Kapitel 5: Die Reisetasche

1502 Words
An diesem Nachmittag kam Alpha Denis für ein weiteres Treffen zurück. Laurel konnte erahnen, worüber sie sprachen, aber diesmal war es Alpha Denis, der mit Sorgenfalten auf der Stirn und einem immer tiefer werdenden Stirnrunzeln erschien. Als Laurel den Kaffee brachte, griff Ana unhöflich nach der Tasse und verschüttete „unabsichtlich“ den heißen Kaffee auf Laurels Handrücken. Laurel zischte vor Schmerz und zog ihre Hand sofort zurück. Alpha Denis bemerkte Laurel, und seine Augen funkelten. Nachdem sie gegangen war, wurde sein Tonfall deutlich enthusiastischer, als er einen weiteren Vorschlag machte. Am Abend, nachdem Alpha Denis gegangen war, wurde Laurel von Ana gerufen. Ana schien in einer fröhlichen Stimmung zu sein, was Laurel bis zu einem gewissen Grad verängstigte. Oft bedeutete es, wenn Ana glücklich war, dass etwas in Laurels Leben schiefgehen würde. „Ja?“ Laurel stand vor Ana, die Hände gefaltet und den Kopf leicht gesenkt. Ana musterte sie von oben bis unten, bevor sie sprach: „Ich habe eine wichtige Aufgabe für dich. Du kannst nicht nein sagen.“ Laurels Herz zog sich zusammen. Eine unerklärliche Angst kroch in ihr hoch, während sie auf das wartete, was Ana als Nächstes sagen würde. Und wie erwartet sollte sich ihr Leben bald dramatisch ändern. „Alpha Denis hat vor Kurzem die Alpha-Position übernommen, und es ist extrem wichtig, Beziehungen zu anderen mächtigen Rudeln auf der ganzen Welt aufzubauen“, begann Ana. „Um eine bessere Beziehung zum Karmesinroter Mond Rudel zu haben, will er eine Frau als ‚Ehefrau‘ an den dortigen Alpha schicken. Zuerst wollte er Ashley als potenzielle Braut vorschlagen, weil sie das perfekte Aussehen und die richtige Persönlichkeit hat.“ „Allerdings, wie du weißt, hat Ashley abgelehnt.“ Ana hatte ein hämisches Grinsen auf den Lippen, als sie fortfuhr: „Zum Glück hat Alpha Denis dir die Gelegenheit gegeben, diese wichtige Rolle zu übernehmen.“ Laurels Augen weiteten sich vor Schock. Was? Wichtige Rolle? „Du wirst morgen zum Karmesinroter Mond Rudel geschickt. Du wirst alles tun, um dich mit dem dortigen Alpha gut zu verstehen und Alpha Denis dabei zu helfen, gute Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Du wirst alles tun, was er von dir verlangt.“ Laurel konnte ihren Ohren nicht trauen. Einen Alpha heiraten? Den gleichen Alpha, den alle als Biest bezeichneten? Laurel hatte das Gefühl, von einer Hölle in die nächste gestoßen zu werden. Es reichte nicht, sie hier zu quälen, jetzt wollten sie sie zu jemand anderem schicken, der das für sie übernehmen würde. Aber Laurel hatte kein Mitspracherecht. Ana hatte ihr von Anfang an klargemacht, dass sie nicht gefragt wurde, sondern informiert. Laurel musste sich fügen. Nein, es spielte keine Rolle, ob sie zustimmte oder nicht. Es war bereits beschlossen. Laurel würde am nächsten Tag abreisen. Sie gaben ihr nicht einmal Zeit, sich vorzubereiten. Die Rolle, die Ashley zugedacht war, wurde ihr aufgedrängt, weil Ashley sie nicht wollte. Dieses eine Gespräch mit Alpha Denis hatte ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Ana befahl ihr direkt, alles zu packen, was sie mitnehmen wollte. Laurel konnte nichts sagen. Sie ging schweigend zurück auf den Dachboden und begann, die wenigen Kleider, die sie hatte, zu falten. Währenddessen konnte sie kaum fassen, wie schlecht ihr Glück wirklich war. Gerade als Laurel dachte, es könnte nicht schlimmer werden, fand das Leben eine neue, kreative Art, ihr das Gegenteil zu beweisen. Ihr Gefährte hatte sie abgelehnt, und das vor dem gesamten Rudel, und als ob das nicht genug wäre, sollte sie nun auch noch innerhalb weniger Tage an einen weltbekannten, großen, bösen Alpha verschifft werden. Es war wie ein kranker Witz, doch für Laurel war es bittere Realität. Laurel erledigte weiterhin ihre Aufgaben wie immer. Dieses Mal konnte sie Ashleys aufgeregte Schreie hören, als Ana ihr erzählte, dass sie nicht mehr zum Karmesinroter Mond Rudel gehen müsste. Sie erwähnte auch, dass Laurel an ihrer Stelle gehen würde. Ashley war überrascht; das konnte Laurel an der plötzlichen Stille nach den aufgeregten Schreien erkennen. Laurel senkte den Kopf und rührte weiter den Eintopf. Es war wahrscheinlich das letzte Abendessen, das sie für diese Familie zubereiten würde. Danach würde sie das Essen vielleicht für jemand anderen zubereiten, oder wenn sie ihn genug verärgerte, wäre sie vielleicht bald nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu tun. In einem kleinen Winkel von Laurels Herz wünschte sie sich, sie wäre tot. In dieser Nacht hatte Laurel keinen Appetit. Sie griff nach einem Stück trockenem Brot und legte sich auf ihr hartes Bett. Der Nachtmond hing wie ein silbernes Koma am Himmel. Ist sie zu schüchtern, um mir zu begegnen? dachte Laurel, während sie den sich versteckenden Mond betrachtete. In dieser Nacht fand Laurel keinen Schlaf. Ein Grund war, dass sie zu nervös war, um zu schlafen, und der zweite war, dass sie einen unerwarteten Gast in ihrem Zimmer hatte. Es war niemand anderes als Max. Mitten in der Nacht schlich der große junge Mann, der kaum jemals mit Laurel sprach, in ihr Zimmer. Laurel war zu diesem Zeitpunkt hellwach und tat nicht einmal so, als würde sie schlafen. Als sich die Tür öffnete, setzte sie sich wachsam auf. Es war dunkel im Zimmer, und Laurel konnte nicht sehen, wer es war. Da sie dachte, es könnte Ashley oder Ana sein, die wieder einmal ihre Frustrationen an ihr auslassen wollten, spannte sich Laurels Körper an, und ihr Nacken zog sich vor Angst zusammen. Doch die Tür öffnete sich nicht vollständig. Ein leichtes Aufprallgeräusch erschreckte Laurel. Gleich danach schloss sich die Tür langsam wieder. Laurel kroch vorsichtig vom Bett und schaltete das schwache Licht auf dem Dachboden an. Es war nicht hell genug, um den Raum vollständig zu erleuchten, aber es reichte aus, um zu erkennen, was da bei der Tür lag. Es war eine mittelgroße Reisetasche. Dieselbe Tasche, die sie oft bei Max gesehen hatte, wenn er zum Basketballtraining ging. Sein Duft hing noch daran. Warum sollte Max mitten in der Nacht wie ein Dieb in ihr Zimmer kommen, um etwas abzuliefern? Was war in der Tasche? Laurel war neugierig, aber auch vorsichtig. Max hatte sie nie direkt misshandelt und half ihr manchmal sogar mit Ana und Ashley. Ein kleines bisschen Vertrauen war immer noch da, wenn es um Max ging. Kniefallend auf dem Boden öffnete sie vorsichtig den Reißverschluss und schaute hinein. Ihr Herz fühlte sich schwer an, als sie sah, was darin war. Es waren Kleider und ein paar Kapuzenpullover. Laurel musste die Kapuzenpullover nicht anprobieren, um zu wissen, dass sie groß waren und Max gehörten. Und die Kleider? Sie waren ihr sehr vertraut, da sie sie früher oft bei Ashley gesehen hatte. In letzter Zeit hatte Ashley sie nicht mehr getragen, weil sie sagte, sie seien zu alt. Während Laurel darüber nachdachte, warum Max ihr mitten in der Nacht seine und Ashleys alte Kleidung gebracht hatte, flatterte ein Stück Papier aus der Tasche eines schwarzen Kapuzenpullovers. Eine Reihe von Zahlen war darauf gekritzelt, und unter den Zahlen stand eine Nachricht: „Meine Nummer. Ruf an, wenn du etwas brauchst.“ Diese Geste berührte Laurel tief im Herzen. Es fühlte sich so warm und tröstlich an, dass sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Sie saß auf dem Boden, hielt den Kapuzenpullover fest und schluchzte hinein. Es war beruhigend zu wissen, dass da draußen noch jemand war, der antworten würde, wenn sie um Hilfe rief. Obwohl Max nie ein aktiver Helfer im täglichen Leben war, gab es ihr dennoch Trost, weil sie nun an einen fremden Ort gehen musste, wo ihr Leben und Tod ungewiss waren. Hier musste sie sich zumindest keine Sorgen um ihr Leben machen. Im Karmesinroter Mond Rudel konnte sie sich da nicht so sicher sein. Am nächsten Morgen wachte Laurel wie gewohnt auf, machte Frühstück und räumte dann auf wie jeden Tag. Im Vergleich zur letzten Nacht fühlte sie sich am Morgen unerwartet leicht. Weinen half wirklich, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Nachdem alle gefrühstückt hatten, kam Alpha Denis, um ihnen mitzuteilen, dass das Auto, das Laurel zum Karmesinroter Mond Rudel bringen sollte, angekommen war. Alpha Denis war in dieser Hinsicht großzügig, da er arrangiert hatte, dass sein persönlicher Fahrer sie zum Zielort brachte. Laurel ging nach oben und brachte die Reisetasche mit. Sie hatte nur wenige Kleidungsstücke dabei, also packte sie alles in diese Tasche. Außerdem hatte sie ein einziges Bild ihrer Mutter dabei, das ihre Großmutter ihr hinterlassen hatte. In dem Moment, als Ashley die Reisetasche sah, zeigte sie mit dem Finger auf Laurels Gesicht und schrie: „Du hast sie von Max gestohlen!“ Max rollte mit den Augen und sagte: „Ich wollte sie wegwerfen, weil sie alt ist. Ich habe sie ihr gegeben.“ „Warum gibst du sie ihr?“ Ashley verzog das Gesicht vor Ekel. „Etwas, das wir wegwerfen, ist immer noch zu gut für sie!“ Ana hatte wahrscheinlich keine Lust, mit Ashley zu streiten, also fand sie einfach eine Ausrede: „Sie geht zum Karmesinroter Mond Rudel. Sie kann nicht mit einer zerrissenen Tasche dorthin gehen, oder? Das Auto ist da. Los geht's.“
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