KAPITEL DREI
Im Anschluss an ihre Schießübung machte sich Riley immer noch Sorgen um Bill. Es stimmte, nach seinem Zusammenbruch hatte er sich schnell erholt. Und, als sie aus nächster Nähe zu schießen begonnen hatten, schien er sich richtig zu amüsieren
Als er Quantico verließ, um in seine Wohnung zurückzukehren, erschien er ihr sogar fröhlich. Dennoch war er nicht mehr der alte Bill, der so viele Jahre lang ihr Partner gewesen, und dabei längst ihr bester Freund geworden war.
Sie wusste, worüber er sich am meisten Sorgen machte.
Bill hatte Angst, dass er nie wieder zur Arbeit kommen könnte.
Sie wünschte, sie könnte ihn mit freundlichen, einfachen Worten beruhigen—etwas wie....
„Du machst einfach eine schwere Zeit durch. Das passiert uns allen. Du wirst früher drüber hinweg sein, als du denkst."
Aber dahingesagte Zusicherungen waren nicht das, was Bill jetzt brauchte. Und in Wahrheit wusste Riley auch nicht, ob es stimmte.
Sie hatte selbst eine Phase erlebt, in der sie unter PTBS litt und wusste, wie schwer der Weg zur Genesung sein konnte.
Sie würde Bill einfach helfen müssen, diesen schrecklichen Prozess durchzustehen.
Obwohl Riley zurück in ihr Büro ging, gab es für sie bei der BAU heute eigentlich wenig zu tun. Sie hatte derzeit keinen Auftrag, und diese geruhsamen Tage kamen ihr nach der Intensität des letzten Falles in Iowa sehr gelegen. Sie erledigte die Kleinigkeiten, die ihre Aufmerksamkeit erforderten, und ging.
Als Riley nach Hause fuhr, fühlte sie sich bei dem Gedanken an ein Abendessen im Kreise ihrer Familie regelrecht beschwingt. Besonders zufrieden war sie darüber, dass sie Blaine Hildreth und seine Tochter für heute Abend eingeladen hatte.
Riley war erfreut, dass Blaine Teil ihres Lebens war. Er war ein hübscher, charmanter Mann. Und wie sie war er erst seit kurzem geschieden.
Wie sich herausgestellt hatte, war er auch bemerkenswert mutig.
Es war Blaine, der auf Shane Hatcher geschossen und ihn schwer verletzt hatte, als Hatcher Rileys Familie bedroht hatte.
Riley würde ihm dafür auf ewig dankbar sein.
Bislang hatte sie bloß eine Nacht mit Blaine verbracht, da waren sie bei ihm zu Hause gewesen. Sie achteten sehr auf Diskretion, und seine Tochter Crystal hatte die Frühlingsferien bei ihren Cousins verbracht. Riley lächelte über die Erinnerung an ihr leidenschaftliches Liebesspiel.
Ob der heutige Abend genauso enden würde?
*
Rileys Haushälterin Gabriela hatte eine köstliche Mahlzeit aus Chiles Rellenos nach einem Familienrezept, das sie aus Guatemala mitgebracht hatte, zubereitet. Alle genossen die dampfenden, üppig gefüllten Paprikaschoten.
Riley war sehr zufrieden mit dem so guten Essen und der wunderbaren Gesellschaft, die sie genoß.
„Nicht zu picante?“, fragte Gabriela.
Natürlich war das Essen auch für US-amerikanische Geschmacksnerven nicht zu scharf und würzig, und Riley war sicher, dass Gabriela das wusste. Gabriela hielt sich, was ihre original mittelamerikanischen Rezepte betraf, stets zurück. Ganz offensichtlich bevorzugte sie den ,leichten Weg, Komplimente zu bekommen.
„Nein, es ist perfekt", sagte Rileys fünfzehnjährige Tochter April.
„Das beste Essen aller Zeiten", sagte Jilly, das dreizehnjährige Mädchen, das Riley gerade adoptierte.
„Einfach unglaublich", sagte Aprils beste Freundin Crystal.
Crystals Vater, Blaine Hildreth, sprach nicht sofort. Aber Riley konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass auch er von dem Gericht hingerissen war. Sie wusste auch, dass Blaines Wertschätzung professioneller Natur war. Blaine besaß hier in Fredericksburg ein gehobenes Restaurant, dass sich dabei jedoch einer lässigen Atmosphere erfreute.
„Wie machen Sie das nur, Gabriela?“, fragte er nach ein paar Bissen.
„Es un secreto", sagte Gabriela mit einem schelmischen Grinsen.
„Ein Geheimnis, ja?“, fragte Blaine. „Welche Sorte Käse haben Sie denn benutzt? Ich kann es nicht einordnen. Es ist weder Monterey Jack noch Chihuahua. Manchego vielleicht?"
Gabriela schüttelte den Kopf.
„Ich werde es Ihnen nie verraten", sagte sie lächelnd.
Während Blaine und Gabriela weiter über das Rezept scherzten, teils auf Englisch, teils auf Spanisch, fragte sich Riley, ob sie und Blaine vielleicht....
Sie errötete ein wenig bei der Idee.
Nein, heute Abend wird bestimmt nichts passieren.
Da die ganze Familie anwesend war, würde es kaum eine Möglichkeit für ein diskretes Miteinander geben.
Nicht, dass sie mit den Dingen, wie sie waren, nicht einverstanden gewesen wäre.
Von Menschen umgeben zu sein, die ihr so viel bedeuteten, war ihr an diesem besonderen Abend Freude genug. Aber als sie zusah, wie sich ihre Familie und Freunde amüsierten, wurden Rileys Gedanken von eine neuen Anliegen heimgesucht.
Eine Person am Tisch hatte bisher kaum ein Wort gesagt, und das war Liam, der Neuzugang in Rileys Haushalt. Liam war in Aprils Alter, und die beiden Teenager waren schon einmal miteinander ausgegangen. Riley hatte den großen, schlaksigen Jungen vor seinem übergriffigen, betrunkenen Vater gerettet. Er brauchte einen Platz zum Leben, und dieser Ort war jetzt eben das Sofa in Rileys Familienzimmer, auf dem er schlief.
Liam war normalerweise gesprächig und kontaktfreudig. Aber etwas schien ihn heute Abend zu beunruhigen.
Riley fragte: „Stimmt etwas nicht, Liam?"
Der Junge schien sie nicht einmal zu hören.
Riley sprach etwas lauter.
„Liam."
Liam blickte von seinem Essen auf, das er bisher kaum angerührt hatte.
„Was?“, fragte er.
„Stimmt etwas nicht?"
„Nein. Warum?"
Riley kniff unruhig die Augen zusammen. Etwas war nicht in Ordnung. Liam war selten so einsilbig.
„Ich habe mich nur gewundert", sagte sie.
Sie nahm sich vor, später mit Liam allein zu sprechen.
*
Beim Nachtisch übertraf sich Gabriela mit einer köstlichen Obstorte. Anschließend genossen Riley und Blaine einen Drink, während die vier Kinder sich im Familienzimmer unterhielten, und dann gingen Blaine und seine Tochter nach Hause.
Riley wartete bis April und Jilly auf ihre Zimmer gingen. Dann ging sie allein ins Familienzimmer. Liam saß ruhig auf dem noch zugeklappten Schlafsofa und starrte ins Leere.
„Liam, ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Ich wünschte, du würdest mir davon erzählen."
„Da ist nichts", sagte Liam.
Riley verschränkte ihre Arme und sagte nichts. Sie wusste vom Umgang mit den Mädchen, dass ihm Umgang mit jungen Menschen, abwarten manchmal die beste Strategie war.
Dann sagte Liam: „Ich will nicht darüber reden."
Riley war erschrocken. An die jugendliche Launen von April und Jilly war sie gewöhnt, zumindest von Zeit zu Zeit. Doch für Liam war so ein Verhalten völlig untypisch. Er war stets angenehm und zuvorkommend. Auch war er ein engagierter Schüler, und Riley schätzte seinen guten Einfluss auf April.
Schweigend wartete Riley weiter.
Schließlich sagte Liam: „Ich bekam heute einen Anruf von Dad."
Riley spürte ein Ziehen in der Magengrube.
Sie kam nicht umhin, sich an diesen schrecklichen Tag zu erinnern, als sie zu Liams Haus geeilt war, um ihn davor zu bewahren, von seinem Vater übel verprügelt zu werden.
Sie wusste, dass sie nicht überrascht sein sollte. Dennoch wusste sie nicht, was sie darauf sagen sollte.
Liam sagte: „Er sagt, dass ihm all das leid tue. Er sagt, dass er mich vermisst."
Rileys Sorge wurde größer. Sie besaß für Liam nicht das Sorgerecht. Im Moment fungierte sie als eine Art spontane Pflegemutter, und sie hatte keine Ahnung, was ihre zukünftige Rolle in seinem Leben sein würde.
„Möchte er, dass du nach Hause kommst?“, fragte Riley.
Liam nickte.
Riley konnte sich nicht dazu durchringen, die offensichtliche Frage zu stellen....
„Was möchtest du?"
Was würde sie tun ––was könnte sie tun––wenn Liam sagte, dass er zurück wolle?
Riley wusste, dass Liam ein sanftmütiger Junge war, der schnell verzieh. Wie viele Opfer von Missbrauch war auch er anfällig für konsequente Verleugnung.
Riley setzte sich neben ihn.
Sie fragte: „Warst du hier glücklich?"
Aus Liams Kehle drang ein kleines Würgegeräusch. Zum ersten Mal erkannte Riley, dass er den Tränen nahe war.
„Oh, ja", sagte er. „ Das war.... Ich war sehr glücklich."
Riley fühlte, wie ihre eigene Kehle ihr eng wurde. Sie wollte ihm sagen, dass er so lange hier bleiben konnte, wie er nur wollte. Aber was könnte sie tun, wenn sein Vater von ihm verlangte, dass er zurückkehrte? Es läge nicht in ihrer Macht, das zu verhindern.
Eine Träne lief jetzt Liams Wange hinunter.
„Es ist nur, dass.... seit Mom weg ist.... Ich bin alles, was Dad noch hat. Oder zumindest war ich das, bis ich ging. Jetzt ist er ganz allein. Er sagt, er trinkt nicht mehr. Er sagt, er würde mir nichts mehr antun."
Riley platzte beinahe hervor....
„Glaub ihm nicht. Glaube ihm nie, wenn er so etwas sagt."
Stattdessen sagte sie: „Liam, du musst wissen, dass dein Vater sehr krank ist."
„Ich weiß", sagte Liam.
„Es liegt an ihm, sich die Hilfe zu holen, die er braucht. Aber bis er das tut, wird es sehr schwer für ihn sein, sich zu ändern."
Riley schwieg für einen Moment.
Dann fügte sie hinzu: „Denk immer daran, dass es nicht deine Schuld ist. Das weißt du doch, oder?"
Liam unterdrückte ein Schluchzen und nickte.
„Bist du jemals dorthin zurückgegangen, um ihn zu sehen?“, fragte Riley.
Liam schüttelte lautlos den Kopf.
Riley streichelte seine Hand.
„Ich möchte nur, dass du mir eins versprichst. Wenn du zu ihm gehst, geh nicht allein. Ich will bei dir sein. Versprichst du mir das?"
„Ich verspreche es", sagte Liam.
Riley griff nach einer Box mit Taschentüchern und bot sie Liam an, der sich die Augen abwischte und die Nase putzte. Dann saßen beide für ein paar lange Momente der Stille beieinander.
Schließlich sagte Riley: „Brauchst du mich noch bei etwas anderem?"
„Nein. Jetzt geht es mir gut. Danke für.... naja, du weißt schon."
Er lächelte sie schwach an.
„So ziemlich alles", fügte er hinzu.
„Gern geschehen", sagte Riley und erwiderte sein Lächeln.
Sie verließ das Familienzimmer, ging ins Wohnzimmer und setzte sich allein auf die Couch.
Plötzlich entfuhr ihrem Hals ein Schluchzen, und sie fing an zu weinen. Sie war erstaunt, wie sehr sie das Gespräch mit Liam erschüttert hatte.
Doch als sie darüber nachdachte, lag der Grund auf der Hand.
Ich bin einfach überfordert, dachte sie.
Immerhin versuchte sie immer noch, Jillys Adoption zu regeln. Sie hatte das arme Mädchen aus ihrem eigenen Elend gerettet. Als Riley sie gefunden hatte, hatte Jilly versucht, aus reiner Verzweiflung ihren Körper zu verkaufen.
Was hatte sich Riley also bloß dabei gedacht, sich noch einen Teenager ins Haus zu holen?
Sie wünschte sich plötzlich, Blaine wäre noch hier, und sie könne mit ihm reden.
Blaine schien immer zu wissen, was er sagen sollte.
Sie hatte die Ruhe zwischen den Fällen für eine Weile genossen, aber nach und nach hatten sich die Sorgen eingeschlichen, vor allem um ihre Familie und heute auch um Bill.
Es fühlte sich kaum nach Urlaub an.
Riley kam nicht umhin, sich zu fragen....
Stimmt etwas nicht mit mir?
War sie irgendwie unfähig, ein ruhiges Leben zu genießen?
Jedenfalls wusste sie, dass sie sich einer Sache sicher sein konnte.
Diese Flaute würde nicht lange anhalten. Irgendwo beging gerade irgendein Monster eine abscheuliche Tat—und es lag an ihr, es aufzuhalten.