Marie schaute auf die kleinen Blutpfützen, die zum Klubhaus führten, und seufzte. Was haben die Jungs jetzt schon wieder angestellt? Sie schnappte sich ihre Arzttasche und lief schnell zum Klubhaus. Das Gebäude wirkte am helllichten Tag recht unscheinbar – das Klubhaus sah aus wie eine Mischung aus Bar und Scheune – und war außen bedeckt mit Brandflecken sowie Blut, Kotze und anderen widerlichen Körperflüssigkeiten, die man außerhalb einer Biker-Bar erwarten würde. Es erfüllte kaum die hygienischen Ansprüche, die sie beim Nähen von Wunden eigentlich hatte, aber die Eisenklauen versuchten nun mal Krankenhäuser zu meiden, wann immer es ging.
„Doktor!“ Big Joes Stimme hallte durch die leere Bar, als Marie über die Schwelle trat. „Hier drüben!“
Natürlich ist es Ned. Marie musste sich immer gegen den Drang wehren, den schmächtigen jungen Mann unnötig bemuttern zu wollen. Big Joe und Emma hatten Ned auf einen der Billardtische bei der Bar gelegt. Er blutete aus mehreren tiefen Schnittwunden, stöhnte und wand sich und verteilte damit Blut auf der samtigen grünen Oberfläche des Tisches. Armer, kleiner Kerl.
Marie machte sich gleich ans Werk: Sie schnitt Ned die verbliebenen Kleider vom Leib und desinfizierte jede einzelne Wunde, bevor sie sie nähte. Sieht schon wieder nach einem Angriff mit verzauberten Klingen aus. Sie seufzte. Es schien so, als seien in letzter Zeit mehr und mehr von diesen verfluchten Dingern im Umlauf.
Alec, Big Joe und Emma standen um sie herum während sie arbeitete. Die niedrig hängende Leuchtstoffröhre knisterte über Marie, während sie Ned zusammenflickte. Es störte sie nicht; sie war daran gewöhnt, ihre Freunde unter Bedingungen, die alles andere als ideal waren, medizinisch zu versorgen. Ein Billardtisch war weit besser als das eine Mal, als sie Emma mitten in der Wüste verarzten musste, während der umherfliegende Sand in ihre Wunden wehte.
„Ich weiß ja nicht, Doktor. Er sieht nicht so gut aus.“ Big Joe verdeckte das Licht, als er sich über ihre Schulter beugte.
„Wir sollten ihn wahrscheinlich einschläfern“, scherzte Emma und schob Big Joe aus dem Weg, damit Marie wieder sehen konnte. „Sie sagen, es sei so, als würde man einschlafen.“
„Er ist zäh. Er wird uns wahrscheinlich alle überleben.“ Ein blutbefleckter, asiatisch aussehender Mann mit langen Rastazöpfen, den sie nicht kannte, kam mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf sie zu. Sie hatte keine Ahnung, was er hier tat oder wie er in diesen Kampf verwickelt worden war, aber sie hoffte, die Klauen würden ihn, zumindest für eine Weile, behalten. Er war wunderschön. Die Art und Weise, wie er sie ansah. Von ihren runden Kurven, über die Flecken auf ihrem Krankenhauskittel, bis hin zu ihrem leicht verschmierten Augen-Make-up. Sie bekam l**t, sich an seinem Körper zu reiben.
Ned stieß vor Schmerz einen kurzen Schrei aus.
Marie konnte fühlen, wie ihre Wangen rot anliefen, als sie merkte, dass sie beim letzten Stich versehentlich an der Naht gezogen hatte, während sie den Neuankömmling betrachtet hatte. Verdammt nochmal. Sie hätte nie gedacht, dass l**t-auf-den-ersten-Blick so überwältigend sein konnte. Er stand leicht zur Seite gelehnt, als ob ihm seine Seite wehtat. Aber das meiste Blut an ihm schien nicht sein eigenes zu sein. Sogar blutverschmiert und möglicherweise verletzt, ließen sein offensichtliches Selbstbewusstsein und sein Lächeln sie dahinschmelzen. Die Muskeln, die sie durch die Risse in seiner Kleidung sehen konnte, wiesen auf einen nahezu perfekten, männlichen Körper hin.
„Doktor, das hier ist Dylan Masters. Dylan, das hier ist die Frau Doktor. Pass bloß auf, manchmal stickt sie uns ihre Initialen ein“, lachte Alec.
„Eigentlich heiße ich Marie.“ Sie lächelte und zog einen Latexhandschuh aus, um seine Hand zu schütteln. Es war als durchführe sie ein kleiner Stromschlag, als sie seine Haut berührte. „Und ich mache das nur, wenn Alec mich wütend macht.“ Seine Hände waren, verglichen mit ihren, riesig, und sie konnte raue Schwielen an seiner Handinnenfläche spüren. Ein harter Arbeiter. Gut zu wissen.
Sie versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren, als sie sich vorstellte, wie er wohl diese Schwielen bekommen hatte: Dylan als Cowboy, wie er mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd saß, und mit dem Lasso Kälber einfing; Dylan als Bauer, wie er unter der heißen Sonne schwitzend das Land bestellte und Leben aus der Erde wachsen ließ; Dylan als Feuerwehrmann, sein Hemd zu Fetzen verbrannt, wie er ein Kätzchen aus einem Feuerinferno rettete.
„Doktor? Er wird die Hand wahrscheinlich noch brauchen“, flüsterte Emma mit einem wissenden Lächeln.
„Was? Ach so.“ Marie ließ die Hand los und kehrte widerwillig in die Realität zurück.
„Also, ich habe mich nicht beschwert.“ Dylan ging zur Bar. Sein Blick schien merkwürdig hungrig, als er sie ansah. Sie fühlte, wie eine angenehme Wärme durch ihren ganzen Körper strömte. Doch sie zog sich einen neuen Handschuh an und widmete Ned erneut ihre ganze Aufmerksamkeit.
„Was genau ist denn da draußen eigentlich passiert?“ Marie zog misstrauisch eine Augenbraue hoch und blickte Big Joe an, während sie die Reste von Fäden und Mullbinden vom Tisch räumte.
„Na, du kennst doch Ned.“ Big Joe lehnte sich lässig gegen eine Säule.
„Er ist so ein Tollpatsch.“ Emma nahm einen Schluck von ihrem dampfenden Kaffee.
„Riesentollpatsch“, grinste Big Joe. „Er ist gestolpert und hingefallen.“
„Aha.“ Marie zog ihre Handschuhe aus und warf sie in den Mülleimer. „Da ist er aber ziemlich unglücklich gefallen. Wie wahrscheinlich ist es wohl, dass Ned sich am ganzen Körper so schneidet, dass es fast so aussieht, als sei er in eine Messerstecherei verwickelt gewesen?“
„Ziemlich unwahrscheinlich“, wand Emma ein. “Wir sollten ihn dazu bringen, heute ein Lotterielos zu kaufen.“
Marie räusperte sich und wartete, während sie ihr bestes verärgertes Schuldirektorinnen-Gesicht aufgesetzt hatte. Es wurde still im Raum.
„Es war meine Schuld.“ Dylan brach das Schweigen. „Ein paar riesige Schläger des Rats lauerten uns auf und...“
„Und wir haben dementsprechend reagiert.“ Emma streckte sich grinsend. „Diese verdammten Idioten waren allerdings mit verzauberten Klingen ausgestattet.“ Sie half Ned vom Billardtisch hinunter. „Das versaut einem den ganzen Spaß.“
„Aber dafür verbringen wir jetzt Zeit zusammen.“ Marie holte einen glänzenden, grünen Apfellutscher hervor und gab ihn Ned. Er steckte ihn sich sofort in den Mund. „Das wird schon wieder, mein Junge.“ Sie sammelte den restlichen Mullverband und das Klebeband zusammen und drehte sich zu Alec um. „Wir müssen noch etwas Geschäftliches besprechen.“
Geschäftlich, wie Marie es immer nannte, war der Teil ihrer Arbeit, den sie am meisten liebte. Als staatlich geprüfte Krankenschwester verbrachte sie ihre Zeit damit, Menschen mit den modernsten Technologien und zugelassenen Medikamenten zu heilen. Aber manchmal war das nicht genug.
„Selbst mit dem heutigen Zwischenfall waren wir in der Lage, fünfzig Patienten mit Drachenstaub zu versorgen“, sagte Alec, während er seinen Laptop öffnete.
Marie zuckte die Achseln. „Es ist ein Anfang.“ Sie erinnerte sich daran, als sie selbst vor fünf Jahren an Krebs erkrankt war. Er hatte sich schneller ausgebreitet, als die Ärzte ihn entfernen konnten. Sie konnte sich kaum bewegen, war nicht in der Lage zu essen und verbrachte ihre Zeit damit, an die Decke ihres Zimmers zu starren. Sie war gelähmt vom Schmerz und fragte sich, wann der Tod wohl endlich käme.
„Fünfzig Leute?“, fragte Dylan, während er Alec über die Schulter schaute. „Wie habt ihr es geschafft, so lange unerkannt zu bleiben?“ Marie war sich nicht sicher, ob es am Licht lag, aber Dylan sah nun blasser aus als vorher.
„Wir waren sehr vorsichtig“, sagte Alec, während sich seine zarten Lippen zu einem Lächeln kräuselten.
Damals, als sie die Eisenklauen kennengelernt hatte, war der Klub nicht so vorsichtig gewesen. Sie hatten keine Kontakte im Krankenhaus, die ihnen Tipps geben konnten. Darum musste Big Joe durch die Onkologische Station wandern, um Leute zu finden, die vom Drachenstaub profitieren würden. Eines Morgens war er in ihr Zimmer geschlichen und hatte sie überzeugt, eine neue Behandlungsmethode mit einem ‚speziellen’ neuen Medikament, wie er es nannte, auszuprobieren. Da sie nichts zu verlieren hatte, stimmte Marie zu und trank das mit Drachenstaub versetzte Glas Wasser, das er ihr reichte. Sie sagte sich immer, wenn er ihr damals erzählt hätte, dass es geriebene Drachenschuppen waren, die sie da trank, dann hätte sie das Glas gegen die Wand gefeuert. Doch tatsächlich hätte sie, wenn ihr jemand versprochen hätte, dass es ihre Schmerzen lindern würde, in ihrer Situation sogar Eidechsenaugen gegessen,
„Es ist die Sache wert. Denk an all die Menschen, die von Drachenstaub profitieren könnten. Der Rat wird den Menschen niemals helfen, da er zu viel Angst davor hat, dass die Menschen die Drachen jagen könnten, sollte unser Geheimnis jemals ans Licht kommen. Sie helfen Menschen nicht, sondern lassen stattdessen unschuldige Menschen sterben – aus Angst. Wir sind besser als das.“ Big Joe wandte sich zu Alec. „Wie viele Leute standen noch auf der Liste, die heute keine Gelegenheit hatten ihre Ware abzuholen, weil die Schläger aufgetaucht sind?“
Alec zuckte nur mit den Achseln. Seine starke Brust lugte aus der Jacke hervor.
Marie schaute in die düsteren Gesichter um sie herum. Sogar Emma, die selten Gefühle außer Wut zeigte, sah traurig aus.
„Wir verteilen bei der nächsten Ausgabe einfach mehr, ja?“, fragte Ned, dessen Stimme jetzt besonders jung und unschuldig klang.
Big Joe lachte schallend und zerzauste Neds Haar. „Ja, Junge. Das werden wir. Wir dürfen keine Angst davor haben, allen zu helfen.“ Marie sah zu Dylan hinüber und schaute weg, als sie das Staunen in seinem Gesicht sah. Sie hatten mit den Eisenklauen schon so viel Zeit verbracht, dass sie manchmal vergaß, wie ungewöhnlich sie doch waren.
„Ned, geh und mache Inventur“, sagte Alec. Marie wollte zuerst protestieren, doch Ned strahlte vor Stolz, dass ihm eine Aufgabe anvertraut worden war, und eilte davon. Das liebe ich so an diesen Leuten: ihren grenzenlosen Optimismus, lächelte Marie.
Ihr Optimismus hatte sie gerettet. Alle Krankenhausangestellten hatten sie bereits abgeschrieben gehabt. Sie widmeten ihre Aufmerksamkeit und Ressourcen anderen Patienten und warteten nur darauf, dass sie starb. Sie versuchten es ihr „so bequem wie möglich zu machen“. Aber Woche für Woche kam Big Joe vorbei und wartete geduldig, bis sie den letzten Tropfen ihrer neuen „Medizin“ ausgetrunken hatte. Alle hatten sie aufgegeben, nur nicht Big Joe und seine Familie verstoßener Drachenwandler.
Nach der ersten Woche kehrte Maries Appetit zurück und sie futterte sich mit Begeisterung durch das unspektakuläre Krankenhaus-Menü. Nach der zweiten Woche waren die Ärzte über ihre schnelle Genesung sprachlos und stritten wie Schulkinder darüber, wer sie denn nun geheilt hätte. Sie schaute sich um und blickte in die nun wieder lächelnden Gesichter der Eisenklauen. Sie würde diese Schuld niemals begleichen können. Kaum dass sie wieder laufen konnte, folgte sie Big Joe vom Krankenhaus aus und entdeckte so den Klub, mit all seinen tätowierten und vernarbten Mitgliedern. Marie schwor ihnen sofort die Treue. Sie konnte sich noch gut an ihre verdutzten Gesichter erinnern. Alle rieten ihr, dass sie gehen und ihr Leben genießen sollte, das sie ja schließloch beinahe verloren hätte. Es war schließlich Emma, die erkannte, was Marie zum Klub beisteuern konnte: Sie hatte das medizinische Wissen, um Patienten zu identifizieren, bot ihnen die Möglichkeit in die nur schwer zugängliche Welt der Medizin einzudringen und konnte ihnen auf Abruf als Sanitäter zur Seite stehen, wenn sie wieder mal ein paar Kratzer abbekamen.
„Bist du sicher, dass das in Ordnung ist, Marie?“, fragte Caesar, der Ned nachsah. Marie lächelte. Emma und Big Joe machten vielleicht Witze über Neds Verletzungen, doch Caesar war immer der Einfühlsame im Klub gewesen. Er war auch immer derjenige, der sie manchmal bei ihrem richtigen Namen nannte, statt des Ehrentitels „Doktor“ zu benutzen, wie der Rest der Bande.
„Es sieht so aus, als ob der kleine Ned trotz alledem am kommenden Samstag beim Konzert tanzen wird“, sagte Emma und stieß dabei Big Joe mit dem Ellbogen in die Seite.
„Ja, klar, mit seinen beiden linken Füßen“, sagte Big Joe, während er ihren gemeinsamen Gedanken mit einem Lächeln aussprach, was der Rest der Gruppe einfach ignorierte.
Marie kicherte und unterdrückte den Drang, die beiden damit aufzuziehen, wie süß sie doch waren. „Stellt bitte sicher, dass er sich heute Nacht für ein paar Stunden in seine Drachenform verwandelt. Das sollte die Heilung beschleunigen“, sagte sie. „Und reduziert diese Messerstechereien; die sind schlecht für eure Gesundheit.“
Sie zeigte mit erhobenem Zeigefinger auf jeden einzelnen von ihnen. Big Joe und Emma sahen leicht genervt aus, während Alec amüsiert schien, und Caesar unverschämt grinste. Sie schaute sich nach Dylan um und fühlte Panik in sich aufsteigen, als sie ihn sah. Dylan war auf dem schmutzigen Zementboden hinter der Gruppe zusammengebrochen. Sein Gesicht war aschfahl, seine Hände waren mit Blut bedeckt und sein Hemd war rot verfärbt. Maries Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie zu ihm eilte.