KAPITEL EINS
Spezialagentin Riley Paige arbeitete gerade an ihrem Schreibtisch im Gebäude der Behavioral Analysis Unit (BAU) des FBI in Quantico, als sie von einer unwillkommene Erinnerung heimgesucht wurde …
Ein Mann mit dunkler Haut starrte sie mit seinen glasigen Augen an.
Er hatte eine Schusswunde an der Schulter und eine viel gefährlichere Wunde am Bauch.
Mit schwacher, bitterer Stimme sagte er zu Riley …
„Ich befehle dir, mich zu töten."
Rileys Hand lag auf ihrer Waffe.
Sie sollte ihn töten.
Sie hatte allen Grund, ihn zu töten.
Trotzdem wusste sie nicht, was sie tun sollte....
Eine Frauenstimme riss Riley aus ihrer Träumerei.
„Du siehst aus, als hättest du etwas auf dem Herzen."
Riley blickte von ihrem Schreibtisch auf und sah eine junge afroamerikanische Frau mit kurzen glatten Haaren in ihrer Bürotür stehen.
Es war Jenn Roston, die bei Rileys letztem Fall ihre neue Partnerin gewesen war.
Riley schüttelte sich ein wenig.
„Es ist nichts", sagte sie.
Jenns dunkelbraune Augen waren voller Sorge.
Sie sagte: „Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht nichts ist."
Als Riley nicht antwortete, sagte Jenn: „Du denkst an Shane Hatcher, nicht wahr?"
Riley nickte leise. Die Erinnerungen suchten sie dieser Tage ziemlich häufig heim––all diese Erinnerungen an die grauenhafte Konfrontation mit dem verwundeten Mann in der Hütte ihres verstorbenen Vaters.
Zwischen Riley und dem entflohenen Sträfling hatte ein seltsames, verdrehten Band der Loyalität bestanden. Er war fünf Monate lang auf freiem Fuß gewesen, und sie hatte nicht einmal versucht, seine Freiheit einzuschränken––nicht bevor er begonnen hatte, unschuldige Menschen zu ermorden.
Nun war es für Riley schwer nachzuvollziehen, dass sie ihn so lange hatte frei sein lassen.
Sie hatten eine beunruhigende, illegale und sehr, sehr dunkle Beziehung geführt.
Von allen Leuten, die Riley kannte, wusste Jenn am besten, wie dunkel sie wirklich gewesen war.
Schließlich sagte Riley: „Ich denke immer noch, dass ich ihn sofort hätte töten sollen."
Jenn sagte: „Er war verwundet, Riley. Er stellte keine Bedrohung für dich dar."
„Ich weiß", sagte Riley. „Aber ich denke dennoch, dass ich vielleicht zugelassen habe, dass meine Loyalität mein Urteilsvermögen schwächt."
Jenn schüttelte den Kopf.
„Riley, wir hatten doch darüber gesprochen. Du weißt bereits, wie ich darüber denke. Du hast das Richtige getan. Und falls du mir allein nicht glauben möchtest, alle anderen hier sind ganz meiner Meinung."
Riley wusste, dass es stimmte. Ihre Kollegen und Vorgesetzten hatten ihr herzlich dazu gratuliert, dass sie Hatcher lebend gefasst hatte. Ihr Zuspruch war eine willkommene Abwechslung. Solange Riley unter Hatchers Bann gestanden hatte, war ihr gegenüber jeder hier zu Recht misstrauisch gewesen. Nun, da sich die Wolke des Misstrauens aufgelöst hatte, waren die Gesichter ihrer Kollegen wieder freundlich, und sie wurde mit neuem Respekt begrüßt.
Riley fühlte sich hier jetzt wirklich wieder zu Hause.
Dann grinste Jenn und fügte hinzu: „Verdammt nochmal, dieses eine Mal in deinem Leben hast du die Sache sogar nach Vorschrift erledigt."
Riley kicherte. Mit Sicherheit hatte sie die korrekte Vorgehensweise befolgt, als sie Hatcher festgenommen hatte––was mehr war, als sie über den Großteil ihrer Handlungen während des Falls, den sie und Jenn gerade gemeinsam gelöst hatten, sagen konnte.
Riley sagte: „Ja, ich schätze, du hast einen richtigen Crashkurs in meinen… unkonventionellen Methoden genossen."
„Das habe ich wirklich."
Riley kicherte unbehaglich. Sie hatte sogar noch mehr Regeln als sonst ignoriert. Jenn hatte Loyalität bewiesen und sie gedeckt––auch als sie ohne Haftbefehl in das Haus eines Verdächtigen eingebrochen war. Wenn sie dazu entschlossen gewesen wäre, hätte Jenn ihr Vorgehen durchaus melden können. Sie hätte bewirken können, dass Riley gefeuert wurde.
„Jenn, ich weiß das wirklich zu schätzen...."
„Nicht der Rede wert.“, sagte Jenn. „Es liegt alles in der Vergangenheit. Was als nächstes kommt, ist alles, was zählt."
Jenns Lächeln wurde breiter, als sie hinzufügte: „Und ich erwarte nicht, dass du dich wie eine Pfadfinderin verhältst. Das solltest du von mir auch nicht erwarten."
Riley lachte erneut und diesmal befreiter.
Sie fand es schwer zu glauben, dass sie Jenn kürzlich noch misstraut hatte, sie sogar als Gegenspielerin betrachtet hatte.
Schließlich hatte Jenn viel, viel mehr für Riley getan, als nur die Diskretion zu wahren.
„Habe ich dir eigentlich schon dafür gedankt, dass du mir das Leben gerettet hast?“, fragte Riley.
Jenn lächelte.
„Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft", sagte sie.
„Nochmals vielen Dank.“
Jenn sagte nichts. Ihr Lächeln verblasste. Ihr Blick wirkte jetzt abwesend.
„Wolltest du etwas Bestimmtes, Jenn?“, fragte Riley. "Ich meine, warum bist du vorbeigekommen?"
Jenn starrte für einen Moment den Flur hinunter.
Schließlich sagte sie: „Riley, ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll...." Ihre Stimme wurde immer leiser.
Es war für Riley leicht zu erkennen, dass sie etwas beunruhigte. Sie wollte sie beruhigen, etwas sagen wie …
„Du kannst mir alles sagen."
Aber das erschien ihr doch recht anmaßend.
Schließlich schien Jenn zu erschaudern.
„Egal", sagte sie. „Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest."
„Bist du dir sicher?"
„Ganz sicher."
Ohne ein weiteres Wort verschwand Jenn im Flur und ließ Riley mit einem ausgesprochen unbehaglichen Gefühl zurück. Sie spürte schon seit längerem, dass Jenn ihre eigenen Geheimnisse wahrte––vielleicht darunter einige sehr dunkle.
Warum will sie sich mir nicht anvertrauen?, fragte sich Riley.
Es schien, also ob einer von ihnen beiden immer ein wenig misstrauisch wäre. Das war kein gutes Zeichen für ihre Zusammenarbeit als Partnerinnen.
Aber es gab nichts, was Riley dagegen tun konnte––zumindest noch nicht.
Sie blickte auf ihre Uhr. Sie käme bald zu spät zu einem Termin mit ihrem langjährigen Partner Bill Jeffreys.
Der arme Bill war momentan beurlaubt und litt nach einem schrecklichen Zwischenfall, der sich während ihres letzten gemeinsamen Falles ereignet hatte, an einer Posttraumatischer Belastungsstörung. Riley fühlte eine schmerzhafte Traurigkeit in sich aufsteigen, als sie sich an den Vorfall zurückerinnerte.
Sie und Bill hatten mit einer vielversprechenden jungen Agentin namens Lucy Vargas zusammengearbeitet.
Doch Lucy war im Dienst getötet worden.
Riley vermisste Lucy jeden Tag.
Aber wenigstens fühlte sie sich wegen ihres Todes nicht schuldig.
Bei Bill war das anders.
Heute Morgen hatte Bill Riley angerufen und sie gebeten, ihn auf dem Marinestützpunkt zu treffen, der den größten Teil der Anlage in Quantico ausmachte.
Er hatte ihr nicht gesagt, warum, und das beunruhigte sie. Sie hoffte, dass es nichts Ernstes sei.
Ängstlich stand Riley von ihrem Schreibtisch auf und verließ das BAU-Gebäude.