Kapitel 1

886 Words
KAPITEL 1 Hannah Bell stellte behutsam das Objektiv ihrer Kamera scharf. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, alles sei genau richtig. Einen Monat lang hatte sie beharrlich darauf gewartet, ein Bild von genau diesem Löwenrudel machen zu können. Das Männchen war ein riesiges Exemplar und angriffslustiger als ihre Schwester Tansy, wenn sie wütend war. Und das, dachte Hannah mit einem kleinen Lächeln, wollte etwas heißen. Die Löwinnen lagen unter dem Schatten eines Baumes und behielten träge ihre Jungen im Auge. Das riesige Männchen war von zahlreichen Narben früherer Kämpfe gezeichnet und schlich schützend um die Löwinnen herum, ganz so als ob es Hannahs Anwesenheit spürte. Sie hoffte, dass das nicht der Fall war. Sie war ein gutes Stück von ihrem Schutz bietenden Land Rover entfernt und würde den Wagen niemals rechtzeitig erreichen können, sollte sich der Löwe zum Angriff entscheiden. Sie hatte ihren Begleiter im Land Rover zurückgelassen und ihm versichert, dass sie auch ohne ihn zurechtkäme. Sie hätte gedacht, dass er es inzwischen leid sei geworden sein müsste, ihr seine Begleitung anzubieten, denn sie sagte stets „Nein“, da er ihr nur im Weg wäre. Hannah zoomte heran und machte noch einige Fotos. Das Licht war perfekt und sie wusste, dass diese Aufnahmen eine Auszeichnung wert sein würden. Sie wollte gerade eine weitere Serie mit einem anderen Kameraobjektiv schießen, als ihr plötzlich ein Schauer über den Rücken lief. Hannah konzentrierte sich auf die Löwen, während sie im Stillen überlegte, was dieses ungute Gefühl bedeuten könnte. Tink … Es war das erste Bild, das ihr durch den Kopf schoss, und sie wusste, dass etwas mit ihrer kleinen Schwester geschehen war. Hannah schob die Abdeckung auf das Objektiv ihrer Kamera und kroch langsam rückwärts über den trockenen, dürren Boden. Es würde noch eine Stunde gute Lichtverhältnisse geben, um weitere Fotos zu machen, doch die Familie Bell hatte eine goldenen Regel, und die lautete: die Familie kommt immer zuerst. Hannahs Instinkte waren stets richtig. Diese Instinkte waren es auch, die ihr bei gefährlicheren Fotoshootings schon mehrmals das Leben gerettet hatten. Sobald sie das Gefühl hatte, weit genug von den Löwen entfernt zu sein, um sich schneller bewegen zu können, richtete Hannah sich auf und lief rasch zurück zum Land Rover. Dabei ignorierte sie den Schweiß, der ihr den Rücken hinunterlief und die Kameratasche, die beim Laufen an ihrer Seite hüpfte. Ein Gedanke ging ihr wieder und wieder durch den Kopf: Irgendetwas war mit Tink geschehen. „Du bist früh zurück“, sagte Abasi auf Suaheli. „Waren die Löwen nicht dort?“ Hannah nahm ihre Kameratasche von der Schulter und verstaute sorgfältig die beiden Kameras, die sie um den Hals hängen hatte. „Sie waren dort, doch ich muss zurück zum Camp. Wir müssen in das nächstgelegene Dorf aufsuchen. Meiner kleinen Schwester ist etwas zugestoßen“, antwortete Hannah. Abasi sagte nichts, sondern ging schnell zum Fahrersitz und rutschte hinein, während Hannah sich auf den Beifahrersitz setzte. Er bezweifelte nicht, dass Hannah wusste, dass etwas nicht stimmte. Er arbeitete seit zwei Jahren mit ihr zusammen und hatte erkannt, dass wenn sie sagte, es gäbe ein Problem, es auch eines gab. Er glaubte fest daran, dass Hannah von dem Geist berührt worden war, der im Inneren der Erde steckte. Die Fahrt zurück zum Camp war lang und es wirbelte viel Staub auf. In der Region herrschte Dürre, doch Hannah konnte den Regen in der Luft bereits riechen. Die Stürme in Afrika waren ebenso unberechenbar wie die Wildnis. War es eben noch ruhig, konnte es im nächsten Augenblick schon brachial sein. Hannah stieg schnell aus dem Land Rover aus und lief zu ihrem Zelt. Sie packte hastig die wenigen Sachen zusammen, die noch herumlagen, unterdessen baute Abasi den Rest des Lagers ab. Sie hatte nur wenige Dinge bei sich, zumeist lediglich ihre Kameraausrüstung, mit der sie ganz behutsam umging, da sie ihr ein und alles war. Ihre Kleidung war stets eingepackt und gewissermaßen abmarschbereit. Doch nicht nur die Stürme und die Wildnis waren in den Regionen, die sie bereiste, unberechenbar. Mehr als einmal befand sich Hannah inmitten eines Regierungswechsels. Sie hatte Preise sowie internationale Anerkennung für ihre Fotos erhalten, welche die Auswirkungen dieser politischen Veränderungen auf die Menschen, das Land und die Tierwelt zeigten. Sie hatte zudem zwei Narben durch Kugeln von wütenden Rebellenführern, die nicht mochten, was sie der Welt mit ihren Aufnahmen zeigte. Hannah schob den Riemen der Leinentasche mit den Kameras über eine Schulter, auf der anderen Schulter trug sie ihren Rucksack mit den Kleidungsstücken. Sie schaute sich ein letztes Mal um, um sicherzugehen, dass sie alles hatte. Dann ging sie zum Land Rover und legte beide Taschen auf den Rücksitz. Sie drehte sich um und ging zurück, um das Feldbett zu holen, faltete es schnell zusammen und legte es zusammen mit der Laterne ganz nach hinten in den Wagen. Unterdessen war Abasi bereits dabei, ihr kleines Zelt abzubauen, und sie half sie ihm rasch dabei. In nicht mal einer halben Stunde holperten sie mit dem Land Rover über das zerklüftete Gelände in Richtung eines entlegenen Dorfes in den unteren Bergregionen. Hannah schaute auf die Uhr. Es wäre schon spät, wenn sie Tink anrief, doch ihre kleine Schwester würde sich damit abfinden müssen. Hannah wollte wissen, was los war. Ihr Bauchgefühl wurde immer stärker und sie wusste, dass etwas Furchtbares geschehen war.
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