Hannah wartete ungeduldig und tigerte in dem kleinen Dorf, das sich an der Grenze zu Tunesien befand, hin und her. Es war das einzige Dorf, das ihrem letzten Shooting am nächsten lag. Abasi sprach leise mit einigen Männern. Er war dagegen gewesen, dass sie so nahe an ein Land herankamen, das für seine politische Instabilität bekannt war, und wollte von den örtlichen Stammesmitgliedern erfahren, ob sie in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten.
Hannah knurrte frustriert, als sie RITAs Stimme in der Leitung hörte. „Guten Tag. Hier ist RITA. Es tut mir leid, aber weder Tink noch Cosmos können im Moment ans Telefon kommen. Darf ich eine Nachricht übermitteln?“
„RITA, hier ist Hannah. Ich muss umgehend mit Tink sprechen. Sag ihr, sie soll mich anrufen, sobald sie diese Nachricht erhält. Es ist mir egal, wie spät es ist. Ich habe das Satellitentelefon an und befinde mich jetzt in einem kleinen Dorf“, sagte Hannah ungeduldig.
„Oh, Hannah! Wie geht es dir, Liebes? Konntest du hübsche Bilder von den Löwen machen?“ sagte RITA und klang dabei haargenau wie ihre Mutter.
Hannah biss die Zähne zusammen und verkniff sich ein Schimpfwort. Warum ihre Schwester ein Duplikat ihrer Mutter erschaffen musste, würde Hannah nie verstehen. Es war ja nicht so, dass die Welt eine weitere Tilly Bell brauchte, beziehungsweise überhaupt verkraften konnte, dachte Hannah, während sie sich bemühte ihre Frustration zu kontrollieren. Das nagende Gefühl in ihrem Bauch, machte sie allmählich richtig wütend.
„Hier ist alles in Ordnung, RITA“, sagte Hannah und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Was ist denn mit Tink?“ Hannah schaute zu Abasi, der sie nicht aus den Augen ließ. Seinem Blick nach zu urteilen, mussten sie vielleicht schon bald in ein anderes Dorf umziehen. Hannah nickte ihm kurz zu und sah, wie er sich umdrehte und schnell mit einem anderen Mann sprach.
„Oh, Tink hat ein außergewöhnliches Abenteuer erlebt. Ich weiß, dass sie dir alles erzählen wird, wenn sie nach Hause kommt. Du wirst es nicht glauben! Ich bin so aufgeregt“, begann RITA, bevor ihre Stimme verstummte. Es war der unausgesprochene Teil, der Hannahs Aufmerksamkeit erregte.
„Und weiter?“, fragte Hannah und wartete darauf, dass RITA zu Ende sprach.
„Nun, es gab da ein winziges Problem … doch ich denke, dass es bald gelöst sein wird“, sagte RITA mit leicht optimistischem Tonfall.
„Sag ihr einfach, sie soll mich schnellstmöglich anrufen“, sagte Hannah, bevor sie die Verbindung beendete.
Hannah legte frustriert den Kopf in den Nacken und schaute in den dunkler werdenden Himmel. Irgendetwas stimmte nicht. Sie wusste es. Sie spürte es bis ins Mark. RITA war eine Kombination aus ihrer kleinen Schwester Tink und der neuen Softwareprogrammierung ihrer Mutter. RITA stand für „Really Intelligent Technical Assistant“, ein Computerprogramm mit Spracherkennung, das selbständig lernen und sich an verändernde Umgebungsbedingungen anpassen konnte. Es war der Beginn eines Computerprogramms für künstliche Intelligenz, an dem ihre Mutter gearbeitet hatte, als Hannah das letzte Mal zu Hause gewesen war.
Hannah runzelte bei diesem Gedanken die Stirn. Es war fast zwei Jahre her, seit sie ihre Familie zuletzt gesehen hatte. Nie zuvor hatte sie so viel Zeit ohne ein oder mehrere Familienmitglieder verbracht. Hannah wurde aus ihren tiefen Gedanken zurück in die Gegenwart gerissen, als sie ein leichtes Gewicht auf ihrer Schulter spürte. Sie drehte sich um und sah Abasi, der sie aufmerksam ansah.
„Wir müssen sofort von hier verschwinden. Etwa zehn Meilen von hier wurden Soldaten gesichtet, die sich in unsere Richtung bewegen. Die Dorfbewohner schicken ihre Frauen und Kinder in die Berge, damit sie sich dort verstecken. Als die Soldaten das letzten Mal kamen, wurden fünf Männer getötet, mehrere Frauen vergewaltigt und ein halbes Dutzend Jungen entführt. Es ist besser, wenn sie dich nicht zu Gesicht bekommen“, sagte Abasi leise, aber mit Nachdruck.
Hannah biss sich auf die Lippe und nickte. Sie wusste nur zu gut um die Gefahren für Frauen, und zwar überall auf der Welt. Eine dunkle Erinnerung blitzte in ihrem Kopf auf, doch sie verdrängte sie sofort. Sie glaubte an alles, was ihre Eltern ihr beigebracht hatten. Sie konnten Wahrheiten und weise Worte formulieren wie niemand sonst, und ihre Eltern hatten jedes Mal recht. Sie nickte erneut und folgte Abasi zum Land Rover. Sie schaute zu einer kleinen Gruppe von Frauen und Kindern, die aus dem Dorf geführt wurden.
„Werden sie in Sicherheit sein, Abasi?“, fragte Hannah traurig. Sie hasste diesen Teil der menschlichen Natur, die Grausamkeiten. Deshalb zog sie die Einsamkeit vor, weit weg von allen anderen Menschen.
„Ja“, sagte Abasi, als er den Land Rover wendete und aus dem Dorf fuhr. „Sie haben gelernt, sich auf solche Situationen vorzubereiten. Ich habe mit den Dorfältesten gesprochen, die Soldaten werden im Dorf nur auf alte Männer treffen und ein paar unterernährte Rindern finden.“
Abasi brachte sie etwa zwanzig Meilen weit weg und parkte den Land Rover in einer kleinen Bergschlucht, dann tarnten sie das Fahrzeug rasch mit getrockneten Ästen. Abasi erklärte, die Schlucht sei hoch genug, dass sie trotz der Regenfälle im Norden für die Nacht ausreichend geschützt sein sollten. Sie stapelten so viele Gegenstände wie möglich im hinteren Ladebereich des Land Rovers und machten ein Bett auf dem Rücksitz. Hannah würde die erste Nachtwache übernehmen, Abasi die zweite. Sie hatten das in den vergangenen zwei Jahren schon so oft gemacht, dass es keine Schwierigkeiten.
Hannah zog ihre Jacke fester um sich, nachdem sie sich auf das Dach des Land Rovers gesetzt hatte. Sie spürte, wie der Wagen ein wenig schaukelte, als Abasi sich für die Nacht hinlegte. Dann wurde alles still. Hannah liebte diesen Teil ihres Lebens ganz besonders. Nachts genoss sie den Frieden und die Stille und die Schönheit des Sternenhimmels, der sich ganz unberührt von künstlichem Licht oder Umweltverschmutzung zeigte. In der Ferne vernahm sie die Geräusche nachtaktiver Raubtiere. Das Schnauben der Nashörner und das entfernte Brüllen eines Löwen drangen durch die kühle Nachtluft.
Hannah ließ ihre Gedanken abschweifen, während sie in die dunkle Landschaft blickte. Sie fragte sich, was für ein „außergewöhnliches Abenteuer“ ihre kleine Schwester wohl erlebt hatte. Jasmine „Tinker“ Bell war das strahlende Licht der Bell-Familie. Ihre zierliche Größe und ihre ansteckende Fröhlichkeit ließen jeden Raum erstrahlen, sobald sie ihn betrat. Sie war drei Jahre jünger als die fünfundzwanzigjährige Hannah, obwohl Hannah sich oft viel älter fühlte.
Ihre Eltern bekamen die drei Mädchen im Abstand von drei Jahren. Keines war geplant, doch alle wurden geliebt. Ihr Vater, Angus, war ein erfolgreicher Science-Fiction-Autor, während ihre Mutter viele Talente hatte. Tilly Bell konnte jeden Motor reparieren, der auf dieser Erde existierte, wenn man ihr nur einen Schraubenschlüssel und zehn Minuten Zeit gab. Zudem konnte sie einen Computer so programmieren, dass ein Hacker es schwer hatte. Tink war genauso hyperaktiv wie ihre Mutter, Hannah war hingegen eher nachdenklich wie ihr Vater.
Tansy, dachte Hannah einen Moment lang mit einem sanften Lächeln, nun, Tansy war wahrscheinlich eine Erfindung ihrer Mutter, da sie in keine Kategorie passte. Schon als Kind war Tansy stets anders als die anderen gewesen. Sie war der starke, ruhige Typ, der einen sofort durchschauen oder zu Tode erschrecken konnte, es kam ganz auf die Situation an. Es war fast so, als stammte Tansy aus einer Science-Fiction-Geschichte ihres Vaters. Doch auch Hannah war ruhig und schweigsam, denn auch sie war anders, vor allem seit Nicaragua.
Ein Schauer lief Hannah über den Rücken, als sie die Erinnerungen zuließ. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, sie einfach durch sich hindurchfließen zu lassen, damit sie den Schmerz und die Schuldgefühle wegspülen konnte. Früher hatte sie versucht, die Erinnerungen zu verdrängen, hatte dann allerdings festgestellt, dass das Verdrängen alles nur noch schlimmer machte. Wann immer sie die Erinnerungen zuließ, schien ihr das zu helfen und den Schmerz etwas zu lindern. Wenigstens kamen sie nicht mehr so häufig, dachte Hannah erleichtert.
Ihre Eltern hatten fast ein ganzes Jahr versucht, dass sie sich öffnete, doch Hannah hatte ihnen nie alles erzählt. Sie konnte es einfach nicht über sich bringen. Hannah wusste, dass sie sich wegen dem, was passiert war, zutiefst schuldig fühlten. Doch Hannah legte es ihnen nie zur Last. In gewisser Weise wurde daraus ein Segen. Ihre Eltern pflegten zu sagen, dass alles, was im Leben eines Menschen passiert, einen Silberstreifen hat. Daher hatte Hannah gelernt, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen, wenn sie ahnte, dass etwas passieren würde oder wenn es ihr sagte, dass sie etwas Bestimmtes tun solle. Sie hätte schon dutzende Male tot sein können, wenn sie nicht gelernt hätte, ihre Vorahnungen zu akzeptieren.
Hannah ließ ihren Blick über die dunkle Landschaft schweifen, während sie die Erinnerungen an ihr fünfzehntes Lebensjahr Revue passieren ließ. Ihre Eltern waren in Nicaragua zu einem Treffen mit einem Ölkonglomerat, um über einen neuen Stromgenerator zu sprechen, an dem ihre Mutter arbeitete. Ihre Mutter hatte einen Abschluss in Maschinenbau mit einer Spezialisierung auf Stromnetze und Generatoren … wahrscheinlich das Ergebnis ihrer Arbeit in der Werkstatt ihres Großvaters, als sie noch klein war, dachte Hannah, während sie die Schatten einer Gruppe von Hyänen vorüberziehen sah.
Hannah zog ihre Jacke noch etwas enger um sich und legte die Arme um ihre Knie. Solange es Raubtiere in der Nähe und die Geräusche der Nacht gab, waren sie allein, das wusste sie. Sie konzentrierte sich wieder auf die Erinnerungen und war entschlossen, ihnen ihren Lauf zu lassen. Sie erinnerte sich daran, wie aufgeregt sie und ihre beiden Schwestern waren, weil sie an der großen Feier der Führungskräfte der Ölgesellschaft teilnehmen durften. Es gab einen großen Empfang mit Abendessen und anschließendem Tanz im Ballsaal.
Wenn man den Großteil seines Lebens in einem Haus auf zehn Rädern, mit einem Badezimmer so groß wie ein Schrank verbracht hat, war es traumhaft, ein riesiges Schlafzimmer ganz für sich allein zu haben. Da Hannah die Älteste war, durfte sie eine Stunde länger aufbleiben als die anderen Mädchen. Es waren viele hübsche junge Männer anwesend, und Hannah war überrascht, wie viel Aufmerksamkeit sie ihr schenkten. Ihre Eltern ließen sie nie aus den Augen, was Hannah mehr als recht war, da sie keine Ahnung hatte, wie sie mit der ganzen Aufmerksamkeit umgehen sollte.
Als sie gerade ihren letzten Tanz tanzte, stürmten bewaffnete Männer herein. Hannah erinnerte sich, dass sie schockiert die dunkelroten Blutspritzer auf ihrem Kleid betrachtete, als die Männer das Feuer auf mehrere Wachen eröffneten. Der Junge, der mit ihr tanzte, wurde von einer Kugel getroffen und Hannah sah mit Entsetzen, wie das Leben aus seinen Augen schwand und er vor ihr zusammenbrach. Ein paar Wachen hatten ihre Eltern und die beiden Top-Mitglieder der Ölgesellschaft und deren Frauen schnell in einen sicheren Raum gedrängt und sie dort eingeschlossen, während im Ballsaal das Feuergefecht tobte.
Hannah erinnerte sich daran, wie sie von den Menschen zu Boden geworfen wurde, die vor dem blutigen Angriff fliehen wollten. Sie lag auf dem blutgetränkten Boden neben der Leiche des Jungen, der sie kurz zuvor noch in seinen Armen gehalten hatte. Als die Schüsse aufhörten, begannen die maskierten Bewaffneten, die Unverletzten in mehrere Lastwagen zu stoßen, und Hannah war unter ihnen.
Sie war regelrecht erstarrt vor Schreck und konnte das Gesagte kaum verstehen, da ihr Spanisch nicht ausreichte und viel zu schnell gesprochen wurde. An die eigentliche Fahrt zum Rebellenlager tief im Dschungel erinnerte sie sich nicht mehr. Doch sie erinnerte sich an das Weinen, die Angst, die Dunkelheit und die endlosen Kurven, die die Lastwagen auf dem Weg zum Camp nehmen mussten. Als sie endlich ankamen, war es bereits wieder dunkel.
Die Frauen wurden in eine kleine Holzhütte geführt, und die Männer in offene Käfige gesperrt. Hannah erinnerte sich daran, dass sie sich umgesehen und festgestellt hatte, dass sie die Jüngste im Camp war. Es gab zwei weitere Mädchen, die ein paar Jahre älter waren, und deren Mutter, dazu zwei andere Frauen, denen sie, so meinte sie sich zu erinnern, vorgestellt wurde.
Drei Tage lang lebte Hannah in Angst und Schrecken, als die Frauen nacheinander aus der Hütte geholt wurden. Hannah konnte die Schreie hören, bevor Stille eintrat. Als die Frauen jeweils zurückgebracht wurden, war es die Leere in ihren Augen, die Hannah mehr als alles andere erschreckte. Sie konnte das Lachen der Männer hören, als sie die Frauen zurückbrachten, und die qualvollen Schreie der Männer in den Käfigen, als sie gefoltert wurden.