KAPITEL ZWEI

2315 Words
KAPITEL ZWEI Riley fühlte, wie ihr Atem und ihr Herzschlag schneller wurden, als sie von der Metrostation in Richtung des massiven weißen J. Edgar Hoover Building ging. Warum bin ich so nervös? fragte sie sich selbst. Schließlich hatte sie ihre erste Solofahrt mit der U-Bahn durch eine Stadt gemeistert, die größer war als alle Städte, die sie vor ihrem Umzug hierher besucht hatte. Sie versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass dies keine so große Veränderung war, dass sie einfach nur wieder zur Schule ging, so wie sie es in Lanton getan hatte. Aber sie kam nicht umhin, sich beeindruckt und eingeschüchtert zu fühlen. Zum einen befand sich das Gebäude an der Pennsylvania Avenue, direkt zwischen dem Weißen Haus und dem Kapitol. Mit Ryan war sie Anfang dieser Woche an dem Gebäude vorbeigefahren, aber die Realität, dass sie in den nächsten zehn Wochen hierherkommen würde, um zu lernen und zu arbeiten, traf sie erst jetzt mit voller Kraft. Es erschien ihr fast wie ein Traum. Sie ging durch den Haupteingang und durch die Lobby zur Sicherheitsschleuse. Der diensthabende Wachmann fand ihren Namen auf einer Besucherliste und gab ihr eine ansteckbare Ausweiskarte. Er sagte ihr, sie solle einen Aufzug nehmen und sich drei Stockwerke tiefer zu einem kleinen Auditorium begeben. Nachdem Riley den Hörsaal gefunden hatte und hineingegangen war, erhielt sie ein ganzes Bündel von Regeln, Vorschriften und Informationen, die sie später lesen sollte. Sie setzte sich zu etwa zwanzig weiteren Praktikanten, die alle in ihrem Alter zu sein schienen. Sie wusste, dass einige − so wie sie selbst – frisch gebackene Hochschulabsolventen waren, andere waren Studenten, die im Herbst ans College zurückkehren würden. Die meisten der anderen Praktikanten waren männlich und alle waren gut gekleidet. Sie fühlte sich ein wenig verunsichert angesichts ihres eigenen Hosenanzuges, den sie in einem Gebrauchtwarenladen in Lanton gekauft hatte. Es war das beste Business-Outfit, das sie hatte, und sie hoffte, dass sie ausreichend respektabel aussah. Bald trat ein Mann mittleren Alters vor die Praktikanten. Er sagte: »Ich bin Assistant Director Marion Connor und verantwortlich für das FBI Honors Internship Sommer-Programm. Sie alle sollten sehr stolz darauf sein, heute hier zu sein. Sie sind eine sehr erlesene und außergewöhnliche Gruppe, ausgewählt aus Tausenden von Bewerbern ...« Riley schluckte schwer, als er weiterhin die Gruppe beglückwünschte. Tausende von Bewerbern! Wie seltsam das zu sein schien. Die Wahrheit war, dass sie überhaupt keinen Antrag gestellt hatte. Sie war einfach für das Programm direkt nach dem College ausgewählt worden. Gehöre ich wirklich hierher? fragte sie sich. Assistant Director Connor stellte der Gruppe einen jüngeren Agenten vor − Hoke Gilmer, der Ausbilder, der sich gestern bei Riley gemeldet hatte. Gilmer wies die Praktikanten an, aufzustehen und ihre rechten Hände zu heben, um den Amtseid des FBI zu leisten. Riley hatte das Gefühl zu ersticken, als sie anfing, die Worte zu sprechen ... »Ich, Riley Sweeney, schwöre feierlich, dass ich die Verfassung der Vereinigten Staaten gegen alle Feinde im In- und Ausland unterstützen und verteidigen werde ...« Sie musste eine Träne zurückblitzen, als sie fortfuhr. Das ist echt, sagte sie sich selbst. Das passiert gerade wirklich. Sie hatte keine Ahnung, was sie von diesem Moment an erwartete. Aber sie war sich sicher, dass ihr Leben nie wieder dasselbe sein würde. * Nach der Zeremonie nahm Hoke Gilmer die Praktikanten mit auf eine lange Tour durch das J. Edgar Hoover Building. Riley war immer wieder erstaunt über die Größe und Komplexität des Gebäudes und über die zahlreichen Aktivitäten, die hier stattfanden. Es gab verschiedene Fitnessräume, einen Basketballplatz, eine medizinische Klinik, eine Druckerei, viele verschiedene Labore und Computerräume, einen Schießstand und sogar eine Leichenhalle und eine Autowerkstatt. All das überwältigte ihre Sinne. Nach Abschluss der Tour wurde die Gruppe in die Cafeteria im achten Stock gebracht. Riley fühlte sich erschöpft, als sie Essen auf ihr Tablett stellte − nicht so sehr von den Kilometern, die sie zurückgelegt hatte, sondern von allem, was sie gesehen und versucht hatte, aufzunehmen. Wie viel von dieser wunderbaren Einrichtung würde sie in den zehn Wochen, die sie hier verbringen durfte, ausprobieren können? Sie wollte alles lernen, was sie konnte, so schnell wie möglich. Und sie wollte sofort damit anfangen. Doch als sie ihr Tablett trug und nach einem Platz zum Essen suchte, fühlte sie sich seltsam deplatziert. Die anderen Praktikanten schienen bereits Freundschaften zu schließen, saßen in Gruppen beisammen und unterhielten sich aufgeregt über den Tag, den sie verbracht hatten. Sie sagte sich, sie solle sich zu einigen ihrer jungen Kollegen setzen, sich vorstellen und einige von ihnen kennenlernen. Aber sie wusste, dass es nicht einfach werden würde. Riley hatte sich schon immer wie eine Außenseiterin gefühlt − und Freunde zu finden und sich anzupassen, war für sie nie selbstverständlich gewesen. Und im Moment fühlte sie sich noch schüchterner, als sie sich jemals erinnern konnte. Und entsprang es nur ihrer Fantasie oder starrten einige der Praktikanten sie an und flüsterten über sie? Sie hatte sich gerade entschieden, sich an einen freien Tisch zu setzen, als sie eine Stimme neben sich hörte. »Du bist Riley Sweeney, nicht wahr?« Sie drehte sich um und sah einen jungen Mann, der ihr im Auditorium und während der Führung ins Auge gefallen war. Sie hatte bemerkt, dass er auffallend gut aussah, etwas größer war als sie, kräftig und athletisch, mit kurzem lockigem Haar und einem angenehmen Lächeln. Sein Anzug sah teuer aus. »Ähm, ja«, sagte Riley und fühlte sich plötzlich noch schüchterner als zuvor. »Und du ...« »John Welch. Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich würde anbieten, dir die Hand zu schütteln, aber ...« Er nickte auf die Tabletts, die sie beide trugen, und lachte ein wenig. »Möchtest du dich zu mir setzen?«, fragte er. Riley hoffte, dass sie nicht errötete. »Sicher«, sagte sie. Sie setzten sich an einem Tisch gegenüber voneinander und begannen zu essen. Riley fragte: »Woher kennst du meinen Namen?« John lächelte schelmisch und sagte: »Du machst Witze, oder?« Riley war verwirrt. Sie schaffte es, sich selbst davon abzuhalten, zu sagen ... Nein, ich mache keine Witze. John zuckte mit den Achseln und sagte: »So ziemlich jeder hier weiß, wer du bist. Ich schätze, man könnte sagen, dass dein Ruf dir vorauseilt.« Riley sah zu einigen der anderen Studenten hinüber. Tatsächlich starrten einige von ihnen sie noch immer an und tauschten sich flüsternd aus. Riley wurde sich klar ... Sie werden erfahren haben, was in Lanton passiert ist. Aber wie viel wussten sie? Und war das eine gute oder eine schlechte Sache? Mit einem ›Ruf‹ unter den Praktikanten hatte sie sicherlich nicht gerechnet. Dieser Gedanke ließ sie sich extrem verunsichert fühlen. »Wo kommst du her?«, fragte sie. »Genau hier aus D.C.«, sagte John. »Ich habe im Frühjahr dieses Jahres meinen Bachelor in Kriminologie gemacht.« »An welcher Schule?«, fragte Riley. John errötete ein wenig. »Ähm − George Washington University«, sagte er. Riley fühlte, wie sich ihre Augen bei der Erwähnung eines so teuren Colleges weiteten. Er war sicher ziemlich wohlhabend, dachte sie. Sie spürte auch, dass er sich deswegen etwas unbehaglich fühlte. »Wow, einen Abschluss in Kriminologie«, sagte sie. »Ich habe nur einen in Psychologie. Da bist du mir wirklich einen Schritt voraus.« John lachte. »Dir voraus? Ich glaube nicht. Ich meine, du bist wahrscheinlich der einzige Praktikant im Programm mit echter Felderfahrung.« Jetzt war Riley wirklich verblüfft. Felderfahrung? Sie hatte das, was damals in Lanton passiert war, nicht als ›Felderfahrung‹ betrachtet. John fuhr fort: »Ich meine, du hast tatsächlich geholfen, einen echten Serienmörder aufzuspüren und zu fassen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gewesen sein muss. Ich beneide dich wirklich.« Riley runzelte die Stirn und schwieg. Sie wollte es nicht aussprechen, aber Neid schien eine schrecklich unangemessene Emotion zu sein, um nachzuempfinden, was sie durchgemacht hatte. Was dachte John, was in diesen schrecklichen Wochen in Lanton vorgefallen war? Hatte er eine Ahnung, wie es war, die Leichen von zwei ihrer besten Freundinnen zu finden, deren Kehlen brutal aufgeschlitzt worden waren? Wusste er, wie entsetzt und traurig sie sich gefühlt hatte − und auch wie schuldig? Noch immer verfolgte sie der Gedanke, dass ihre Mitbewohnerin Trudy noch am Leben sein würde, wenn Riley nur besser auf sie aufgepasst hätte. Und hatte er eine Ahnung, wie verängstigt sie war, als sie selbst in die Klauen des Mörders geraten war? Riley nahm einen Schluck von ihrer Limonade und stieß mit der Gabel in ihr Essen. Dann sagte sie: »Es war ... nun, es war nicht so, wie du es dir vielleicht vorstellst. Es ist nur etwas, das passiert ist.« Jetzt sah John sie mit echter Sorge an. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich nehme an, du willst nicht darüber reden.« »Vielleicht ein anderes Mal«, sagte Riley. Es entstand eine unangenehme Stille. Riley wollte nicht unhöflich sein und begann, John Fragen über sich selbst zu stellen. Er schien nur ungern über sein Leben und seine Familie zu sprechen, aber Riley konnte ihm ein bisschen entlocken. Johns Eltern waren beide prominente Anwälte, die in starkem Maße in der Politik in D.C. engagiert waren. Riley war beeindruckt − nicht so sehr von Johns wohlhabendem Hintergrund, sondern davon, dass er einen anderen Weg gewählt hatte als die anderen in seiner Familie. Anstatt eine angesehene Karriere in Recht und Politik zu verfolgen, hatte sich John einem bescheideneren Leben in der Strafverfolgung verschrieben. Ein wahrhafter Idealist, dachte Riley. Sie verglich ihn mit Ryan, der versuchte, seinen bescheidenen Hintergrund hinter sich zu lassen, indem er ein erfolgreicher Anwalt wurde. Natürlich bewunderte sie Ryans Ehrgeiz. Das war eines der Dinge, die sie an ihm liebte. Aber sie kam nicht umhin, auch John für die Entscheidungen zu bewundern, die er getroffen hatte. Während sie weiterredeten, spürte Riley, dass John seinen Charme für sie ausspielte. Er flirtet mit mir, wurde ihr klar. Sie war ein wenig erstaunt darüber. Ihre linke Hand lag offen sichtbar auf dem Tisch, sodass er gewiss ihren neuen Verlobungsring sehen konnte. Sollte sie erwähnen, dass sie verlobt war? Sie hatte das Gefühl, dass das irgendwie unangenehm wäre − vor allem, wenn sie sich irrte. Vielleicht flirtete er überhaupt nicht mit mir. Schon bald stellte John Fragen über Riley, wobei er sich vorsichtig vom Thema der Morde in Lanton fernhielt. Wie üblich vermied Riley bestimmte Probleme − ihre schwierige Beziehung zu ihrem Vater, ihre rebellischen Teenagerjahre und vor allem, dass sie mit ansehen musste, wie ihre eigene Mutter erschossen wurde, als sie ein kleines Mädchen war. Außerdem kam Riley zu dem Schluss, dass sie im Gegensatz zu Ryan oder John wirklich nicht viel über ihre Hoffnungen, die Zukunft betreffend, zu sagen hatte. Was sagt das über mich aus? fragte sie sich. Schließlich sprach sie doch noch über ihre wachsende Beziehung zu Ryan und dass sie sich erst gestern verlobt hatten − allerdings erwähnte sie nicht, dass sie schwanger war. Sie bemerkte keine besondere Veränderung in Johns Verhalten. Ich schätze, er ist einfach von Natur aus charmant, dachte sie. Sie war erleichtert bei dem Gedanken, dass sie voreilige Schlüsse gezogen und er nicht mit ihr geflirtet hatte. Er war ein netter Kerl und sie freute sich darauf, ihn besser kennenzulernen. Tatsächlich war sie sich ziemlich sicher, dass John und Ryan sich mögen würden. Vielleicht könnten sie sich bald alle einmal treffen. Nachdem die Praktikanten ihre Mahlzeiten beendet hatten, trommelte Hoke Gilmer sie zusammen und brachte sie ein paar Stockwerke tiefer in einen großen Aufenthaltsraum, der für die kommenden zehn Wochen ihr Hauptquartier sein sollte. Ein jüngerer Agent, der Gilmer assistierte, wies jedem der Praktikanten einen Spind zu. Dann setzten sich alle Praktikanten an die Tische und Stühle in der Mitte des Raumes und der jüngere Agent begann, Handys zu verteilen. Gilmer erklärte: »Wir befinden uns am Beginn des 21. Jahrhundert und das FBI mag es nicht, den neuesten Technologien hinterherzuhinken. Wir werden in diesem Jahr keine Pager verteilen. Einige von Ihnen besitzen vielleicht ein eigenes Handy, aber wir möchten, dass Sie ein separates für das FBI haben. Eine Anleitung finden Sie in Ihrem Orientierungspaket.« Dann lachte Gilmer, als er hinzufügte: »Ich hoffe, Sie werden sich leichter damit tun, zu lernen, wie man es benutzt, als ich.« Einige der Praktikanten lachten und nahmen ihr neues Spielzeug in Empfang. Rileys Handy fühlte sich seltsam klein in ihrer Hand an. Sie war an größere schnurlose Telefone gewöhnt und hatte noch nie zuvor ein Handy benutzt. Obwohl sie in Lanton Computer benutzt hatte und einige ihrer Freunde dort Handys gehabt hatten, besaß sie immer noch keins. Ryan hatte natürlich bereits einen Computer und ein Handy und er neckte Riley manchmal wegen ihrer veralteten Gewohnheiten. Das hatte ihr nicht sonderlich gefallen. Die Wahrheit war, dass der einzige Grund, warum sie bisher weder einen Computer noch ein Handy besaß, darin bestand, dass sie es sich nicht leisten konnte. Dieses hier sah fast genau wie Ryans aus − sehr einfach, mit einem kleinen Bildschirm für Textnachrichten, einem Ziffernblock und nur drei oder vier weiteren Tasten. Dennoch fühlte es sich seltsam an, als sie realisierte, dass sie noch nicht einmal wusste, wie man damit einen normalen Telefonanruf machte. Sie wusste, dass es sich auch seltsam anfühlen würde, die ganze Zeit telefonisch erreichbar zu sein, egal wo sie sich gerade befand. Sie erinnerte sich daran ... Ich beginne ein ganz neues Leben. Riley bemerkte, dass gerade eine Gruppe von offiziell aussehenden Personen, die meisten von ihnen Männer, in die Aufenthaltsraum gekommen waren. Gilmer sagte: »Jeder von Ihnen wird während seiner Wochen hier von einem erfahrenen Special Agent begleitet. Sie beginnen damit, Ihnen Kenntnisse in ihren eigenen Fachgebieten zu vermitteln − Analyse von Verbrechensdaten, forensische Arbeit, Computerlaborarbeit und was sie sonst noch alles machen. Wir stellen sie Ihnen jetzt vor und dann übernehmen sie die Dinge von hier.« Als der jüngere Agent jeden der Praktikanten seinem Supervisor zugeteilt hatte, erkannte Riley ... Es gibt einen Agenten weniger, als es Praktikanten waren. Nachdem die anderen Praktikanten mit ihren Mentoren weggegangen waren, fand sich Riley tatsächlich ohne einen eigenen Supervisor wieder. Sie sah Gilmer perplex an. Gilmer lächelte leicht und sagte: »Sie finden den Agenten, dem Sie wie ein Schatten folgen werden, weiter den Flur hinunter in Zimmer neunzehn.« Riley war ein wenig verunsichert, verließ den Aufenthaltsraum und ging den Flur hinunter, bis sie das richtige Zimmer fand. Sie öffnete die Tür und sah, dass ein kleiner, fassförmiger Mann mittleren Alters auf der Kante eines Tischs saß. Riley schnappte laut nach Luft, als sie ihn erkannte. Es war Special Agent Jake Crivaro − der Agent, mit dem sie in Lanton zusammengearbeitet und der ihr das Leben gerettet hatte.
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