständen „hermanos solamente“ bleiben, wie Gabriela es bezeichnete –– Bruder und Schwester, sonst nichts.
April war dieser Veränderung mit Anmut und Reife begegnet.
„Alles in Ordnung“, antwortete Riley. „Wie geht es Dir?“
April blinzelte ein wenig, aber sie schien eine bemerkenswerte Kontrolle über ihre Emotionen zu haben.
„Ich bin ok“, erwiderte sie.
Riley erinnerte sich an den Plan, den April und Liam für die Sommerferien hatten.
Sie fragte: „Hast Du immer noch vor den Sommer im Schachcamp zu verbringen?“
April schüttelte den Kopf.
„Es wäre einfach nicht dasselbe ohne Liam.“
„Verstehe ich“, sagte Riley.
April drückte Rileys Hand ein wenig fester und sagte: „Wir haben wirklich etwas Gutes getan, oder? Ich meine, dass wir Liam geholfen haben“.
„Das haben wir auf jeden Fall“, antwortete Riley und erwiderte Aprils Händedruck.
Dann stand sie einen Moment da und betrachtete ihre Tochter. Sie schien so unglaublich erwachsen in diesem Augenblick und Riley war zutiefst stolz auf sie.
Natürlich, wie alle Mütter dies tun, machte sie sich Gedanken um Aprils Zukunft.
In letzter Zeit war sie besonders besorgt, nachdem April ihr mitgeteilt hatte, dass sie eine FBI Agentin werden wollte.
War dies das Leben, dass Riley sich für ihre Tochter wünschte?
Abermals ermahnte sie sich…
Was ich mir wünsche ist in diesem Fall bedeutungslos.
Ihr Job als Mutter war es alles dafür zu geben die Träume ihrer Tochter möglich zu machen.
April begann ein wenig unruhig beim liebenden Anblick ihrer Mutter zu werden.
„Ähm, stimmt was nicht, Mom?“ fragte April.
Riley lächelte nur. Sie hatte auf den richtigen Moment gewartet um etwas Wichtiges anzusprechen. Und wenn dies nicht der richtige Augenblick war, dann wusste sie es auch nicht.
„Komm mal mit hoch“, bat Riley April. „Ich habe eine Überraschung für Dich.“