Hannah wusste: wenn die Männer zu ihr kamen, dann würde sie entweder kämpfen oder sterben. Sie weigerte sich, zu einer menschlichen Hülle mit leerem Blick zu werden. Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, wie man kämpft und wie man sich verteidigt, und das würde sie auch tun. Es war merkwürdig, doch sie spürte, dass es für sie an der Zeit war, aktiv zu werden.
Hannah hatte die letzten zwei Tage damit verbracht, eines der Holzbretter zu lösen, das einen Riss hatte. Es brach ab und ein Ende bildete eine scharfe, gezackte Spitze. Von ihrem Kleid riss sie einen Teil des Unterrocks ab und wickelte ihn als Griff um das Brett.
Hannah blickte durch die Ritzen in der Hüttenwand in den Dschungel, der das kleine Camp umgab. Die Wildnis war stets ihr Zuhause gewesen. Möglicherweise lag es an den vielen Orten, an denen sie gelebt hatte, und an ihrem Interesse, die ungezähmte Natur zu erkunden und zu fotografieren. Was auch immer der Grund sein mochte – Hannah ging lieber mit den wilden Tieren des Dschungels ein Risiko ein als mit einer menschlichen Bestie.
Hannah spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken herablief, als die nächste Welle Erinnerungen über sie kam. Diesmal traten zwei Männer ein. Sie verlangten nach einem der Mädchen in Hannahs Alter, und nach Hannah. Das Mädchen fing leise an zu weinen, als der Mann sie nochmals anbrüllte, aufzustehen und ihm zu folgen. Hannah bewegte sich langsam und hielt dem Mädchen die Hand hin. Plötzlich machte der Mann einen bedrohlichen Schritt auf sie zu.
Die Mutter des Mädchens stand auf und trat vor, um die Männer zu bitten, sie anstelle ihrer Tochter mitzunehmen. Einer der Männer, ein kleiner, schwergewichtiger Mann, trat vor und schlug der Frau heftig ins Gesicht. Hannah sah entsetzt zu, wie die Frau nach hinten gegen einen kleinen Tisch stürzte und dann regungslos auf den schmutzigen Boden liegenblieb. Keine der Frauen, oder ihre andere Tochter, rührten sich, um ihr zu helfen oder nachzusehen, wie es ihr ging.
Hannah fühlte, wie mit den Erinnerungen auch die Wut zurückkam. Ihre Fäuste ballten sich so fest, als ob sie in diesem Moment auch wieder das zerbrochene Stück Holz wie eine Waffe in der Hand halten würde. Hannahs Augen schossen zu einem Schatten am Himmel, mehrere Fledermäuse zogen über die Schlucht. Sie zwang sich, ihre Hände zu entspannen und atmete tief durch.
Hannah schloss kurz die Augen und ließ sich von den Geräuschen der Nacht beruhigen, während ihr die Bilder durch den Kopf schossen. Sie erinnerte sich an den Hass, der wie ein Tsunami in ihr aufkam. Sie erinnerte sich an das Lachen der Männer, als sie die beiden Mädchen aus der Hütte stießen.
Hannah ging hocherhobenen Hauptes und schaute sich nach einem Fluchtweg um, während das Mädchen neben ihr leise weinte. Hannahs Blick schweifte zu den Männern im Käfig, die meisten bewegten sich nicht. Ein paar folgten Hannah und dem anderen Mädchen mit ihren Blicken, sagten jedoch nichts.
Hannah zuckte zusammen, als einer der Männer ihr Haar berührte und etwas sagte. Hannah kannte die vulgären Worte und erschauderte vor Abscheu. In diesem Augenblick war sie kein unschuldiges junges Mädchen mehr, sondern eine Frau, die entschlossen war, zu überleben – selbst wenn sie dafür einen anderen Menschen töten musste. Sie war dabei, zu einem der Raubtiere des Dschungels zu werden.
Hannah spürte, wie sich etwas in ihr löste und wusste, dass es an der Zeit war, ihren Gefühlen zu vertrauen. Sobald die Männer sie in eine kleine Hütte drängten, bewegte sie sich. Sie rammte die scharfe Spitze in die Kehle des Mannes, der ihr am nächsten war, und durchbohrte seine Halsschlagader.
Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich, und fasste sich an die aufgerissene Kehle. Dann sackte er auf den schmutzigen Boden. Der andere Mann, der sich auf das schluchzende Mädchen vor ihm konzentrierte, konnte nicht sehen, wie die scharfe Spitze, als nächstes seine Kehle durchbohrte, und zwar von hinten. Hannah ignorierte das Blut, das ihre Hände und Arme überzog, während sie ihr selbstgebasteltes Messer aus der Kehle des Mannes zog. Sofort erinnerte sich daran, sich umzudrehen und die dünne Holztür der Hütte zu schließen, damit niemand sah, was drinnen vor sich ging.
Hannah sah das Mädchen an, das da auf dem Boden saß und mit abwesendem Blick hin und her schaukelte. Hannah beugte sich hinab und versuchte, dem Mädchen zuzuflüstern, es solle aufstehen und ihr folgen, doch das Mädchen kauerte sich nur auf dem schmutzigen Boden zusammen und wimmerte. Hannah wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, als das Mädchen zurückzulassen, wenn sie Hilfe für die anderen finden oder sich selbst retten wollte. Das traumatisierte Mädchen bot ansonsten die Gefahr, dass sie entweder gefangen genommen oder getötet wurden. Hannah flüsterte eine leise Entschuldigung, während sie ihr mit der Hand über das zerzaustes Haar fuhr, doch sie bezweifelte, dass das Mädchen ihre Berührung überhaupt wahrnahm.
Hannah ging zu einem Fenster der Hütte und war ausgesprochen dankbar, dass die Rückseite an den dichten Dschungel grenzte. Binnen weniger Augenblicke war sie im dichten Blattwerk verschwunden. Hannah erinnerte sich an ihre Angst, in den ersten Nächten allein und verloren im Dschungel zu sein. Doch dann stellte sie fest, dass es im Dschungel viel weniger beängstigend war als in Gefangenschaft der Rebellen.
Sie benötigte zehn Tage, bis sie ein kleines Dorf am Rio Coco erreichte. Mittlerweile sah sie vielmehr wie eine verwilderte Frau aus, als wie das elegante junge Mädchen, das vor zwei Wochen an einem Ball teilgenommen hatte. Ihr Haar hing ihr als verfilzter Zopf über den Rücken, und ihr Kleid war zerrissen. Sie hatte sich Streifen davon als Schienbeinschutz umgebunden und es absichtlich verschmutzt, um die Farbe des Kleides bestmöglich zu tarnen.
Die ersten beiden Tage verbrachte sie die meiste Zeit damit, sich in den Bäumen oder unter dem dichten Farn und anderem Gestrüpp zu verstecken, während die Rebellen nach ihr suchten. Am dritten Tag schienen sie sie für tot zu halten, doch sie überlebte, indem sie Regenwasser von den Blättern der Pflanzen trank und die wenigen Früchte aß, die sie finden konnte. Zum Schutz vor Ungeziefer, vor allem Moskitos, trug sie dicke Schichten Schlamm auf ihre Haut auf.
Mit dem unerschütterlichen Willen zu überleben, um den anderen zu helfen, ging sie nach Westen. Sie ging in Richtung des Flusses, den sie von hoch oben in einem Baum aus sehen konnte. Nachts schlief sie in den Bäumen und band sich selbst mit Lianen an den Ästen fest, um nicht herunterzufallen. Während der zehn Tage, die sie brauchte, um zurück zur Zivilisation zu finden, wurde Hannah eines deutlich: sie würde nie wieder dieselbe sein.
Hannah blickte zu den Sternen hinauf und atmete mehrmals tief durch. Sie spürte die gleiche Entschlossenheit wie damals, die ihr die Kraft zum Überleben im Dschungel gegeben hatte. Sie verstand die Welt und den Kreislauf des Lebens. Um zu leben, musste sie töten. Sie würde es stets bedauern, wenn sie ein Leben – in ihrem Fall zwei – nehmen musste, doch sie begriff die Notwendigkeit für diese Entscheidung. Sie sah es auch bei jeder Tierart, die sie fotografierte. Von den Löwen bis zu den Ameisen, es gab stets Jäger und Gejagte. Sie musste selbst entscheiden, wer sie sein wollte.
Sie lächelte, als sie einen Meteoriten am Sternenhimmel aufleuchten sah und kicherte leise, als sie insgeheim einen albernen Wunsch hatte. Es schien, als hätte selbst sie noch kindliche Träume. Hannahs blickte rasch nach unten, als sie das ferne Geräusch eines Motors hörte. Geräusche konnten in der freien Natur trügerisch sein. Das Fahrzeug konnte zwanzig Meilen entfernt sein oder zwei. Hannah lauschte aufmerksam, doch das Geräusch ebbte bald ab. Es war leichtsinnig, in dieser Gegend nachts zu fahren, ganz gleich, unter welchen Bedingungen. Scheinwerfer war meilenweit zu sehen, und die Straßen waren bereits bei Tageslicht tückisch genug. Hannah nahm an, dass es Rebellentruppen von der anderen Seite der Grenze waren, vermutlich schmuggelten sie Waffen oder Drogen. Was auch immer sie taten, Hannah war froh, dass sie hier ein gutes Versteck hatten.
Sie lehnte sich wieder zurück und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit abschweifen. Hannah schnitt eine Grimasse angesichts einer sehr schlechten Zeit in ihrem Leben. Nun, so schlimm war es nicht gewesen. Das musste Hannah zugeben. Sie hatte Jacq und Maria kennengelernt. Hannah war in der Nähe ihrer Hütte am Fluss aus dem Dschungel gestolpert, als Maria gerade dabei war, schmutziges Waschwasser auszukippen. Sie entdeckte Hannah, wie sie gerade aus dem dichten Dschungelgestrüpp trat und stieß zahlreiche spanische Flüche aus.
Hannah hätte sich gefürchtet, wenn ihr nicht der Blick in Marias Augen und ihr Bauchgefühl ihr gesagt hätten, dass die Flüche nicht ihr galten. Als nächstes erinnerte Hannah sich daran, dass sie in einen kleinen Raum im hinteren Bereich der Hütte gebracht wurde, während Maria nach Jacq rief. Hannah brachte stammelnd ihre Geschichte über die anderen Gefangenen hervor, unterdessen reinigte Maria sorgfältig die zahlreichen kleinen Schnitte an Hannah. Jacq benutzte ein Satellitentelefon, um die örtlichen Behörden zu kontaktieren und ihnen die Informationen zu übermitteln, die Hannah ihnen geben konnte.
Die nächste Woche war ein wenig verschwommen. Hannah erinnerte sich, dass Jacq sie flussaufwärts in eine größere Stadt brachte, wo ihre Eltern, Tink und Tansy sie unter Tränen abholten. Später erfuhr Hannah, dass die meisten Geiseln gerettet worden waren. Vier wurden getötet, darunter die Mutter und die eine Tochter, die in der Hütte zurückgeblieben waren.
Hannah brauchte über ein Jahr, bis sie sich mit der Tatsache abfinden konnte, dass sie nichts hätte tun können, um das Mädchen zu retten. Trotzdem gab es Zeiten, an denen die Schuldgefühle sie einfach überwältigten. Anfänglich hatte Hannah mit Depressionen und Angstzuständen zu kämpfen. Sie mied andere Menschen und verbrachte ihre Zeit lieber damit, die verschiedenen Orte zu erkunden, an denen ihre Eltern Halt machten. Oder sie verbrachte Zeit mit ihren Schwestern im Wohnmobil, in dem sie lebten.
Ihre Eltern sprachen darüber, sie solle sesshaft werden und sich ein Haus kaufen, doch sie erkannten, dass Hannahs Fotografie und ihr Wunsch nach Freiraum die Dinge waren, die ihr halfen. So verbrachten sie also mehr Zeit damit, die Nationalparks in den Vereinigten Staaten und Kanada zu besuchen oder durch die Landschaften Europas zu reisen.
Es war während einer ihrer Reisen nach Südafrika, als Hannah endlich aus ihrem Schneckenhaus kroch. Sie war achtzehn und ihre Mutter hatte ein Angebot als Beraterin für ein im Bau befindliches Kraftwerk zu arbeiten. Beinahe hätten sie das Angebot nicht angenommen, doch Hannah wollte etwas von der Wildnis Südafrikas sehen.
Nach mehreren hitzigen Diskussionen über die Sicherheit im Land wurde die Entscheidung getroffen, nach Südafrika zu gehen. Hannah verliebte sich in die weite Prärie, die zerklüfteten Berge und sogar in die Menschen, die sich dort gern zu leben schienen. Als ihre Eltern in die Vereinigten Staaten zurückkehrten, beschloss Hannah zu bleiben.
Der Vater war beunruhigt, doch ihre Mutter schien zu erkennen, dass Hannah endlich den Weg zurück in ein eigenes Leben gefunden hatte. Hannah versprach, ihre Eltern häufig anzurufen, und mit Hilfe der Kontakte, die sie im Laufe der Jahre mit ihren Fotos und Texten geknüpft hatte, begann sie eine Karriere als freiberufliche Fotografin und Autorin.
Sie lernte Abasi vor zwei Jahren bei einem ihrer Ausflüge in die weite Prärie kennen. Er hatte seine Frau und seinen kleinen Sohn durch eine Krankheit verloren und befand sich auf einer Reise ohne Rückkehr, um ihnen zu folgen. Doch stattdessen fand er Hannah oder sie fand ihn. Wie es genau abgelaufen war, darüber stritten sie sich noch immer.
Sie fotografierte gerade ein Spitzmaulnashorn in Kenia, als sie sich zufällig über den Weg liefen. Hannah hatte Suaheli gelernt und wollte ihm gerade die Hölle heiß machen, weil er ihre Fotoaufnahmen ruiniert hatte, als sie in seinen Augen den gleichen Blick sah, den sie selbst nach den erschütternden Ereignissen ihrer Entführung hatte. Eines führte zum anderen, und sie begannen, tiefere Gespräche zu führen. Abasi erzählte Hannah von seiner Reise in das nächste Leben, und Hannah erzählte ihm von ihrer Reise zurück zu den Lebenden.
Das Spitzmaulnashorn war allerdings weniger beeindruckt von ihrer neu gefundenen Freundschaft, und so mussten Hannah und Abasi auf einen Baum flüchten.
Im Laufe nur einer Nacht wurden sie Freunde. Abasi war entschlossen, Hannah dabei zu helfen, wieder Vertrauen zu fassen, und Hannah war entschieden ihrem Freund zu zeigen, dass es noch viel für ihn gab, wofür es sich zu leben lohnte. Hannah schmunzelte, als sie an die vergangenen zwei Jahre zurückdachte. Sie hatte immer noch kein Vertrauen in die Menschen, sondern zwei zusätzliche Narben, die belegten, warum sie das auch nicht tun sollte. Abasi hatte allerdings beschlossen sich zur Lebensaufgabe zu machen, den perfekten Partner für Hannah zu finden. Einen, der ihr Misstrauen überwinden und sie beschützen würde – und wenn es sein musste, auch vor ihr selbst.
Hannah schüttelte den Kopf, als sie wieder zu den Sternen hinaufblickte. Das war ihr alberner Wunsch gewesen … einen Krieger zu finden, der stark, mutig und ehrlich war, damit sie ihm vertrauen konnte. Hannah selbst glaubte nicht daran, dass es auf der Erde einen solchen Mann für sie gab.