Die Ankunft

1682 Words
Das Erste, was ich in diesem stickigen Camp zu Gesicht bekam, war der Rücken eines Campleiters. Doch kurz darauf nahm ich meine erste Vermutung wieder zurück. Sorry, schließlich konnte auch ich mich ab und zu einmal irren. Es war nämlich durchaus möglich, dass es sich hierbei auch um eine Leiterin handelte. Irgendwie schien das Wesen da vor mir wohl eine Mischung aus beidem zu sein. Ziemlich spannend, das musste man dem Ding lassen. Das Etwas hatte kurze, fettige Haare und einen dicken Bierbauch, der aussah, als müsste er gleich im nächsten Moment explodieren. Gelbe Zähne blitzten mir gefährlich entgegen, als das Wesen sich zu mir umdrehte und mit maßlos übertrieben fröhlicher Stimme flötete: "Willkommen im Camp Sonnenschein, hier werden wir alle gemeinsam fröhlich sein!" Seine viel zu engen Kleider spannten sich bei einem kratzenden Lachanfall dabei so stark, dass ich schon Angst hatte, sie würden gleich platzen und mir mit einem lauten Knall um die Ohren fliegen. Angeekelt wich ich einen kleinen Schritt zurück und rümpfte unwillkürlich die Nase. Wenn das so weiter ging, würde ich nach schon einer Stunde schreiend das Weite suchen. Und dann war es mir auch ganz egal, was meine Eltern dazu sagen würden. "Ich bin Frau Barsch und die Leiterin des Camps seit nun schon fast fünfzehn Jahren", riss mich da die Stimme der seltsamen Erscheinung vor mir aus meinen verzweifelten Gedanken. Oh mein Gott! Das Rätsel war also gelöst! Das Wesen war eine Frau. Und wie es schien schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr aus diesem Dreckskaff herausgekommen, so wie die aussah. "Ich zeige dir kurz dein Zimmer und in einer halben Stunde treffen wir uns dann zu einer gemeinsamen Vollversammlung in der Aula, wo wir uns alle besser kennenlernen können", flötete diese gute Laune in Person nun weiter und reichte mir freudestrahlend einen Zimmerschlüssel und einen Plan, auf dem fünf Gebäude zu erkennen waren. Diese sahen alle irgendwie schon auf dem Papier nicht allzu toll aus. Wie sollte das dann erst in Original etwas werden? Miese Planung. Eindeutig. Achselzuckend folgte ich Frau Barsch jedoch zu dem ganz linken Gebäude und versuchte leicht verzweifelt nicht jetzt schon durchzudrehen. "Das hier ist das Sonnenblumenhaus für die Mädchen. Die Jungen sind dort drüben im Magnolienhaus untergebracht. Nach zehn Uhr dürft ihr nicht mehr bei den anderen im Haus sein. Verstoßt ihr gegen diese Regel, werdet ihr zu einer Woche Stallarbeit verdonnert und wenn es ein zweites mal vorkommt, fahrt ihr wieder nach Hause. Die anderen Vorschriften stehen in der Hausordnung, die auf dem Tisch in deinem Zimmer liegt. Wenn du noch weitere Fragen hast, wende dich bitte an Marie Breitner. Sie ist deine Gruppenleiterin und wird sich um dich kümmern", erklärte Frau Superfröhlich, wie ich sie insgeheim getauft hatte. Sie führte mich in das Gebäude für die Mädchen hinein, das noch aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen schien. Der Boden der großen Eingangshalle war aus dunklem Eichenholz gefertigt, das bei jedem Schritt bedrohlich knarrte. Die Wand und die Decke bestanden dagegen aus weißem Gips, der aber seltsamerweise schon etwas braun geworden zu sein schien und an einigen Stellen bröckelte. Kleine, winzige Stücke fielen immer wieder von der Decke, was den Anschein machte, als würde es schneien. Na toll! Was, wenn hier gleich das ganze Haus in sich zusammenbrach? So wie das hier aussah, war diese Überlegung gar nicht einmal so abwegig. Hätte ich in diesem Moment Angst haben sollen? Wahrscheinlich. Aber ich war niemand, der so schnell vor irgendwelchen Problemen davonlief. Ich war schon immer eher eine Kämpfernatur gewesen. Und das würde sich durch diese kleineren Herausforderungen ganz bestimmt nicht ändern. Neugierig schaute ich mich hier genauer um. Von der Decke hingen nackte Glühbirnen, die seltsam flackerten und an den Wänden große Bilder mit irgendwelchen nichtssagenden Farbklecksen, wie ich sie schon immer gehasst hatte. Es wurde eindeutig immer schlimmer! Mein erster Eindruck hatte mich also nicht getäuscht. Dieses Camp hier war eine einzige Bruchbude. Und das war wirklich noch sehr nett ausgedrückt. Wir steigen gemeinsam eine schmale Treppe hinauf, was sich mit meinem Koffer in der Hand zu einer echten Herausforderung entpuppte. Warum gab es hier auch keine Aufzüge? Das Gebäude war ja mal sowas von aus dem Mittelalter. Oben angekommen hielten wir uns nach rechts und liefen ganz ans andere Ende des Ganges. Die Ausstattung dort glich exakt die der Eingangshalle. Wie abwechslungsreich! Da hätte sogar mein Vater etwas Schöneres zusammengestellt bekommen und der war in Sachen einrichten eines Zimmers eine glatte Null. Natürlich hatte ich ausgerechnet das letzte Zimmer am hintersten Ende des Hauses erhalten müssen. War ja mal wieder typisch! Ich öffnete mit meinem Schlüssel die Tür vor mir und stieß sie mit einem heftigen Fußtritt auf, sodass sie gegen die Wand krachte und quietschend wieder zurückschwang. Frau Superfröhlich wuselte daraufhin zu meiner großen Freude etwas verärgert weiter zu irgendeinem anderen, bemitleidenswerten Opfer, das sie zu begrüßen hatte. Glück für mich. Wenigstens einmal. Erschöpft ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen, stellte meinen Koffer achtlos in eine Ecke und ließ mich stöhnend auf's Bett plumpsen. Was für eine Scheiße! Mich hatte es ja wirklich voll erwischt. Willkommen im Albtraum, der sich mein Leben nannte. Missmutig schaute ich mich genauer im Raum um, der nun für sechs Wochen mein Zuhause sein sollte. Mein Zufluchtsort. Wenigstens hatte ich ein Einzelzimmer bekommen, was mich immerhin ein kleines bisschen beruhigte. Denn mit einem dieser Langweilermädchen vom Camp in einem Zimmer schlafen zu müssen, die freiwillig hier ihre Ferien verbrachten und WLAN wahrscheinlich für eine Obstsorte hielten, wäre der sichere Untergang für mich gewesen. Das hätte nicht einmal ich verkraftet. Mein Zimmer erstrahlte in demselben braun-weiß, wie der Rest des Gebäudes. Es erinnerte mich an verfaulte Essensreste oder Schimmel, was meine Laune nicht gerade hob. Lecker! Und hier sollte man sich wohlfühlen. Von was träumten die eigentlich nachts? Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, die aber recht instabil wirkten, ein winziger Schrank, bei dem ich mir jedoch nicht einmal sicher war, ob all meine Klamotten da überhaupt hineinpassten und das Bett auf dem ich gerade saß, befanden sich in meinem winzigen Zimmer. Nicht einmal ein eigenes Bad gab es hier, wie ich stöhnend feststellen musste. Na prima! Jetzt durfte ich auch noch das mit den anderen Langweilermädchen teilen. Als ob der Aufenthalt hier nicht schon Strafe genug gewesen wäre! Wut packte mich und ich sprang wieder vom Bett auf. Was fiel meinen Eltern eigentlich ein mich hier in diesem Loch versauern zu lassen?! Am liebsten hätte ich auf irgendetwas eingeschlagen, aber es gab nichts, außer meinem Koffer, dem ich jedoch niemals wehgetan hätte. Er hatte mich schließlich nicht hierher an diesen schrecklichen Ort geschleppt. Dafür waren andere verantwortlich. Unschlüssig ging ich auf das einzige Fenster im Raum zu, durch das die warmen Strahlen der Mittagssonne fielen. Ich hatte einen guten Blick auf den Hof vor dem Gebäude. Eichen schmückten die Hügel, die sich rings um das Camp ausbreiteten und alles erstrahlte in einem saftigen grün. Ich hatte alte Eichen schon immer gemocht. Sie hatten für mich etwas Magisches an sich, das mir gefiel und bei dem ich immer an Feen und Engel denken musste. Warum wusste ich auch nicht so genau. Das hörte sich schließlich ziemlich bescheuert an, selbst in meinen Ohren. Ich ließ meinen Blick weiter über den Hof schweifen, der größer war, als ich zu Beginn angenommen hatte. Ein Traktor fuhr gerade mit lautem Getöse die Einfahrt des Camps hinauf und mich wunderte es, dass er nicht gleich mit einem lauten Knall in all seine Einzelteile zerfiel. Er sah nämlich in meinen Augen aus wie ein Schrotthaufen auf vier Rädern. Und das war wirklich noch positiv ausgedrückt. Da erregte auf einmal eine kleine Bewegung auf der anderen Seite des Hofes meine Aufmerksamkeit. Eine Gruppe von Jugendlichen, bestehend aus drei Jungen und zwei Mädchen, schlenderte lachend den Weg entlang, auf das Gebäude mit den zwei Türmen zu, die seltsam schief wirkten. Ich konnte ihre Gesichter nicht richtig erkennen, doch sie schienen sich schon zu kennen und mächtig zu amüsieren. Noch besser! Sie kannten sich hier also auch schon alle! Meine Stimmung sank noch weiter unter den Gefrierpunkt, wenn das überhaupt möglich war. Eigentlich hatte ich gedacht, dass sich meine Laune durch nichts mehr verschlechtern konnte. In diesem Moment drehte sich auf einmal der Größte der drei Jungen zu mir um und es war, als würde er direkt zu mir nach oben blicken. Er hatte schwarzes, seidig glattes Haar, das ihm wie ein Vorhang vor die Augen fiel, sodass ich diese nicht genau erkennen konnte. Sein Gesicht war makellos und ziemlich hell, ganz so, als könne die Sonne seiner Haut nichts anhaben. Seine Lippen waren voll und leicht geschwungen, was wie das Werk eines Künstlers aussah und nicht, wie die gewöhnlichen Gesichtszüge eines langweiligen Jungen. Wie gebannt konnte ich mich keinen Millimeter mehr bewegen und beobachtete fasziniert, wie sich sein Mund zu einem winzig kleinen Lächeln verzog, das mein Herz einen Schlag lang aussetzen ließ. Aber vielleicht war das auch nur eine Täuschung des Lichts gewesen. Denn im nächsten Augenblick wandte er sich auch schon wieder von mir ab und ich erwachte aus meiner Starre. Schnell sprang ich vom Fenster zurück, als hätte ich mich gerade verbrannt. Was war nur in mich gefahren? War ich jetzt völlig gestört?! Das da eben war nicht ich gewesen! Ich schmachtete keinem Typen hinterher, als würde man ohne sie sein Leben nicht auf die Reihe bekommen. Das war die Aufgabe meiner Freundinnen. Ein seltsames Kribbeln ergriff von meinem Körper Besitz und verursachte mir Bauchschmerzen. Mir war leicht schwindelig und ich schwankte heftig. Ich fühlte mich im einen Moment ganz heiß und dann war mir plötzlich wieder kalt. Wurde ich etwa krank? Bitte nicht auch noch das! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich mich nun schnellstens auf den Weg in die Aula machen sollte, wenn ich nicht schon bei unserem ersten Treffen zu spät kommen wollte. So packte ich kurzerhand den Plan, den ich vorhin auf den Tisch abgelegt hatte, wie einen Rettungsanker fest mit beiden Händen und eilte immer noch leicht schwankend nach draußen. Vielleicht würde mir die frische Luft ja gut tun.
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