Kein Ausweg

1684 Words
Ich rannte blindlinks über den Hof. Meine Augen begannen zu brennen und ich bemerkte verwirrt, dass ich angefangen hatte zu weinen. Unaufhörlich flossen mir salzige Tränen über meine Wangen und tropften auf den Boden hinunter. Mein Atem ging schwer und mein Herz schmerzte, als würde man es mit einem Messer bearbeiten. Warum musste mir das alles auch nur so nahe gehen? Was interessierte mich schon, was diese dämlichen Idioten von mir dachten?! Ich sollte eher gesagt froh darüber sein, dass sie mich nicht als ihresgleichen betrachteten. Denn das wäre eine ziemliche Beleidigung gewesen. Doch irgendetwas in mir schrie laut vor Schmerz und ließ sich nicht beruhigen, wie sehr ich es auch versuchte. Schniefend startete ich einen vergeblichen Versuch wieder die Kontrolle über meinen Körper zu gewinnen. Das konnte doch wohl nicht so schwer sein! Aber irgendwie wollte es mir beim besten Willen nicht gelingen. Ich war völlig fertig mit den Nerven. Den Blick fest auf den Boden geheftet, stürzte ich in das Sonnenblumenhaus hinein und übersah so ein Mädchen, das gerade zur Tür hinaus wollte. Ich stieß mit der Schulter heftig gegen sie und musste mich bemühen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. "Kannst du nicht aufpassen?!", stieß das Mädchen überrascht und verärgert zugleich hervor und warf mir einen verwirrten Seitenblick zu. Ich blieb jedoch keine Sekunde lang stehen, sondern eilte mit einer gemurmelten Entscheidung auf den Lippen so schnell ich konnte weiter. Mir war es dabei auch völlig egal, was die anderen von mir denken mochten. Sollten sie sich doch ihre Mäuler über die Neue zerreißen, die gleich am ersten Tag heulend durch die Gegend rannte. Sollten sie doch ihren Spaß haben! Dann passierte hier wenigstens einmal etwas Spannendes. Ich stolperte die Treppe zu meinem Zimmer hinauf und wäre beinahe gestürzt, wenn ich mich nicht gerade noch so abgefangen hätte. Na super! Ich sollte wohl erst einmal richtig laufen lernen, bevor ich mich unter Menschen mischte. Beinahe rennend beeilte ich mich den g**g entlang zu kommen, um endlich in mein rettendes Zimmer zu flüchten. Doch dort angekommen benötigte ich erst einmal geschlagene drei Minuten, um mit meinen zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Dann sprang zu meiner großen Erleichterung endlich die Tür auf und ich schmiss mich mit einem erstickten Laut auf's Bett. Wie sollte das alles bloß enden?! Schon wieder kamen mir neue Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte. Ich schluchzte hemmungslos auf und vergrub mein Gesicht in der weichen Decke. Wie hatte ich mich vor diesen Idioten nur so blamieren können? Warum gerade jetzt?! Ich war doch so dumm! Das würde eindeutig noch ein Nachspiel für mich haben. Wenn diese Angeber hier im Camp auch nur annähernd so schlimm waren, wie die Zickencliquen an unserer Schule, wusste spätestens morgen früh jeder über mein kleines Missgeschick bescheid. Ich konnte ihre hämischen Gesichter schon deutlich vor mir sehen, wenn ich in die Mensa zum Essen ging, im Unterricht saß oder durch die Gänge der Häuser eilte. Wie sollte ich das alles nur jemals ohne bleibende Schäden überstehen? Ich hatte ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer. Demotiviert versuchte ich mich irgendwie selbst zu beruhigen, was mir nicht wirklich gelingen wollte. Eigentlich hätte mir das Ganze ja vollkommen egal sein sollen. Ich hatte hier nie beliebt sein oder Freunde finden wollen. In sechs Wochen würde ich wieder von diesem schrecklichen Ort verschwinden und nie mehr auch nur einen einzigen Gedanken an dieses dämliche Camp verschwenden. Und bis dahin musste ich wohl einfach alles andere ignorieren und hoffen, dass wenigstens Franziska und die anderen noch zu mir hielten. Die entscheidende Frage, die sich mir dabei jedoch nun stellte, lautete: "Warum war ich dann jetzt gerade so fertig? Was bereitete mir solche Bauchschmerzen, dass ich am liebsten nie wieder aus diesem Zimmer herausgekommen wäre?" Im ersten Augenblick fiel mir rein gar nichts dazu ein. Was hatte ich denn auch schon groß zu verlieren? Schließlich gab es keine Personen oder Dinge, die mich hier hielten. Der Aufenthalt im Camp war mir scheiß egal. Doch in diesem Augenblick erschien plötzlich das Bild von heute Morgen vor meinem inneren Auge, wie ich am Fenster gestanden und die Umgebung von meinem Zimmer aus sondiert hatte. Und auf einmal wusste ich die Antwort auf meine Frage ganz genau. Es war plötzlich so offensichtlich und doch gleichzeitig so verrückt, dass ich mich am liebsten selbst dafür gehasst hätte. Aber das konnte ich nicht. Denn auf eine seltsame Art und Weise hatte ich zum ersten mal in meinem Leben das Gefühl die richtigen Dinge zu empfinden, die unausweichlich schienen. Und egal wie verrückt das auch klingen mochte, nichts und niemanden konnte daran etwas ändern. Die Schuld meiner seltsamen Gefühlsschwankungen seit heute Morgen lag nicht daran, dass ich meine Tage bekam oder krank wurde, sondern ganz allein bei diesem seltsamen, geheimnisvollen Jungen mit den silber-grauen Augen, der mich so vollkommen verwirrte. Mich schmerzte es ungemein feststellen zu müssen, dass er mich vorhin in einem meiner schwächsten Momente gesehen hatte und sein hasserfüllter Blick brannte mir noch immer im Nacken. Dieser Typ verachtete mich so abgrundtief und war so voller Abneigung gegen mich, dass es mich innerlich beinahe in zwei Hälften zerriss. Das Verrückteste daran war jedoch nicht die Tatsache, dass mich dies alles so fertig machte oder dass ich solche Gefühle überhaupt hegte. Nein. Das Verrückteste daran war, dass ich ihn gerade deswegen noch mehr mochte. Ich wünschte mir nur ein einziges Mal ein kleines Lächeln in seinem wunderhübschen Gesicht sehen zu dürfen, das seine Züge weich werden ließ und nur für einen kurzen Augenblick seine Nähe zu spüren. Doch da würde wohl eher noch das achte Weltwunder geschehen, bevor das passierte. Ich musste wirklich total gestört sein. Oder vielleicht waren das ja auch einfach die Nebenwirkungen des Camps. Wer wusste das schon so genau. Ein lauter, scheppernder Gong ertönte, der mich erschrocken auffahren ließ. Verwirrt blickte ich mich im Zimmer um und suchte mit den Augen stirnrunzelnd die Quelle des Lärms. Ich entdeckte sie schließlich an der Decke, in der hintersten Ecke des Raumes. Es war ein kleiner, schwarzer Kasten, der ununterbrochen schrillte. Was hatte das nur zu bedeuten? War das ein Feueralarm? Verstört richtete ich mich auf und Panik ergriff von mir Besitzt. Doch dann erinnerte ich mich vage an die Ausführungen von Frau Superfröhlich zurück, die erklärt hatte, dass uns eine Glocke zum Essen rufen würde. Genervt ließ ich mich auf's Bett zurückplumpsen und presste mir ein Kissen auf die Ohren. Ich stöhnte gequält auf. Das war ja nicht mehr auszuhalten! Man sollte dieses Camp wirklich auf Körperverletzung verklagen. Das war echt unzumutbar! Ich hatte im Moment sowas von absolut gar keinen Hunger. Allein wenn ich schon an etwas Essbares dachte, hätte ich mich am liebsten übergeben. Also beschloss ich mich in meinem Bett zu verkriechen, bis die Party dann irgendwann begann und ich somit leider doch wohl oder übel nach draußen musste. Ich hatte gerade auch nicht die geringste l**t auf Marie und den Rest ihrer Schoßhündchen zu treffen, was noch ein weiterer, guter Grund war das rettende Zimmer im Moment noch nicht zu verlassen. Und vor allem wollte ich nicht einem viel zu gutaussehenden Jungen begegnen, der mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, egal wie sehr ich mich auch bemühte das Bild von ihm loszuwerden. Es war zum verrückt werden! Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich schweißgebadet wieder aus einem Albtraum hochschreckte, war es bereits sieben Uhr und somit höchste Eisenbahn sich für die Party fertig zu machen. Schnell wühlte ich mein Schminkzeug und den Kulturbeutel aus meinem Koffer hervor, griff wahllos nach einer Hot Pant und einem schwarzen Top und zog mich in windeseile um. Dann machte ich, dass ich ins Bad kam. Dieses befand sich am anderen Ende des Ganges, hinter einer veilchenblauen Tür, auf der sich lilane Pferde tummelten. Absolut kindisch! Wo war ich hier gelandet? Ich hatte gedacht ich sei im Sonnenblumenhaus untergebracht und nicht im Haus der lilanen Ponnys. Aber wahrscheinlich passte der zweite Name sogar besser dazu. Zeigte zumindest, auf was für einem Niveau die Leute sich hier befand: Kindergarten! Als ich die Tür öffnete, kam mir ein Schwall stickig heißer Luft entgegen. Wie es aussah hatten sich hier schon viele für die Party fertig gemacht. Der Boden war nass und glitschig und die Spiegel schon fast erblindet. Der Raum selbst war mit blauen Kacheln gefliest, von denen einige schon tiefe Risse aufwiesen. Die Waschbecken schienen im Vergleich zum Rest des Raumes winzig zu sein und aus einigen tropfte ununterbrochen Wasser. Seufzend stellte ich mich vor einen der Spiegel und versuchte irgendetwas zu erkennen. Na prima! Nicht einmal ein gescheites Bad hatten sie hier. Ich bemühte mich, ein einigermaßen gutes Resultat zustande zu bringen, was ich den Umständen entsprechend relativ gut hinbekam. Gerade trug ich mir etwas Lidschatten auf, als plötzlich die Tür zum Bad aufgerissen wurde und zwei kleine Mädchen kichernd hereingeplatzt kamen. Sie unterhielten sich tuschelnd hinter vorgehaltener Hand und seufzten übertrieben auf. Als sie mich jedoch bemerkten, stoppten ihre Gespräche abrupt und sie brachen in schallendes Gelächter aus. Na ganz toll! Ich konnte mir schon fast denken, über was sie sich unterhalten hatten. Offensichtlicher ging es ja wohl nicht mehr! Sie warfen mir immer wieder flüchtige Seitenblicke zu und schienen sich prächtig zu amüsieren. Ich kam mir vor, wie ein Affe im Zoo. Scheiß Marie, mit ihren dämlichen Freunden!!! Neuigkeiten schienen sich hier wohl noch schneller zu verbreiten, als an unserer Schule, was schon etwas heißen musste. Wahrscheinlich gab es aber auch einfach nichts Interessantes, über das man sich sonst den Mund hätte zerreißen können. So schnell ich konnte stürzte ich wieder aus dem Bad hinaus ans andere Ende des Ganges, wo sich mein Zimmer befand. Ich hatte überhaupt keine l**t mehr auf die Party zu gehen, auf der ich unweigerlich allen anderen über den Weg laufen würde, aber leider hatte ich es Franziska und den anderen ja hoch und heilig versprochen. So schmiss ich mein Schminkzeug frustriert in eine Ecke, atmete noch einmal tief durch und beschloss nun wirklich zur Party aufzubrechen. Eine Party, bei der alle bereits wussten, was ich vor den Augen der Angeberclique getan hatte. Das konnte ja noch heiter werden.
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