KAPITEL ZWEI

1968 Words
KAPITEL ZWEI Bill fühlte wie Sorge kribbelnd in ihm aufstieg, als er Riley auf den Schießplatz der Marine führte. Bin ich für das hier überhaupt bereit?, fragte er sich. Die Frage erschien ihm beinahe albern. Schließlich handelte es sich nur um eine Schießübung. Und doch war es keine gewöhnliche Schießübung. Genau wie er trug Riley Tarnkleidung und eine geladene M16-A4. Aber im Gegensatz zu Bill hatte Riley keine blasse Ahnung, warum sie hier waren. „Ich wünschte, du würdest mir sagen, worum es geht", sagte Riley. „Es wird für uns beide eine völlig neue Erfahrung sein", sagte er. Er hatte diese neue Art des Schießens noch nie ausprobiert, aber Mike Nevins, der Psychiater, der ihm mit seiner Posttraumatischen Belastungsstörung geholfen hatte, hatte es ihm empfohlen. „Das wird eine gute Therapie für Sie sein", hatte Mike gesagt. Bill hoffte, dass Mike Recht behalten sollte. Er hoffte auch, dass er die Nerven behielt, wenn Riley bei ihm war. Bill und Riley nahmen nebeneinander ihre Positionen zwischen den vier mal vier aufrechten Holzpfosten ein, die auf eine gepflasterten Fläche hinter einer breiten Wiese zeigten. Auf dem gepflasterten Gebiet befanden sich vertikale Barrieren, auf denen Einschusslöcher markiert waren. Bill hatte schon einige Minuten zuvor mit dem Mann in der Kontrollkabine gesprochen, so dass jetzt alles für sie vorbereitet sein sollte. Jetzt sprach er mit dem selben Typen durch ein kleines Mikrofon vor seinem Mund. „Zufällige Zielauswahl. Und Los!“ Plötzlich tauchten menschengroße Figuren hinter den Absperrungen auf, die sich alle im gepflasterten Bereich bewegen. Sie trugen die Uniformen von ISIS-Kämpfern und schienen bewaffnet zu sein. „Feindliche Subjekte!“, rief Bill Riley zu. „Schieß!" Riley war zu erschrocken, um zu schießen, aber Bill hatte einen Schuss abgegeben und das Ziel verfehlt. Dann feuerte er einen weiteren Schuss ab, der eine der Figuren traf. Die Figur fiel zur einen Seite um und bewegte sich nicht mehr. Die anderen Figuren drehten sich weg, um den Schüssen zu entgehen, wobei einige von ihnen sich schneller bewegten, während andere hinter den Schranken verschwanden. Riley sagte: „Was zum Teufel!" Sie hatte immer noch keinen Schuss abgegeben. Bill lachte. „Stopp", sagte er ins Mikrofon. Plötzlich verblieben alle Figuren dort, wo sie sich befanden, bewegungslos stehen. „Wir schießen heute also auf Fake-Bösewichte auf Rädern?“, fragte Riley lachend. Bill erklärte: „Es handelt sich um Roboter, die auf Segway-Roller montiert sind. Der Typ, mit dem ich vor einer Minute in der Kabine gesprochen habe, startet das Programm, dem sie folgen sollen. Aber er kontrolliert nicht jede ihrer Bewegungen. Eigentlich kontrolliert er sie gar nicht. Sie „wissen", was zu tun ist. Sie haben Laserscanner und Navigationsalgorithmen, damit sie den Barrieren und sich gegenseitig ausweichen können." Rileys Augen waren vor Staunen ganz groß geworden. „Ja“, sagte sie. „Und sie wissen genau, was zu tun ist. Wenn die Schießerei losgeht, rennen sie weg oder verstecken sich, oder auch beides." „Willst du es noch mal versuchen?“, fragte Bill. Riley nickte und sah begeistert aus. Erneut sprach Bill ins Mikrofon: „Zufällige Zielauswahl. Und Los!“ Wie zuvor begannen die Figuren sich zu bewegen, und Riley und Bill feuerten einzelne Schüsse auf sie ab. Bill traf einen der Roboter, und Riley tat es ihm gleich. Beide Roboter blieben stehen und neigten sich nach vorne. Die anderen Roboter stoben auseinander, einige eilten willkürlich durch die Gegend, andere verstecken sich hinter den Barrieren. Riley und Bill schossen weiter, aber das Schießen war jetzt schwieriger geworden. Die Roboter, die sich noch bewegten, schossen in unvorhersehbaren Bahnen und in unterschiedlicher Geschwindigkeit hin- und her. Diejenigen, die sich hinter den Schranken versteckten, tauchten immer wieder auf, als wollten sie Riley und Bill dazu bringen, auf sie zu schießen. Es war unmöglich zu sagen, von welcher Seite der Barriere aus sie als nächstes auftauchen würden. Dann huschten sie entweder in der Schusslinie herum oder suchten erneut Zuflucht. Trotz des scheinbaren Chaos dauerte es nur etwa eine halbe Minute, bis Riley und Bill alle acht Roboter ausgeschaltet hatten. Nun lagen sie alle gebeugt und regungslos zwischen den Barrieren. Riley und Bill senkten ihre Waffen. „Das war seltsam", sagte Riley. „Willst du lieber aufhören?“, fragte Bill. Riley kicherte. „Machst du Witze? Auf keinen Fall. Was kommt als nächstes?" Bill schluckte, und wurde plötzlich nervös. „Wir sollen Feinde ausschalten, ohne dabei Zivilisten zu töten", sagte er. Riley sah ihn mitfühlend an. Er verstand ihre Sorge. Sie wusste genau, warum er sich bei dieser neuen Übung unwohl fühlte. Es erinnerte ihn an den unschuldigen jungen Mann, den er letzten Monat versehentlich angeschossen hatte. Der Junge hatte sich von seiner Wunde zwar erholen können, aber Bill ließen die Schuldgefühle dennoch nicht los. Außerdem verfolgte dieser Vorfall Bill, weil die brillante junge Agentin namens Lucy Vargas dabei getötet worden war. Hätte ich sie doch nur retten können, dachte er bei sich. Bill war seit jenem Vorfall offiziell beurlaubt und fragte sich, ob er jemals wieder würde arbeiten können. Er war völlig zusammengebrochen, dem Alkohol verfallen und hatte sogar über Selbstmord nachgedacht. Riley hatte ihm dabei geholfen—wahrscheinlich hatte sie ihm sogar das Leben gerettet. Bill fühlte sich, als würde es ihm schon viel besser gehen. Aber war er für das hier bereit? Riley beobachtete ihn immer noch sorgenvoll. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte sie. Wieder erinnerte sich Bill daran, was Mike Nevins gesagt hatte. „Das wird eine gute Therapie für Sie sein." Bill nickte Riley zu. „Ich denke schon", sagte er. Sie nahmen ihre Positionen wieder ein und hoben die Waffen. Bill sprach erneut ins Mikrofon: „Feindliche Subjekte und Zivilisten." Die gleiche Situation wie zuvor entfalten sich vor ihnen—nur diesmal war eine der Figuren eine Frau, die in einen blauen Hijab gehüllt war. Es war sicherlich nicht schwer, sie von den Feinden in ihren tristen, braunen Outfits zu unterscheiden. Aber sie bewegte sich unter den anderen in ebenso scheinbar zufälligen Bewegungsmustern. Riley und Bill fingen an, die Feinde genauso abzuknallen wie zuvor, und einige der männlichen Figuren wichen den Kugeln erneut aus, während andere sich hinter den Schranken versteckten, nur um in unvorhersehbaren Momenten wieder hervorzuschießen. Auch die weibliche Figur bewegte sich jetzt, als sei sie vom Feuer der Gewehre erschrocken und eilte hektisch hin und her, versteckte sich aber dennoch nie hinter einer der Schranken. Ihre simulierte Panik machte es nur noch schwerer, sie nicht aus Versehen zu treffen. Bill fühlte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn bildete, als er wieder und wieder feuerte. Bald hatten er und Riley alle Feinde erschossen, und die Frau im Hijab stand immer noch unversehrt da. Bill stieß einen langgezogenen Seufzer der Erleichterung aus und senkte seine Waffe. „Wie geht es dir?“, fragte Riley, und Sorge schwang dabei in ihrer Stimme mit. „Ziemlich gut, schätze ich," sagte Bill. Doch seine Handflächen an der Waffe fühlten sich feucht an, und er zitterte ein wenig. „Vielleicht reicht das fürs Erste", sagte Riley. Bill schüttelte den Kopf. „Nein", sagte er. „Das nächste Programm müssen wir auch noch ausprobieren." „Worum wird es dabei gehen?" Bill schluckte hart. „Es ist eine Geiselnahme. Der Zivilist wird getötet werden, sollten wir es nicht schaffen, gleichzeitig zwei Feinde ausschalten." Riley blinzelte ihn zweifelnd an. „Bill, ich weiß nicht...." „Komm schon", sagte Bill. „Es ist nur ein Spiel. Lass es uns versuchen." Riley zuckte mit den Achseln und hob ihre Waffe. Bill sprach ins Mikrofon: „Geiselsituation. Los geht’s." Die Roboter wurden wieder lebendig. Die weibliche Figur blieb im offenen Feld, während die Feinde hinter den Schranken verschwanden. Dann tauchten zwei der Feinde hinter den Schranken auf, und schwebten bedrohlich um die weibliche Figur herum, die in scheinbarer Angst hin und her wackelte. Bill wusste, dass die Kunst für ihn und Riley darin lag, auf beide Feinde sofort und gleichzeitig zu schießen, sobald sie freien Schuss hatten. Es war seine Aufgabe, diesen Moment zu benennen. Als er und Riley ihre Waffen sorgfältig zum Schuss ansetzten, sagte Bill.... „Ich nehme den Linken, du den Rechten. Feuer frei, sobald ich ‚Los‘ sage.“ „Geht klar", sagte Riley leise. Bill überwachte sorgfältig die Bewegungen und Positionen der beiden feindlichen Subjekte. Er erkannte, dass es schwerer werden würde, als er erwartet hatte. Der zweite der Feinde trieb davon, während der andere Feind sich gefährlich nahe an die Geisel stellte. Ob wir wohl jemals eine freie Schussbahn bekommen?, fragte er sich. Dann, für einen flüchtigen Moment bloß, trieben beiden Feinde in entgegengesetzte Richtungen ca. einen Meter von der Geisel weg. „Los!“, bellte Bill. Doch bevor er den Abzug betätigen konnte, wurde er von einer Flut von Bildern überrollt … Er raste gerade auf ein verlassenes Gebäude zu, als er einen Schuss hörte. Er zog seine Waffe und rannte hinein, wo er Lucy am Boden liegen sah. Dann sah er einen jungen Mann, der auf sie zuging. Instinktiv schoss Bill auf den Mann und traf ihn. Der Mann drehte sich vor dem Fall––und erst dann sah Bill, dass seine Hände leer waren. Er war unbewaffnet. Der Mann hatte nur versucht, Lucy zu helfen. Tödlich verwundet, stützte sich Lucy auf die Ellenbogen und feuerte sechs Schuss auf ihren echten Angreifer ab ... ...der Mann, auf den Bill hätte schießen sollen. Ein Schuss fiel aus Rileys Gewehr und riss Bill aus seinem Tagtraum. Die Bilder waren in Sekundenbruchteilen gekommen und wieder verschwunden. Einer der Feinde kippte um, getötet von Rileys Schuss. Aber Bill selbst stand wie angefroren da. Er konnte einfach nicht abdrücken. Der Feind, der überlebt hatte, wandte sich bedrohlich der Frau zu, und über einen Lautsprecher ertönte vom Band ein Schuss. Die Frau krümmte sich und hielt inne. Schließlich feuerte Bill seine Waffe ab und traf den überlebenden Feind—aber für die Geisel kam alles zu spät, da sie bereits tot war. Für einen Moment schien die Situation schrecklich real. „Jesus", sagte er. „Oh, Jesus, wie konnte ich das zulassen?" Bill trat vor, fast so, als wolle er der Frau zu Hilfe eilen. Riley trat jetzt ebenfalls vor, um ihn aufzuhalten. „Es ist okay, Bill! Es ist doch nur ein Spiel! Das hier ist nicht echt!" Bill blieb zitternd stehen, und versuchte sich zu beruhigen. „Riley, es tut mir leid, es ist nur so.... für eine Sekunde war alles wieder da und...." „Ich weiß", sagte Riley tröstend. „Ich verstehe." Bill brach in sich zusammen und schüttelte den Kopf. „Vielleicht bin ich noch nicht bereit dafür", sagte er. „Vielleicht sollten wir für heute aufhören.“ Riley klopfte ihm auf die Schulter. „Nein", sagte sie. „Ich denke, es ist besser, wenn du es jetzt durchziehst." Bill nahm ein paar lange, langsame Atemzüge. Er wusste, dass Riley Recht hatte. Also nahmen Riley und er ihre Positionen wieder auf, und Bill sprach erneut ins Mikrofon ... „Geiselnahme. Los geht’s.“ Die Ausgangssituation war wieder die Gleiche, mit zwei Feinden, die gefährlich nahe bei der Geisel lauerten. Während Bill durch seine Visier blickte, atmete er langsam ein und aus. Es ist nur ein Spiel, sagte er zu sich. Es ist nur ein Spiel. Endlich kam der Moment, auf den er wartete. Die beiden Feinde hatten sich kaum merklich von der Geisel entfernt. Es war immer noch ein gefährlicher Schuss, aber Bill und Riley mussten es wagen. „Feuer frei!“, sagte er. Diesmal schoss er sofort, und den Bruchteil einer Sekunde später hörte er das Geräusch von Rileys Schuss. Beiden feindlichen Subjekte fielen nach vorne und hörten auf, sich zu bewegen. Bill senkte seine Waffe. Riley klopfte ihm auf die Schulter. „Du hast es geschafft, Bill", sagte sie lächelnd. „Das macht mir Spaß. Was sonst können wir mit diesen Bots noch anfangen?" Bill sagte: „Es gibt ein Programm, bei dem wir auf sie zugehen können, während wir schießen." „Lass es uns ausprobieren." Bill sprach wieder in sein Mikrofon. "Nahkampf." Alle acht Feinde begannen sich zu bewegen, und Bill und Riley rückten Schritt für Schritt auf sie zu und feuerten Schuss um Schuss. Ein paar Roboter fielen, und die anderen huschten herum und wurden immer schwerer zu treffen. Als Bill weiter schoss, wurde ihm klar, dass in dieser Simulation etwas Entscheidendes fehlte. Sie schießen nicht zurück, dachte er. Seine Erleichterung über die Rettung der Geisel fühlte sich seltsam hohl an. Schließlich hatten Riley und er nur das Leben eines Roboters gerettet. Es änderte nichts an der Realität dessen, was letzten Monat passiert war. Lucy hatte es sicher nicht wieder zum Leben erweckt. Seine Schuld verfolgte ihn immer noch. Ob er jemals in der Lage wäre, sie abzuschütteln? Und ob er wohl jemals wieder seine Arbeit würde ausüben können?
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