Die Versammlung

2191 Words
Draußen auf dem Hof empfing mich die Schwüle der Mittagshitze. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel herab und es hatte schon lange keinen Tropfen Wasser mehr geregnet. Sofort lief mir der Schweiß in Bächen den Rücken hinunter und ich hätte mich am liebsten wieder in meinem Zimmer verkrochen. Die Erde wieß an vielen Stellen bereits breite Risse auf und mir taten die Pflanzen leid, die neben unserem Haus in Blumenkästen standen. Traurig ließen sie ihre Köpfe hängen und sahen damit genau so aus, wie ich mich fühlte: ERBÄRMLICH! Ich studierte den Plan in meiner Hand genauer und entdeckte die Aula schließlich in dem Gebäude mit den zwei schiefen Türmen, wo auch die Gruppe mit den zwei Mädchen und den drei Jungen vorhin verschwunden war. Das Haus machte auf mich von außen nicht gerade einen sehr vertrauenserweckenden Eindruck, was hier aber ja wohl Standard war. Die Türme schienen jeden Moment unter ihrem Gewicht einknicken zu können und erinnerten mich damit an den schiefen Turm von Pisa, nur im Doppelpack. Es war das mit Abstand größte Gebäude von allen und als Einziges nicht weiß, sondern in einem seltsamen rosa gestrichen, das mich an zu lange gekauten Kaugummi erinnerte. Die Fenster waren mit gelben Rollläden versehen, was so gar nicht zu dem Kaugummirosa passte. Wer auch immer diese Häuser hier entworfen hatte, musste entweder farbenblind oder völlig geschmacksverirrt gewesen sein. Oder sogar beides zusammen. Plötzlich tippte mir von hinten jemand auf die Schulter und ließ mich erschrocken herumfahrn. Ein großes Mädchen mit wasserstoffblonden Haaren und einer Zahnspange grinste mir freundlich entgegen. Sie trug dunkelblaue Hot Pants und ein kurzes T-Shirt, das ihren Bauchnabelpiercing zeigte. Ihre kastanienbraunen Augen strahlten mich dabei neugierig an. Sie hatte eine wirkliche Traumfigur und so wie sie aussah, bekam sie jeden Jungen, den sie nur haben wollte. Da änderte auch die Zahnspange nichts an dem fantastischen Gesamtbild. Es war eines dieser Mädchen, die ich in unserer Schule normalerweise nicht einmal eines Blickes gewürdigt hätte. Sie war mindestens 1, 80 m groß und überragte mich um Längen. Sie sah wirklich Hammer aus, das musste man ihr lassen. Aber da mir Aussehen generell sowieso nicht so wichtig war, war mir das auch völlig egal. "Hi! Du musst neu hier sein. Ich habe dich noch nie im Camp gesehen. Und ich komme immerhin schon seit sieben Jahren hierher! Ich bin Franziska. Wenn du willst zeige ich dir nachher alles, was du kennen musst. Es kommt nicht sehr oft vor, dass sich neue Leute in dieses Camp hier verirren. Die Meisten kennt man schon, alte Bekannte. Da ist es immer mal wieder schön, wenn neue Gesichter auf der Bildfläche erscheinen", sprudelte es ohne Punkt und Komma aus ihr hervor. Etwas überrumpelt blieb ich wie angewurzelt stehen und starrte das Mädchen mit offenem Mund an. Erst langsam sickerte das Gesagte zu mir durch. Ja, dass sich hier bereits alle kannten, hatte ich schon bemerkt. Und mich wunderte das auch ganz und gar nicht. Wer wollte auch schon hier seine Ferien verbringen?! Misstrauisch musterte ich Franziska von oben bis unten. Auf den ersten Blick schien sie ja ganz nett zu sein, aber man wusste nie. Wer freiwillig in dieses Camp hier ging und das jedes Jahr auf's Neue, musste schon einen kleinen Schaden haben. Aber da ich hier noch niemand anderen kannte und damit die Außenseiterin zu sein schien, würde ich mich nun erst einmal an sie halten. Schaden konnte es schließlich nicht. Und falls sie sich doch als völlig gestört entpuppen sollte, konnte ich das Ganze ja immer noch zu gegebener Zeit beenden. "Hi! Ich bin Larissa. Schön dich kennenzulernen. Hm... ich nehme dein Angebot mit der Führung gerne an. Würde mich freuen, wenn du mir zeigst, was ich hier zum Überleben brauche. Und hoffentlich gelingt mir das dann auch sechs Wochen lang", stellte ich mich schnell vor. Franziska brach in schallendes Gelächter aus und strich ihre langen, blonden Haare hinter die Ohren zurück: "Da scheint mir aber jemand keine allzu große l**t auf das Camp Sonnenschein zu haben. Sieht so aus, als hätten dich deine Eltern wohl ohne Mitspracherecht hierher verfrachtet, was?" Ich nickte nur bestätigend und verdrehte genervt die Augen, was Franziska mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck kommentierte: "Du wirst sehen, dass es hier nur halb so schlimm ist, wie du es dir vorstellst. Keine Angst, wir alle beißen schon nicht. Meistens zumindest. Die Mehrheit ist richtig nett und wenn du dich an die Regeln hältst, wird es dir hier auch gefallen... Ähhhh... Apropos Regeln. Wir sollten uns beeilen und schnell in die Aula begeben, wenn wir uns nicht gleich am ersten Tag Stalldienst einkassieren wollen. Die Leute hier haben es nicht so mit unpünktlichen Menschen." Ich zweifelte ihre Worte zwar an, dass ich irgendwann Gefallen an dem Campaufenthalt finden sollte, folgte ihr aber dennoch kommentarlos in das Schiefe-Turm-von-Pisa-Haus hinein. Drinnen umfing uns eine dunkle Kälte, die mich sofort frösteln ließ. Nach der Hitze von draußen wirkte der Raum hier drinnen wie ein Gefrierschrank auf mich. Skeptisch sah ich mich in der großen Eingangshalle um, die im Vergleich zum Rest des Hauses noch ziemlich neu zu sein schien. Hier gab es sogar richtige Lampen, nicht nur nackte Glühbirnen, die traurig von der Decke hingen, wie in im Sonnenblumenhaus. Landschaftsbilder schmückten die Wände, wie ich sie liebte und ein Aquarium stand in einer der Ecken. Wir bogen gleich rechts in eine der Flügeltüren ab, auf der in orangenen Buchstaben, mit der Schrift eines Drittklässlers, "Aula Anemonenhaus" geschrieben stand. Wie kreativ. Der Raum dahinter war bis zum Bersten mit Tischen und Stühlen vollgestopft und von Stimmengewirr erfüllt. Mindestens vierzig Jugendliche mussten sich hier drinnen befinden, wenn es nicht sogar noch mehr waren. Sie standen in Grüppchen beisammen und unterhielten sich munter. Jetzt war ich doch ziemlich froh darüber Franziska bei mir zu haben, auch wenn ich mir noch immer nicht so ganz sicher war, was ich von ihr halten sollte. Aber ohne sie hätte ich nicht einmal gewusst, wo ich mich nun überhaupt hinstellen sollte. Die vielen unbekannten Gesichter machten mich ganz nervös. Ich hatte Massenaufläufe schon immer gehasst. So folgte ich Franziska ans andere Ende der Aula, wo sich zwei Mädchen und zwei Jungen gerade über etwas sehr zu amüsieren schienen. Als Franziska bei ihnen angelangt war, entbrannte sofort ein großes Hallo und alle umarmten sich freudig. Ich blieb etwas abseits am Rande der Gruppe stehen, unschlüssig, was ich als nächstes tun sollte. Ich hatte es schon immer gehasst die Neue zu sein, was bereits öfters vorgekommen war, da mein Vater wegen seiner Arbeit oft hatte umziehen müssen. Das war immer der blanke Horror für mich gewesen. Aber ich hatte es überlebt, wie man sah. Da packte mich Franziska plötzlich bei der Hand und zog mich zu den anderen hinüber: "Das ist Larissa. Sie ist neu hier und nicht gerade sehr begeistert im Camp Sonnenschein gelandet zu sein. Aber das werden wir ändern Leute, nicht wahr? Wir werden ihr schon zeigen, wie toll es hier ist!" Ein zustimmendes Gemurmel war zu vernehmen. "Larissa, das dort hinten ist Martin." Ein etwas molliger Junge mit kurzen, braunen Locken und einem breiten Grinsen im Gesicht streckte mir seine große Hand entgegen. Er hatte verwaschene, blaue Augen und trug eine Brille, was ihn wie einen Maulwurf aussehen ließ. Fand ich zumindest. Ich ergriff seine Hand zögerlich und er zerdrückte mir beinahe meine Finger, sodass ich innerlich leise aufstöhnte. Ich war froh, als er mich endlich wieder losließ. "Das hier ist Leonie." Ein zierliches Mädchen mit schwarzen, raspelkurzen Haaren, in denen sich blaue Strähnen befanden, winkte mir lächelnd zu, was ich da schon etwas angenehmer fand. Sie war ziemlich klein, trug schwarze Klamotten und einen Gürtel, der mit Nieten besetzt war.  "Das hier ist Mona." Ein Mädchen mit feuerroten Haaren, die sie zu einem langen Zopf geflochten hatte, schenkte mir ein schneeweißes Zahnpastalächeln. Sie hatte große, grau-blaue Augen, war eher blass und ihr Gesicht wurde von vielen, kleinen Sommersprossen geziert. "Und das hier ist Timo", stellte sie den Letzten der Runde vor. Es war ein großer, schlacksiger Typ, der wunderschöne smaragdgrüne Augen besaß und eine Zahnlücke, die bei ihm einfach nur super süß wirkte. Sein T-Shirt spannte sich über einem muskulösen Oberkörper und seine Augen funkelten selbstsicher in die Runde. Auch seine Haare, die dunkelblond und leicht verstrubbelt waren, sahen an ihm gar nicht einmal so übel aus. Nun zwinkerte er mir kurz zu, was mich leicht erröten ließ und ich wandte mich schnell wieder von ihm ab. Im Großen und Ganzen schienen sie also alle wirklich sehr nett zu sein. Zumindest soweit ich das bis jetzt beurteilen konnte, was jedoch noch lange nicht hieß, dass das auch so blieb. Schließlich konnte der erste Eindruck auch täuschen. In diesem Moment ertönte ein lauter Gong und ließ alle Gespräche im Raum mit einem mal verstummen. Was war das denn? War ich in einer Yogasitzung gelandet? Die anderen schienen sich jedoch nicht weiter darüber zu wundern. Sie suchten sich einfach einen Platz am hinteren Ende der Aula und ließen sich dort auf knarrenden Stühlen nieder. Ich folgte ihnen etwas zögernd, ließ mich zwischen Franziska und Timo nieder und wartete gespannt darauf, was nun gleich passieren würde. Ich musste nicht lange warten. Kurz nachdem sich alle gesetzt hatten, kam Frau Superfröhlich auf die Bühne gestürmt und griff ächzend nach einem Mikrofon. Ihre Wurstfinger klammerten sich dabei um das arme Gerät, als würde sie es hier und jetzt mit aller Macht gleich zerquetschen wollen: "Hallo und herzlich Willkommen im Camp Sonnenschein, hier werden wir alle gemeinsam fröhlich sein! Heute ist euer erster Tag im Camp und ich werde euch zuerst die Regeln erklären, die ihr zu beachten habt, auch wenn sie viele von euch ja bereits kennen. Danach lese ich noch in alphabetischer Reihenfolge eure Namen vor und sage euch, in welchem Hauptkurs ihr seid. Morgen früh werdet ihr euch dann um sieben Uhr in diesem zusammenfinden...." Ich schaltete ab. Mir reichte jetzt schon, was ich gehört hatte. Das sollte irgendwie Spaß machen?! Ich bezweiflte es gewaltig. Die hatten doch alle eine Vollmeise hier! Meine Gedanken schweiften langsam ab. Timo lächelte mir kurz zu, was mich schnell in die andere Richtung schauen ließ. Dieser Typ war schon ziemlich süß, das musste man ihm lassen. Für soetwas hätte meine beste Freundin Lara sogar getötet. Ich musste grinsen, als ich an ihr sehnsüchtiges Gesicht dachte, das sie immer aufsetzte, wenn sie einen gutaussehenden Jungen sah. Schade nur, dass sie nicht hier war. Ich ließ meinen Blick weiter über die anderen Schüler schweifen, die ebenso wie ich ziemlich gelangweilt schienen. Wahrscheinlich hörten sie jedes Jahr die gleiche Leier. Verständlich, dass man da nicht mehr wirklich aufpasste. Plötzlich blieb mein Blick an etwas hängen, was mir für einen kurzen Augenblick den Atem stocken ließ. Da war er! Der Junge von eben, den ich auf dem Hof beobachtet hatte. Er saß drei Reihen vor mir und hatte sich lässig mitsamt seinem Stuhl zurückgelehnt. Sein Blick ruhte dabei auf einer Schar Mädchen, die vor ihm saßen und er checkte sie eingehend von oben bis unten ab. Macho! Seine Haltung strahlte die pure Überheblichkeit und Verachtung aus, was mich angeekelt das Gesicht verziehen ließ. Er hatte etwas Abweisendes an sich, was mir eiskalt entgegenschlug. Beinahe so, als würde mir eine Welle mit Meerwasser engegenschwappen und mich voll und ganz einhüllen. Seine schwarzen Haare, die im fahlen Licht der Deckenbeleuchtung eigentümlich glänzten und seine Finger, die spielerisch einen Takt auf dem Stuhl trommelten, schienen viel zu perfekt für diese Welt zu sein. Er wirkte hier irgendwie fehl am Platz, ganz so, als würde er nicht in unsere Zeit hineinpassen. Das Gefühl von eben schlich sich in meine Knochen zurück und mir wurde richtig schlecht. Was war nur mit mir los?! Ich wünschte mir, dass der Junge da vorne sich umdrehte und ich dadurch endlich seine Augen erkennen konnte. Was er wohl für eine Augenfarbe hatte? Verdammt nochmal!!! Was interessierte mich das eigentlich?! ICH HATTE SIE JA ECHT NICHT MEHR ALLE! Jemand stieß mich heftig in die Seite und deutete nach vorne. Verwirrt blickte ich auf und merkte erst jetzt, dass mich alle im Raun anstarrten. Nur dieser seltsame Junge von vorhin würdigte mich keines Blickes. "Du bist aufgerufen worden", zischte mir Franziska leise zu und stieß mich nach vorne. Mit hochrotem Kopf eilte ich auf Frau Superfröhlich zu. Alle Augen folgten mir und schienen mich verschlingen zu wollen. Naja, alle bis auf ein Augenpaar eben. "Schön dich hier begrüßen zu dürfen, Larissa. Du bist eine von den Wenigen, die das erste mal hier sind. Bitte melde dich nachher bei Marie, deiner Gruppenleiterin, die dir alles weitere erklären wird", mit diesen Worten reichte sie mir einen Stundenplan und ein T-Shirt mit dem Spruch des Camps und einer großen, hässlichen Sonne darauf, die mich hämisch angrinste. Na super! War ich ein Kleinkind oder was? Nach und nach wurden alle in die einzelnen Kurse verteilt und die Aula leerte sich allmählich. Wer bei mir im Kurs war, bekam ich dabei gar nicht mehr mit. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt meinen eigenen, trübseligen Gedanken nachzuhängen, die mich ziemlich quälten. Wie sollte das nur alles enden? Was sollte ich hier nur die ganze Zeit tun? Und wie sollte ich diese Zeit nur jemals lebend überstehen?
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