Kapitel 6: Karmesinroter Rudel

1571 Words
Alpha Denis stand vor der Tür, sodass er das Gespräch über die alte Reisetasche kaum mitbekam. Laurel hielt den Taschengurt fest in der Hand und trat nach draußen. Als sie an Max vorbeiging, flüsterte sie ihm ein leises Dankeschön zu. Max brummte leise als Antwort. Die Reisetasche war ihr einziges Gepäck, also wurde sie bei ihr auf dem Rücksitz verstaut. Niemand winkte ihr zu, als das Auto losfuhr. Sie saß im Auto und blickte auf das Haus zurück, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Ihr Vater war an diesem wichtigen Tag nicht da. Wahrscheinlich war es ihm egal, wohin sie geschickt wurde. Von diesem Tag an würde Laurel ein neues Leben beginnen. Sie hatte wenig Hoffnung auf das, was das Leben für sie bereithielt. Alles, was Laurel sich wünschte, war, dass es genug war, um zu überleben. Sie wollte nicht sterben. Das Karmesinroter Mond Rudel war etwa drei Stunden mit dem Auto entfernt, mehr oder weniger, abhängig von den Straßenverhältnissen und davon, wie sicher der Fahrer fuhr. Laurel war keine große Rednerin, und der Fahrer schien ebenfalls nicht gesprächig zu sein. Drei Stunden lang hatte Laurel kein Problem damit, einfach aus dem Fenster zu starren. Es war das erste Mal, dass sie so weit von zu Hause wegfuhr. Alles, was sie in ihrem Leben bereist hatte, lag immer innerhalb der Grenzen des Silberner Mond Rudels. In einigen Teilen des Rudels gab es Wildnis, aber sie war bei weitem nicht so beeindruckend wie die ausgedehnten Wälder, die sie nun zwischen den großen Städten durchquerten. „Kann ich das Fenster öffnen?“ fragte sie den Fahrer. Der Fahrer brummte: „Sicher.“ Die Klimaanlage wurde ausgeschaltet, und das Fenster auf ihrer Seite wurde geöffnet. Der Wind schlug ihr ins Gesicht und zerzauste Laurels Haare aufgrund der Geschwindigkeit des Autos auf der relativ leeren Straße. Sie band ihre Haare schnell mit einem Haargummi zusammen. Plötzlich wurde die Fahrt viel interessanter. Anstatt alles nur durch das Glasfenster zu sehen, konnte sie nun den rauen Wind spüren, die Frische der Wälder riechen und die Düfte der Städte wahrnehmen. Die Zeit verging von da an wie im Flug, und ehe Laurel sich versah, näherten sie sich bereits dem berüchtigten Karmesinroter Mond Rudel. Sobald sie das Schild mit dem Namen des Rudels sah, richtete sie sich auf und zog ihren Kopf wieder ins Auto zurück. Es war die Angst vor dem Unbekannten, die ihr so stark den Rücken hinaufkroch, dass es ihr schwerfiel, Luft zu holen. Sie war nun ganz allein an einem fremden Ort, in der Obhut eines unbekannten Menschen, über den sie nur fragwürdige Dinge gehört hatte. Es war verständlich, dass sie nervös war. Laurels altes Handy war schon lange kaputt, und sie hatte sich seitdem kein neues besorgt, da sie die ganze Zeit zu Hause gewesen war. Daher hatte sie keine Möglichkeit, Informationen über das besagte Rudel und den Alpha zu suchen. Laurel wusste absolut nichts über den Alpha, außer dass er als Biest bezeichnet wurde—eine Information, die von Ashley stammte und daher fragwürdig war. Der Fahrer schien ebenfalls etwas nervös zu sein. Die Geschwindigkeit des Autos lag deutlich unter der Geschwindigkeitsbegrenzung, und er fuhr besonders vorsichtig, seit sie das Schild zum Karmesinroter Mond Rudel passiert hatten. Laurel bemerkte, dass sein Rücken ebenfalls gerader war als in den vergangenen drei Stunden. „Sind wir da?“ fragte sie schüchtern und hoffte insgeheim, dass er nein sagen würde. „Fast. Kannst du es nicht fühlen?“ fragte der Fahrer mit leiser Stimme. „Was fühlen?“ sagte sie und versuchte, etwas zu spüren, aber es kam ihr nichts in den Sinn. Der Fahrer atmete tief ein und sagte: „Die Luft fühlt sich schwerer an. Das ist die Atmosphäre des Karmesinroter Mond Rudels. Die Umgebung ist völlig anders als im Silberner Mond Rudel.“ Laurel spürte nichts. Sie senkte die Augen und versuchte bewusst, es zu fühlen, aber es war immer noch nichts da. Vielleicht war ihr innerer Wolf nach all den Überreizungen taub für solche Empfindungen geworden? Trotzdem nickte sie. „Ja, das tut sie.“ Ihre Abnormalität war nur ihr bekannt. Es musste nicht jedem erklärt werden. Das Karmesinroter Mond Rudel war offensichtlich größer und besser organisiert als das Silberner Mond Rudel. Es war früh entwickelt worden, und auch die Kultur war verfeinert. Der Unterschied zwischen den beiden Rudeln war sofort spürbar, als sie die Grenze des Karmesinroter Mond Rudels erreichten. Laut dem Fahrer hatte das gesamte Rudel nur zwei Eingänge. Sie fuhren zum Haupteingang im Süden des Rudels, wo Soldaten stationiert waren, um Fahrzeuge und Besucher zu überprüfen, die das Rudel betreten wollten. Ein Soldat ging zum Fahrer, während ein anderer zu Laurels Seite kam. „Dein Ausweis?“ Laurel öffnete ihre Tasche und überreichte ihren Personalausweis mit beiden Händen. Der Soldat scannte die Karte und gab sie ihr zurück. Inzwischen war auch der Ausweis des Fahrers überprüft worden. Da er nur ein Fahrer war, der beauftragt wurde, Laurel zu bringen, wurde ihm keine weitere Frage gestellt, was Laurel hörte, als der Wachmann mit dem Fahrer sprach. „Eine Einladung, einen Brief oder irgendetwas anderes?“ fragte der Soldat streng. Laurel schüttelte den Kopf und sagte: „Nichts.“ „Dein Besuchszweck?“ „Ähm, Alpha Denis vom Silberner Mond Rudel hat mich geschickt, um den Alpha des Karmesinroter Mond Rudels zu besuchen.“ Es kostete Laurel beträchtlichen Mut, das zu sagen. Sie war von Natur aus eine schüchterne Person, und das hatte sich durch die harte Behandlung, die sie erfahren hatte, nur noch verstärkt. Es war nicht leicht, diese Schüchternheit zu überwinden. Vor dem Soldaten war sie natürlich verängstigt. Sie sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam. Sie konnte doch nicht sagen, dass sie hier war, um den Alpha zu heiraten, oder? Der Soldat zögerte einen Moment, dann nickte er. „In Ordnung.“ Das Auto passierte die Sicherheitskontrolle und fuhr erfolgreich in das Karmesinroter Mond Rudel ein. Der Fahrer atmete tief durch und schenkte Laurel ein Lächeln durch den Rückspiegel. „Das war nicht so schlimm, wie ich dachte. Wir sind überraschend schnell durchgekommen.“ Laurel brachte ein schwaches Lächeln zustande. Sie hatte zu viele andere Gedanken im Kopf, die es ihr nicht erlaubten, wirklich zu lächeln. Zum Beispiel, was sie sagen sollte, wenn sie dem Alpha gegenüberstand. Am Eingang nahmen die Soldaten wieder ihre Positionen ein, und der Soldat, der mit Laurel gesprochen hatte, schüttelte die Benommenheit ab. Seine Augen fanden wieder Fokus, und er sah, wie sein Partner seine Schultern zuckte. „Was?“ schnappte er und schob die Hände seines Partners weg. Sein Partner deutete mit dem Daumen auf das Auto, das gerade an ihnen vorbeifuhr. „Was war das? Hast du ihre Dokumente richtig überprüft?“ Der Soldat nickte, unsicher, ob er es wirklich getan hatte. „Ja, das habe ich.“ „Das ging schnell. Wofür waren sie hier? Wir bekommen nicht so viele Besucher, also ist es interessant, neue Leute zu sehen.“ „Einfach nur…“ Der Soldat rieb sich die Schläfen, während er versuchte, sich zu erinnern. „Ich glaube, es war, um an einer Veranstaltung teilzunehmen.“ Sein Partner klopfte ihm auf den Kopf und fragte: „Hast du Gedächtnisverlust? Du hast sie gerade verhört! Warum verhältst du dich so seltsam? Oder hast du den Job nicht richtig gemacht?“ „Ugh! Hör auf damit! Ich habe es getan! Es war nur ein Mädchen in ihren Teenagerjahren! Sie ist hier, um jemanden zu besuchen. Jetzt sei nicht so ernst.“ Obwohl er es abtat, setzte sich der Soldat in eine Ecke und dachte zurück an das Gespräch mit dem Mädchen. Er sprach selbstbewusst mit seinem Partner, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher, als ihm bewusst wurde, dass er sich kaum an das Gespräch oder ihr Gesicht erinnern konnte. Als das Auto die Grenzen überschritt und in das Karmesinroter Mond Rudel einfuhr, wurde Laurel schmerzlich die harte Wahrheit ihres Lebens bewusst. So sehr sie es auch wusste und verstand, es traf sie dennoch wie ein Schlag, jetzt, wo sie wirklich hier war. Sie war abgelehnt worden und wurde ganz allein an einen unbekannten Ort geschickt. Wenn das nicht ausreichte, um sie in Selbstzweifel und angstgetriebenen Schweiß zu versetzen, dann nichts. Als sie dem Ziel näher kamen, umarmte Laurel ihren Körper und fragte sich, was Alpha Denis sich dabei gedacht hatte, sie zum Alpha des Karmesinroter Mond Rudels zu schicken. Wer würde schon jemanden wollen, der sowohl ein gebrochenes Herz als auch einen gebrochenen Körper hatte? Niemand hatte die Zeit oder den Willen, andere zu heilen. Laurel wusste nicht, was sie tun würde, wenn der Alpha Abscheu verspürte, als er sie sah. Was, wenn er sie aus dem Rudel warf? Wohin könnte sie dann gehen? Vielleicht, weil Laurel in ihrem Leben nie wirklich positive Momente erlebt hatte, konnte ihr Verstand sich keine guten Szenarien für ihre Zukunft ausmalen. Der Verstand erschafft, was er kennt. Laurel kannte nur schlechte Dinge. Es war also nicht überraschend, dass sie das Schlimmste befürchtete. Der Fahrer fuhr besonders vorsichtig, als sie das Rudel betraten. Die breiten Straßen und die Menschen auf den Gehwegen wirkten vertraut, aber dennoch anders als im Silberner Mond Rudel. Die Menschen im Karmesinroter Mond Rudel strahlten eine andere Energie aus. Laurel konnte es aus der Ferne spüren. Das Karmesinroter Mond Rudel war auch größer. Es war kaum fair, die beiden Rudel in irgendeiner Hinsicht zu vergleichen. Das Karmesinroter Mond Rudel war zweifellos in jeder Hinsicht überlegen.
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