Kapitel 1: Ein Freak
An diesem Tag lag etwas in der Luft, das sich nicht richtig anfühlte. Vielleicht war es der bedeckte Himmel oder die Kälte, die sich in der Luft hielt, die Laurel dazu brachte, nur widerwillig ihr hartes Bett zu verlassen, obwohl ihr dadurch ihr Platz verloren gehen könnte.
Die dünne Decke, die sich um ihren schmalen Körper schlang, wirkte wie eine Barriere, die sie von der Welt abschirmte. Auch wenn sie kaum Schutz bot, vermittelte sie ein dringend benötigtes Gefühl von Sicherheit, wenn alles andere gegen sie war.
Mit trüben, blauen Augen lag Laurel im Bett, bis der Wecker klingelte. Nun gab es keinen Grund mehr, liegen zu bleiben. Der Tag hatte begonnen.
Laurel kroch aus der Decke, faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie an den Rand des Einzelbettes. Die Matratze war kaum als solche zu bezeichnen, und jede Bewegung ließ sie knarren.
Als diejenige, die den größten Teil ihres Lebens darauf geschlafen hatte, musste Laurel zugeben, dass die Möbel in ihrem Zimmer überraschend lange durchgehalten hatten, trotz ihrer bescheidenen Qualität.
Die alten, mehrfach geflickten Kleider hingen lose an ihrem schmalen Körper wie ein Sack Kartoffeln. Laurel blickte in den Spiegel, um die Schäden der letzten Nacht zu begutachten.
Eine bittere Suppe der Gewalt hatte ihr sichtbare Blutergüsse an den Armen hinterlassen. Die Stockhiebe waren rot und blau und zogen sich von den Handflächen bis zu den Schultern, wo die Ärmel hochgekrempelt waren.
Ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern, holte Laurel den Verbandskasten aus dem Schrank. Inzwischen war es zu einem täglichen Ritual geworden. Die Salbentuben leerten sich schnell und mussten immer wieder neu gekauft werden.
Laurel trug die Creme auf ihrem ganzen Körper auf. Obwohl die Blutergüsse schlimm aussahen, taten sie nicht mehr so weh wie in der Nacht zuvor. Vielleicht hatte die Göttin Mitleid mit ihrem armseligen Leben und verlieh ihr eine außergewöhnliche Heilungsfähigkeit.
Es heilte ihre Wunden nicht über Nacht, aber die Schläge mit den Stöcken taten nur eine Nacht lang weh und hinterließen danach lediglich nutzlose Blutergüsse. Natürlich brachte es sie auch immer wieder an den Rand der Erschöpfung. Es war ein ständiges Geben und Nehmen, bei dem Laurel immer auf der Verliererseite stand. Es war fast schon ein makabrer Witz.
Nachdem sie die Medizin aufgetragen hatte, bändigte Laurel ihre mittellangen braunen Haare aus ihrem Gesicht. Es war Zeit, wieder in den alltäglichen Trott zurückzukehren.
Mit leichten Schritten stieg Laurel aus dem Dachboden hinunter in die Küche. Es war noch viel zu früh, um sich für die Schule fertig zu machen.
Während alle anderen noch schliefen, wusch Laurel das Geschirr vom Vorabend ab, das wegen der Prügel nicht mehr abgewaschen worden war und einfach in den Dachboden geworfen worden war.
Dann kam ihr Lieblingspart: das Frühstück zuzubereiten.
Laurel arbeitete langsam, doch alles, was sie tat, war äußerst mechanisch – außer dem Kochen. Sie bemühte sich stets, darin besser zu werden, auch wenn sie keine Anleitung hatte.
Ohne Anleitung waren Fehler unvermeidlich. Doch genau diese Fehler brachten ihr immer wieder Prügel ein. Also beschloss sie, noch sorgfältiger zu sein und ihre Fähigkeiten zu perfektionieren.
Als Laurel den Pfannkuchenteig in die Pfanne goss, erfüllte das Zischen die gesamte Küche, und der süße Duft der Pfannkuchen durchzog das Haus und brachte den Morgen in die sonst so trostlose Atmosphäre.
„Mama! Wo ist mein rosa Hemd?!“ Ashleys Schreie ließen das Haus erzittern.
Laurel hatte kein Interesse daran, ihre Halbschwester zu belauschen, und sie war auch nicht besonders neugierig auf das Leben ihres Halbbruders. Ihre Stiefmutter hatte ihr schon früh klargemacht, dass sie nicht zur Familie gehörte. Sie waren eine Familie – Laurel war eine Außenseiterin.
Als Kind akzeptierte Laurel das leicht, und als sie älter wurde, hatte sie nichts mehr dazu zu sagen. Tatsächlich wollte sie gar nicht Teil dieser Familie sein, die sie so sehr verachtete.
Es wäre schön gewesen, eine liebevolle Familie zu haben, aber man kann nicht immer das bekommen, was man sich wünscht. Laurel hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, doch ihr Herz schmerzte immer noch, wenn Ashley nach den kleinsten Dingen fragte und Ana auftauchte, um ihren Wunsch zu erfüllen – wie die liebevolle Mutter, die sie war.
Laurel hatte ihre Mutter nie kennengelernt.
Die Frau, die sie zur Welt brachte, starb am selben Tag. Von Trauer überwältigt, zeigte ihr Vater sich selten. Irgendwann brachte er eine Stiefmutter nach Hause und half, zwei Halbgeschwister für Laurel zu schaffen. Dann verschwand er wieder, tauchte nur gelegentlich auf.
Es war nicht falsch zu sagen, dass er sie im Stich gelassen hatte. Und als sie herausfand, dass er seine Familie jeden Tag anrief und bei jedem seiner Besuche Geschenke mitbrachte, wusste sie, dass er sie genauso hasste, wie sie ihn, wenn nicht sogar mehr.
Laurel war nicht wütend. Sie fühlte sich schuldig, ihr eigenes Leben ruiniert zu haben. Es war ihr Schicksal, und niemand konnte ändern, was für ihn bestimmt war. Daher gab Laurel den Kampf schon früh auf.
Pfannkuchen um Pfannkuchen wendend, stapelte Laurel sie auf dem Servierteller und deckte den Frühstückstisch mit all den Dingen, die ihre Halbschwester Ashley mochte.
Der kleine Tisch mit nur vier Stühlen hatte einen leeren Platz, während Ashley, ihre Stiefmutter Ana und ihr Halbbruder Max frühstückten. Laurel zog es vor, sich so weit wie möglich aus ihrem Blickfeld zu halten, um Ärger zu vermeiden.
Als Ashley und Max zur Schule gegangen waren, fand Laurel endlich die Zeit, selbst etwas zu essen. Ihr Magen knurrte laut, doch sie durfte das Essen nicht anrühren, bevor alle Arbeiten erledigt waren. Nachdem Ana alles inspiziert hatte, schnappte sie sich die Reste und ging zurück auf den Dachboden, um zu essen.
„Wage es ja nicht, dir Zeit zu lassen! Räum Ashleys Zimmer auf, sobald du fertig bist!“ Anas harscher Befehl ließ Laurel zusammenzucken.
Beinahe hätte sie den Teller mit den Pfannkuchen fallen lassen. Es waren jämmerliche zwei trockene Pfannkuchen darauf, und wenn sie weg waren, musste Laurel den halben Tag ohne Essen auskommen.
Vorsichtig hielt sie den Teller, schloss die Tür zum Dachboden und atmete tief aus. In der Nähe von Ana und Ashley zu sein, war wie auf Nadeln zu gehen.
Laurel war dieses Jahr einundzwanzig geworden. Sie hatte die Highschool vor zwei Jahren mit guten Noten abgeschlossen. Wäre sie den normalen Weg wie ihre Klassenkameraden gegangen, würde sie jetzt ein Studium absolvieren, um ihre Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich zu vertiefen. Doch dieses Privileg hatte sie nicht.
Wie hätte Ana Laurel jemals aus ihren Fängen lassen und ihr ein freies Leben ermöglichen können? Außerdem kostete ein Studium Geld.
Deshalb, während Ashley schon vor ihrem Abschluss nach guten Colleges suchte, wurde Laurel zu Hause behalten, um die Kosten für eine Haushälterin zu sparen.
Die trockenen Pfannkuchen wurden mit Wasser heruntergeschluckt. Es war nicht besonders appetitlich, aber es erfüllte seinen Zweck, ihren Magen zu füllen. Es war Ashleys Lieblingsfrühstück, also war es ein fester Bestandteil im Haushalt.
Inzwischen hatte sich Laurel an den milden Geschmack der trockenen Pfannkuchen gewöhnt.
Es dauerte den ganzen Nachmittag, um Ashleys unordentliches Zimmer aufzuräumen. Das Zimmer im Prinzessinnen-Stil hatte sich kaum verändert, seit Ashley sechs Jahre alt war. Abgesehen von der Wiege, die durch ein Bett ersetzt wurde, war alles noch genauso rosa wie vor dreizehn Jahren.
Als sie mit einem Müllsack das Zimmer verließ, stieß sie zufällig auf Ashley, die gerade von der Schule zurückgekehrt war. Sie war im letzten Jahr der Highschool, und der Druck, der auf sie lastete, machte sie verständlicherweise gereizt.
Laurel dachte, sie könnte sich einfach umdrehen und leise verschwinden, ohne Ashley zu stören, da diese bereits verärgert aussah, und es für Laurel nicht ratsam wäre, sich in Ashleys Nähe aufzuhalten.
„Hey du!“ Ashley entdeckte sie trotzdem und verzog das Gesicht.
Laurels Körper spannte sich vor Angst an. Es war eine körperliche Reaktion nach vielen Jahren schlechter Behandlung. Inzwischen war es so, dass sie jedes Mal, wenn Ana oder Ashley sie riefen, so reagierte – aus Angst, erneut geschlagen zu werden.
Meistens lag sie damit nicht falsch.
Laurel ging steif auf Ashley zu und blieb nur ein paar Schritte entfernt stehen, wobei sie es nicht wagte, ihren Blick zu heben. Sie war die ältere Schwester, aber ihre Haltung glich der einer unterwürfigen Dienerin.
Ashley warf einen schnellen Blick auf den Müllsack und schnaubte, bevor sie ihr eine heftige Ohrfeige verpasste.
Laurel hatte unzählige Wunden an jedem Teil ihres Körpers erlitten. Im Laufe der Jahre war ihr Körper oft gebrochen und wieder geheilt worden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr Körper irreversible Schäden davontrug.
Durch den Tritt auf die Hand, die den Müllsack hielt, zischte Laurel vor Schmerz. Sie hatte gerade eine harte Nacht hinter sich, in der sie fast ihr Leben geopfert hatte, um sich selbst zu heilen, und jetzt erneut geschlagen zu werden, war nicht das Beste für sie. Aber sie hatte keine Wahl.
„Hässliche Schlampe!“ Ashley fauchte. „Wer hat dir erlaubt, ohne meine Erlaubnis in mein Zimmer zu gehen?! Was hast du gestohlen?!“
Der Müllsack war heruntergefallen und sein Inhalt hatte sich auf dem Boden verstreut. Eine Hand hielt die andere vor Schmerz, und Laurel biss die Zähne zusammen, um ruhig zu bleiben, während sie antwortete.
„Ich wurde beauftragt, das Zimmer zu reinigen.“
„Du wagst es, mir zu widersprechen?!“ Ashley schrie unvernünftig.
Laurel wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu erklären. Egal, was sie sagte, wenn Ashley oder Ana in der Stimmung waren, sie zu schlagen, würden sie es tun, egal, was sie sagte.
Es sei denn, sie lag am Boden und atmete kaum noch oder sie hatten genug davon, ihren Frust an ihr auszulassen, würden sie nicht aufhören, egal was.
„Ashley! Hast du nicht nächste Woche zehn Aufgaben abzugeben?! Warum verschwendest du deine Zeit mit dieser Missgeburt?!“
Eine männliche Stimme rief aus dem Zimmer neben Ashleys. Durch den schmalen Türspalt konnte Laurel den Rücken einer großen Gestalt erkennen. Es war ihr Halbbruder Max.
Ashley atmete schwer vor Wut. Sie schien in wirklich schlechter Laune zu sein, da sie sogar Max' Warnung ignorierte.
„Ashley! Ist dir dein Abschluss nicht mehr wichtig?!“ Max rief erneut, ohne sich umzudrehen, um sie anzusehen.
Laurel warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor der kleine Spalt mit einem Klick geschlossen wurde. Ashley bewegte sich schließlich. Sie entschied sich, auf Max zu hören und aufzugeben, aber nicht, bevor sie noch einmal zuschlug.
Eine heftige Ohrfeige traf Laurels Wange, sofort gefolgt von einem Kribbeln auf der gesamten Hälfte ihres Gesichts und einer Taubheit.
Laurel blieb an Ort und Stelle, bis Ashley die Tür zu ihrem Zimmer schloss. Dann bückte sie sich, um das Durcheinander auf dem Boden aufzuräumen.
Es war eigentlich gar nicht so schlimm. Wäre Max nicht dazwischengegangen, hätte Ashley sicherlich mehr Schaden angerichtet als nur eine Ohrfeige.
Max' Existenz war wie ein kleiner Segen für Laurel. Er nahm nie aktiv daran teil, ihr Leben zur Hölle zu machen, wie es seine Mutter und Schwester taten. Manchmal tat er Dinge wie diese, und es half Laurel, eine weitere Nacht voller Schmerzen zu vermeiden.
Laurel war ihm für seine Hilfe dankbar.
Später am Abend, als Laurel noch aufräumen musste, bevor sie ins Bett ging, hörte sie, wie Ashley mit ihrer Mutter über einen Ausflug mit ihren Freunden sprach. Sie versuchte, Ana zu überreden, ihr zu erlauben, bis spät draußen zu bleiben.
Es war schade, dass Ana ihre Tochter zu sehr beschützte und nicht erlaubte, dass sie länger als nötig draußen blieb. Mit neunzehn Jahren hatte Ashley nie die Erlaubnis bekommen, die Nacht bei ihren Freunden zu verbringen, und das frustrierte sie sehr.
In einem Versuch, die Erlaubnis um jeden Preis zu bekommen, entschied sich Ashley, etwas Unerwartetes zu tun. Es war nicht nur für Ana unerwartet, sondern auch für Laurel.
„Ich nehme Laurel mit, okay?!“ Ashley jammerte so laut, dass Laurel es selbst in der Küche hören konnte. Ihre Bewegung, die Theke abzuwischen, hielt schockiert inne.
„Was könnte sie tun, wenn dir etwas passiert?“ Ana spottete verächtlich. „Sie ist nutzlos. Kann sie sich überhaupt noch verwandeln?“
Laurel senkte den Kopf und wischte weiter die Theke ab. Ana hatte recht. Sie war nicht mehr in der Lage, sich zu verwandeln, weil die ganze Kraft ihres Wolfs in die Heilung ihres Körpers floss. Woher sollte sie die Energie nehmen, um sich zu verwandeln?
Das würde ihren Tod bedeuten.
Doch Ashley ließ nicht locker. Irgendwie schaffte sie es, Ana zu überzeugen. Als Laurel gerade in ihr Zimmer auf dem Dachboden gehen wollte, rief Ana sie und informierte sie darüber, dass sie Ashley und ihre Freunde bei einem Ausflug begleiten würde und ihre Aufgabe darin bestünde, alles zu tun, was Ashley von ihr verlangte.
Laurel hatte wirklich keine Wahl. Mit einem stummen Nicken ging sie zurück in ihr Zimmer, um eine kleine Tasche mit einem Wechselkleid zu packen.