Der Eingang zur Hölle

1594 Words
- Larissa - Der Wecker riss mich unsanft aus einem viel zu schönen Traum. Und das typischerweise gerade an der besten Stelle, als ich getragen von starken Armen wohlbehütet über einen glitzernden See flog. Guten Morgen auch! Entnervt fuhr ich hoch und knallte mit meinem Kopf gegen die Dachschräge. Autsch! Das hatte weh getan. Fluchend rieb ich mit über die schmerzende Stelle, die langsam anschwoll. Dass auch immer alles schief gehen musste. Wütend drückte ich auf den Ausschalter und das nervtötende Piepen verstummte augenblicklich. Endlich wieder Ruhe. Erleichtert ließ ich mich in die Kissen zurücksinken. Es war Montagmorgen sieben Uhr. Der erste Tag der Sommerferien und ich durfte trotzdem nicht ausschlafen. Ich verdrehte die Augen. Super! Das konnte ja noch spaßig werden! Draußen vor dem Fenster strahlte bereits fröhlich die Sonne in mein Zimmer herein und ein paar Amseln zwitscherten munter eine lustige Melodie. An jedem anderen Tag hätte ich das schön gefunden, aber nicht heute. Meine Stimmung war mittlerweile auf dem Tiefpunkt angelangt und frostiger, als ein Eisberg im Polarmeer. Zu allem Überfluss wurde in diesem Moment auch noch die Tür zu meinem Zimmer mit Schwung aufgerissen und meine Mutter platzte ohne anzuklopfen herein. Perfektes Timing! Die kam gerade wie gerufen. "Aufstehen, Lissylein! Du weißt, dass wir früh los müssen. Wir haben keine Zeit mehr für dein Rumgetrödel. Beeil dich also etwas!" Wie ich diesen Namen hasste! So nannte sie mich immer dann, wenn ihr etwas ganz und gar nicht passte. Und das war in letzter Zeit, wie ich fand, leider sehr häufig der Fall. Aber ob mir etwas passte oder nicht interessierte sie einen Dreck. Mürrisch erwiderte ich ein zickiges: "Lass mich in Frieden, ich komme ja gleich!" Daraufhin drehte sich meine Mutter ohne ein weiteres Wort zu verlieren auf dem Absatz um und verschwand nach unten in die Küche. Von dort konnte ich bereits das geschäftige Klappern von Geschirr hören. Mein Vater war wohl auch schon aufgestanden, um mich vor meinem Gehen noch verabschieden zu können. Das war natürlich gaaaannnzz wichtig! Soetwas durfte er nicht versäumen. Sonst konnte er wahrscheinlich die nächste Zeit nicht mehr ruhig schlafen. So ein Aufstand wegen nichts und wieder nichts. Mein Blick fiel auf den etwas ramponierten Koffer in der Ecke meines Zimmers, der traurig mit seiner neongrünen Farbe zu mir herüber leuchtete. Er würde das einzig Vertraute in den nächsten sechs Wochen für mich sein. Denn meine Eltern hatten entschieden mich in ein Sommercamp zu stecken, irgendwo am letzten Arsch der Welt. Dahin, wo es keine Shoppingcenter, Schwimmbäder und Kinos in der unmittelbaren Umgebung gab und was das aller Schlimmste war, es nicht einmal Internetempfang hatte. So ein kranker Scheiß! All meine Freundinnen flogen nach Mallorca oder in die Karibik, doch ich durfte in einem Sommercamp vor mich hin vegetieren und dort alleine unter Idioten versauern. Das war tausendmal schlimmer, als im Gefängnis zu hocken! Wie sollte ich das jemals nur ohne bleibende Schäden überstehen?! Meine Eltern hatten dazu nur achselzuckend gemeint, dass es mir ganz gut tun würde einmal aus der Stadt herauszukommen und Landluft zu schnuppern. Als ob! Da war ich ganz anderer Meinung. Aber wen interessierte das schon. Sie zumindest nicht. Ich hatte sie angefleht mich nicht fortzuschicken, doch sie waren hart geblieben. Und seitdem hatte ich so gut wie kein Wort mehr mit ihnen gewechselt. Sie waren ja auch selbst schuld daran. Das hatten sie sich nach der Aktion voll und ganz selbst zuzuschreiben. Widerstrebend sprang ich auf, schnappte mir meine Klamotten, die ich am Abend zuvor schon in weiser Voraussicht gerichtet hatte und stapfte schnaubend in Richtung Bad davon. Das erste, was mir dort in den Blick fiel, war mein Gesicht, das mir wütend aus dem Spiegel entgegenfunkelte. Wer konnte es mir aber auch schon verdenken, nach allem, was mir meine Eltern in den nächsten Wochen alles zumuten wollten. Etwas kritisch begutachtete ich meine blond-braunen, schulterlangen Haare, die mir wirr in alle Richtungen vom Kopf abstanden, meine blau-grünen Augen, die ziemlich verschlafen wirkten und mein voller Mund, der zu einem schmalen Strich verzogen war. Na super! Wie sollte ich das nur wieder einigermaßen hinbekommen? Wobei es die ganzen Langweiler im Camp wahrscheinlich sowieso nicht interessierte, wie ich aussah. Die waren dort mit Gewissheit alle so lahm, wie eine Schildkröte nach ihrer Einschläferung vom Tierarzt. Trotzdem stieg ich unter die Dusche und ließ das warme Wasser auf mich niederprasseln. Ich atmete dreimal tief durch und bemühte mich irgendetwas Positives an der ganzen Situation zu finden, was mir aber nicht so recht gelingen wollte. Was sollte man bitte schön sechs Wochen lang in einem beschissenen Camp anfangen? Und auf die ganzen Gruppenspiele, Wanderungen und Naturbezogenheit hatte ich erst recht keine l**t. Das war doch absoluter Quatsch! Was alles aber noch um einiges schlimmer machte, war die Tatsache, dass man von Montag bis Samstag auch noch morgens vier Stunden Unterricht hatte. Auch deshalb hatten meine Eltern beschlossen mich dorthin zu verfrachten. Meine letzten Noten waren nämlich leider nicht gerade sehr überragend ausgefallen, milde ausgedrückt. Aber das konnte doch jedem einmal passieren! Das gab ihnen noch lange nicht das Recht mir meine Sommerferien zu stehlen. Frechheit! Resigniert stieg ich aus der dampfenden Dusche und seufzte. Ich gab einen erbärmlichen Anblick ab mit meinen triefend nassen Haaren und den hängenden Schultern. Schnell stellte ich mich aufrecht hin und schrie mich innerlich selbst an, jetzt nicht einfach aufzugeben. Das würde ich meinen Eltern nicht gönnen. Ich würde ihnen nicht auch noch die Genugtuung geben mich am Boden zu sehen. So weit würde ich es nicht kommen lassen. So gut es ging machte ich mich also fertig und nachdem ich mich geföhnt, gekämmt und geschminkt hatte, sah ich zumindest wieder einigermaßen wie ein lebendiger Mensch aus. Wenn auch einer mit schlechter Laune, aber daran konnte ich nichts ändern. Kurz darauf stolperte ich langsam die Treppe in die Küche hinunter, wo meine Eltern bereits ungeduldig auf mich warteten. "Jetzt mach mal ein bisschen schneller! Wir müssen schon in zehn Minuten los! Du bist eine elendige Träumerin!", schnauzte mich meine Mutter heftig an, was mich nur um so bockiger werden ließ. Sie konnte mich echt mal! "Ich muss gar nichts!", entgegnete ich patzig, wobei ich sie abfällig anfunkelte, "und wenn wir später kommen, ist es mir auch sowas von scheiß egal. Du willst zu dem Camp, nicht ich." Meine Mutter verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen und wäre mir wohl am liebsten an die Gurgel gegangen, wenn mein Vater ihr nicht beschwichtigend seine Hand auf die Schulter gelegt hätte: "Lasst uns schnell etwas essen, ok? Streit hilft uns jetzt auch nicht weiter. Larissa, was möchtest du haben? Pfannkuchen mit Nutella?" Ich verdrehte nur genervt die Augen und setzte mich an den Küchentisch. Sie hatten mir also mein Lieblingsessen als Bestechung zubereitet. Super! Doch das änderte noch lange nichts an der Tatsache, dass sie mich für sechs Wochen abschoben. Soetwas zog bei mir nicht. Da mussten sie sich schon etwas anderes einfallen lassen. Nachdem ich fünf Pfannkuchen verdrückt hatte und mich dadurch fühlte, als könnte man mich kugeln, verabschiedete ich mich kühl von meinem Vater, der mich an sich drückte, als würde er mich niemals mehr wieder sehen. Er schien ein ziemlich schlechtes Gewissen zu haben, doch das war mir egal. Das hätten sie sich früher überlegen müssen. Umständlich nahm ich hinten in unserem alten BMW auf dem Rücksitz platz, um nicht neben meiner Mutter sitzen zu müssen, die mich die ganze Zeit über vollaberte, dass das Camp bestimmt super spannend und lustig werden würde. Dass ich nicht lachte! Und es gab den Weihnachtsmann, den Osterhasen, das Christkind und den Klapperstorch. Als der Wagen startete, winkte mein Vater uns noch lange nach, doch ich ignorierte ihn. Wenn er rumschleimen wollte, sollte er es woanders tun. Während der ganzen Fahrt über starrte ich trübsinnig aus dem Fenster und beobachtete, wie die Besiedlung um uns herum immer spärlicher wurde. Die vielen Hochhäuser und gut ausgebauten Straßen verschwanden und schon bald fuhren wir einen holprigen Feldweg entlang, der nicht mehr auch nur im geringsten an eine befahrbare Straße erinnerte. Ich drehte die Musik auf volle Lautstärke, sodass meine Kopfhörer vibrierten und es mir in den Ohren schmerzte. Ich durfte einfach nicht an die nächsten Wochen denken. Denn sonst hätte es durchaus passieren können, dass ich hier und jetzt auf der Stelle die Beherrschung verlor. Und das hätte sicherlich unschön geendet. Nach einer gefühlten Ewigkeit bog unser Wagen langsam um eine Kurve und hielt vorsichtig vor einem schmiedeeisernen Tor, auf dem in rostroter Farbe, die mich an getrocknetes Blut erinnerte, "Camp Sonnenschein" geschrieben stand. Die Buchstaben schienen mich verhöhnen zu wollen und standen seltsam schief. Richtig gruselig... Meine Mutter sprang sofort aus dem Wagen aus und hiefte ächzend meinen Koffer aus dem Kofferraum. Ich war mittlerweile ebenfalls mit steifen Gliedern ausgestiegen und beäugte nun misstrauisch die Gegend. Weit und breit war nichts, außer Wiesen, Bäume und Sträucher zu erkennen. Absolute Einöde. Wo war ich hier nur gelandet?! Wie es aussah wohl tatsächlich am Arsch der Welt. Jetzt wusste ich wenigstens wo das lag. Das hatte ich schon immer mal in Erfahrung bringen wollen. Meine Mutter stieß einen missbilligenden Seufzer aus, der meine Aufmerksamkeit wieder auf sie lenkte: "Du bist schon viel zu spät, Schatz! Husch, husch! Die warten sicher schon alle auf dich." Ich erwiderte nichts darauf, sondern riss ihr kommentarlos den Koffer aus der Hand. Sollte sie sich doch um ihren eigenen Kram kümmern. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, stapfte ich an meiner nun ebenfalls schweigenden Mutter vorbei, durch das Tor hindurch, das mir wie der Eingang zur Hölle erschien. Eine Hölle, die ich nun ganz allein sechs Wochen ertragen musste.
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