Chapter 2

2050 Words
An jenem Schicksalstag jedoch wurde ihm durch einen Zufall nähere Kunde vom Oheim Martin Storck, über den von den Eltern nichts zu erfragen war, dessen Schicksal ihm im Gegenteil sorgsam verhüllt wurde. An diesem Tag also, als die Eltern am späteren Nachmittag auswärts zu Besuch weilten, setzte sich Peter, von Langeweile geplagt, zu der alten Magd in die Küche. Die Ludmilla war von frühester Kindheit an seine Pflegerin gewesen und hing mit hartnäckiger Zärtlichkeit, die gelegentlich auch der Herrschaft trotzte, an dem Jungen. An diesem Tag nun sah die Magd von ihrer Strickarbeit auf, heftete einen langen und eindringlichen Blick auf den Haussohn und murmelte: „Wie der Herr Rittmeister – der Herr Martin –!” Peter fühlte sich eigentümlich erregt und bedrängte die Alte, die ihm mehr von dem Verschollenen zu wissen schien, mit kindlichem Gebettel, dem sie nie zu widerstehen vermochte, sie möge ihm nun endlich von dem Oheim erzählen, da die anderen dies nicht tun wollten und er doch ein Recht habe, Näheres über den Bruder seines Vaters zu erfahren. Die alte Ludmilla erschrak, wehrte ihn heftig ab, konnte aber allgemach der Lust, zu erzählen, nicht mehr widerstehen und begann, ängstlich wispernd und immerfort nach der Türe lauschend, die Geschichte des älteren Vatersbruders dem Neffen mitzuteilen, wobei sie ihm wiederholt das Versprechen abnahm, alles gut bei sich zu bewahren und um des Heilandes willen dem Herrn Gubernialdirektor, dem Vater, oder gar der Frau Mutter kein Sterbenswort davon zu verraten, was Peter bereitwilligst versprach. So erfuhr er denn, dass der Bruder seines Vaters in die kaiserliche Armee eingetreten sei und es in einem Kürassierregiment zum Rittmeister gebracht habe. Dieser stolze und ritterliche Offizier, körperlich und geistig unähnlich dem mehr zur Behäbigkeit neigenden Bruder, hatte zu seiner Liebsten oder Braut eine Aktrice des Kärntnertortheaters erkoren, eine Fremde von großer Schönheit. Bei dieser, die er allabendlich zu besuchen pflegte, um eine Partie Tric-Trac zu spielen und sich in holdseliges Geplauder über das Glück der Zukunft zu verlieren, entdeckte er hinter einem Vorhang, vor ihm verborgen, ein Herrlein, das hervorgeholt sich überaus hochmütig stellte und erklärte, der gefeierten Künstlerin einige kostbare Kamelienblüten, die in der Tat auf dem Tisch lagen, als eine durchaus einwandfreie Aufmerksamkeit überbracht zu haben. Auf die Frage des Reiteroffiziers, ob jenem die Stunde für einen solchen Besuch nicht etwas zu vorgerückt erscheine, setzte der hochnäsige Geck eine unnahbare Miene auf und erklärte, er müsse sich in Fragen der feineren Lebensart jede Belehrung von einem Deutschen verbitten. Das dummdreiste Lächeln des Menschen, die widerlich-süßen Wohlgerüche, die sein seidener Rock ausströmte, und nicht zum Letzten die schuldbewusste Verlegenheit der Geliebten versetzten den Kürassier in eine so rasende Wut, dass er wortlos den geputzten Affen beim Kragen erwischte und über die steile Treppe des Hauses in der Ballgasse hinabschleuderte, so dass der unten wie ein Bündel Kleider blutend und kläglich ächzend liegen blieb. Der Lärm lockte Polizisten herbei, die erschrocken feststellten, dass der übel Verletzte ein Prinz von der französischen Ambassade sei. Wenige Tage danach wurde der Rittmeister Martin Storck durch ein Handbillett Seiner Majestät des Kaisers Leopold ganz plötzlich und ohne weitere Begründung aus dem Heere ausgestoßen oder, wie man es nannte, schimpflich kassiert. Wohl versuchten es Kameraden des beliebten Offiziers, sich gegen solche Willkür aufzulehnen, und bewogen ihren Obristen, den Monarchen um Gnade für Martin Storck zu bitten, obschon jedermann wusste, wie sehr der Kaiser alles Welsche begünstigte. So war zu erwarten, was wirklich geschah. Der Kaiser sagte zornig, er könne es nun und nimmer unbestraft lassen, wenn ein bürgerlicher Offizier den schuldigen Respekt und die Ehrerbietung gegen eine Standesperson in solcher Weise verletze, und er würde jeden, der wegen dieses Martin Storck zu ihm vordringe, als seinen Mitschuldigen in gleicher Weise bestrafen. Damit zog der Obrist ab. Am Tag, da dies geschehen, sei der Herr Rittmeister um die Mittagszeit zu seinem Bruder, Peters Vater, in die Wohnung gestürzt, habe unter grimmigem Gelächter den goldenen Quast vom Pallasch gerissen, zur Erde geschleudert, und sei mit den Füßen drauf herumgetreten, indem er laut ausrief, so achte er das Zeichen eines ungerechten und niedrig denkenden Tyrannen. Worauf der Herr Gubernialdirektor, sein Bruder, ihn aufs Höchste erschrocken zur Ruhe und Besinnung verwiesen, auch sich solche fürchterlichen, die Majestät beleidigende Reden in seinem, als eines kaiserlichen Beamten, Hause auf das Ernstlichste verbeten. Der Herr Martin habe ihn zuerst angestarrt, als habe er nicht recht gehört, sodann auf den Fußboden gespien und in schäumender Furie ausgerufen: „So speie ich auf euch, ihr elenden Knechte eines schändlichen Despoten! Wenn du, mein von Stund' ab gewesener Bruder, nun auch zum Judas Iskarioth an mir werden willst, so tue es flugs und kröne damit deine überaus verächtliche Gesinnung!” Damit sei er, von der weinenden Schwägerin gefolgt, sporenklirrend davon, habe jedoch, als er im Nebenzimmer, das er durchschreiten musste, den kleinen Peter in der Wiege gesehen, ihn sogleich aus den Kissen gehoben und an die Brust im weißen Waffenrock gepresst, mit dem Ausruf: „Mögest du einst lichtere Zeiten und edlere Menschen erleben, du kleiner Storck! Mit diesem Kuss sei dir meine Seele eingegossen!” Die Mutter sei fast in Ohnmacht gesunken vor Schrecken, der Kleine aber habe, wohl aus Freude über den Glanz der goldenen Knöpfe, laut aufgejauchzt und dem Oheim beide Händlein entgegengestreckt. „Dies nehm' ich als ein Zeichen, du kleines Menschlein!”, rief der Reitersmann aus, legte das Kindchen sorgsam zurück und stürmte hinaus. Erst nach vielen Monaten erfuhren Bruder und Schwägerin zufällig, dass der Entflohene in einer einsamen und finsteren Gegend Tirols ein Anwesen erworben und als ein Einsiedler sich niedergelassen habe. Die welsche Aktrice, von der es bald offenbar wurde, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug, verschwand bei Nacht und Nebel aus der Wienerstadt, und niemand erfuhr, wohin sie sich gewendet haben mochte. Die Erzählung der Alten, durch geheime seelische Fäden mit der Erschütterung dieses Tages innig verbunden, machte auf Peter den allertiefsten Eindruck. Fortan beherrschte ihn der Gedanke an den Oheim, dessen Schicksal ihm in romantischer Verklärung als das eines edlen und unglücklichen Ritters erschien. Auf vielfache Art malte er sich in wachen Träumen dieses Trauerspiel der Liebe aus: Den hohen Reiteroffizier im weißen Koller mit den Aufschlägen aus schwarzem Samt, die weinende und händeringende Schöne, ausgestattet mit den Reizen der Muhme Genoveva, das schlotternde Französchen, zuckend unter der stählernen Faust des Rächers. Manchmal auch sah sein inneres Auge den Oheim im schwarzen Mantel mit flatternden Haaren, eine tiefe untilgbare Falte zwischen den dunklen Brauen, im schwefligen Licht der Blitze, vom Donner umschüttert auf zackigen Felsenriffen stehen, kühn die Mächte des Himmels und der Hölle herausfordernd. Erst im brausenden Burschenleben der grün- und rosenfarbenen Franken zu Würzburg schwanden diese Bilder aus den Vorstellungen des Tages, um desto öfter in nächtlichen Traumgesichten wiederzukehren, wobei immer gewisser Peter selbst zum zürnenden Liebhaber und die Schauspielerin überhaupt nicht mehr anders als in Gestalt der Frau erschien, die sich in jener fernen Nacht seiner bemächtigt hatte. Stets aber trat eine uneingestandene, furchtbare Erscheinung am Schluss des Traumes auf, die ihn auf das Schauerlichste erschreckte, ohne je deutlich zu werden, bis beängstigendes Herzklopfen mit Atemnot ihn weckten. Sehr lange dauerte es, bis auch diese Traumbilder schwächer wurden und verblichen. Die Zuschrift des bayrischen Amtsgerichtes hatte ihn jedenfalls in nicht geringe Aufregung versetzt, und ohne zu zögern trat er die Postwagenreise von Wien nach Innsbruck an, um so schnell wie möglich den plötzlich verschwundenen Oheim wieder aufzufinden oder wenigstens seine Leiche ehrlich zu bestatten, falls jenem ein tödliches Unglück zugestoßen war. Hier am Ufer des Flusses, der vom Oberland hinunterfloss und in dem sich wohl auch die Berge spiegelten, in denen Sankt Marein lag, flammte die Erinnerung an den Abgott seiner Jugendjahre mit aller Kraft wieder auf. Es war ihm, als verbänden ihn mit dem einsamen Mann unzerreißbare geheimnisvolle Bande, als sei es an ihm, dem aus einer Welt voll Lüge und Niedertracht Geflohenen in irgendeiner Art zu Hilfe zu eilen. Sein Verlangen, mehr, ja alles vom Oheim zu wissen, wurde umso stärker, je näher er sich dem Ziel wusste, und der Gedanke, den Rest des Tages und eine lange Nacht bis zum Abgang der Post warten zu müssen, erschien ihm fast unerträglich. Rauer Gesang und klirrendes Pollern ließen ihn aufblicken. Eine bayrische Batterie, mit schnaubenden und schweißnassen Pferden bespannt, rasselte an ihm vorüber. Sie kamen wohl von einer Übung, die Kanoniere sangen, der junge Leutnant ließ seinen Goldfuchs tanzen. Der Wind wehte starken Geruch von Pferdeleibern, Leder, Schweiß und Wagenschmiere zu ihm her. Er stand auf und ging im wirbelnden Staub hinter dem Zug her zur Stadt zurück. Im Westen glomm ein feuriges Gold am Himmel. Aber so klein und eng gebaut die Stadt auch war, so verging er sich doch und geriet in allerlei Gässlein. Zwei Bauern, hohe Nebelstecher auf dem Kopf, lehnten rauchend an einer Mauer und sahen den Herankommenden mit wägenden Blicken an. Er fragte sie nach der Herberge zum Goldenen Adler. Aber der Grauhaarige, an den er das Wort gerichtet hatte, blickte finster zum Hochdeutsch des Fremden und sagte laut und mit deutlicher Beziehung zum andern: „Die bayrischen Spione möchten wohl ein Mehr wissen als den Weg ins Gasthaus. Bleibt ihnen aber doch der Schnabel sauber!”, worauf ihm beide klotzig den Rücken wandten und weitergingen. Als er dann nach kurzer Suche den stattlichen Gasthof fand, musste er im blutglitschigen Flur achthaben, um nicht an die Kübel und Mulden zu stoßen, die überall umherstanden. Ein Schwein war geschlachtet worden, aus der Spritze quoll dunkelrotes speckwürfeliges Füllsel in Därme, die in lockeren Haufen lagen. Auch graues Lebergemisch stopften emsige Hände in die Blechhülse und streiften das Darmende über die Mündung. Mit ängstlich gerafften Rockschößen stieg Peter die Wendelstiege hinauf und betrat das Gastzimmer. Nebenan das Herrenzimmer, in das er wollte, war mit Offizieren vom bayrischen Regiment Kinkel besetzt. Es waren jüngere und ältere Herren, lauter biedere und einfache Menschen, die sich auf den Sautanz freuten und auf den Banzen mit heimatlichem Bier, der in der Ecke stand. So setzte sich Peter hinaus in die Schankstube an einen Klapptisch in der Fensternische. Außer ihm war nur ein einziger Gast im Zimmer, ein riesiger wildbärtiger und zausiger Bauer mit schwärzlicher Haut, der ganz allein am nächsten Tisch saß, über dem ein versilbertes Zunftzeichen hing. An der Wand lehnten die hochbepackte Kraxe und ein Griesbeil mit langem scharfem Zahn, wie es die Holzknechte bei den Riesen und Triften gebrauchen. Ein schweres Bündel Roheisenstäbe lag auf der Erde. Die Kellnerin kam, ein zwar hübsches, aber mürrisches Mädchen, stellte dem fremden Herrn eine zinnerne Öllampe auf den Tisch und zog mit einer Haarnadel den Docht etwas hervor. Muffig fragte sie nach dem Begehren des Gastes, auf die frischen Würste verweisend. Peter aß, als die Schüssel vor ihm stand, und trank roten Wein dazu. Als er gegessen, trat der beleibte Wirt zu ihm, lüftete höflich die Schlegelhaube und setzte sich zu ihm an den Tisch. Aus dem Herrenzimmer klang eine derbe Männerstimme, die saftige Strophen zu singen schien, wie man aus dem in Zwischenräumen losdonnernden Gelächter unschwer erraten konnte. Der Leutgeb [Leitgeb = veraltet für Wirt] hatte das Fremdenbuch mitgebracht und ein Steinguttöpfchen mit brauner Tinte. Peter tauchte den schlechtgeschnittenen Kiel ein und schrieb, indes der Blick des Wirtes seiner Hand folgte. Als sie das Wort „Wien”, malte, legte sich die rundliche Pranke des Wirtes vertraulich auf die Finger Peters. „Gar aus Wien?”, flüsterte der Mann. „Etwa einer von den Herren, die unser Kaiser auf Kundschaft sendet, wie es in dem Tirol ausschaut?” Peter verneinte, das Geflüster war ihm unangenehm und so sagte er laut, dass er gekommen sei, um nach der Wirtschaft seines Oheims zu Sankt Marein im Oberen Inntal zu sehen. Ein Stuhl schlug krachend zur Erde, so dass Wirt und Gast erschrocken auffuhren. Der wildbärtige Mensch am Nebentisch war ohne erkennbare Ursache aufgesprungen. Sein breiter hellgrüner Hut glitt vom Tisch, klirrend stieß sein Nagelschuh an die Eisenstangen. Aus den schwarzen, weit aufgerissenen Augen loderte ein Blick zu Peter hinüber, in dem Erstaunen, Wut und Neugierde zu lesen waren. Aber gleich darauf erlosch die dunkle Glut, der Mann bückte sich brummend nach dem Stuhl und schob ihn wieder zurecht. Dann nahm er den Hut auf und wischte die Seide der Krempe mit dem Rockärmel ab. So war das Böse in seinen Augen wohl nur Schreck über das eigene Ungeschick gewesen.
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