Chapter 1

2019 Words
Spät erklingt, was früh erklang. Glück und Unglück wird Gesang. (Alter Spruch) Heulend kam der Föhn die Brennerstraße hinuntergefahren, wirbelte den weißen Kalkstaub vom Prämonstratenserkloster bis zum Erker mit den vergoldeten Dachziegeln auf und zwang Peter Storck zweimal, zur Freude der Gassenjungen seinem raugebürsteten Kastorhut nachzulaufen. Ungeheuerlich, atemraubend, mit finstergrünen Wäldern, steilen Almwiesen und grauem Fels reckte sich die Nordwand auf. An den Brückenjochen vorüber schossen gurgelnd und brausend die Wasser des Inn. Verdrießliche Menschen sahen dem jungen Mann nach, der in seinem vielkragigen leberfarbenen Mantel und den gelb ausgeschlagenen Stulpenstiefeln, mit blendend weißem Halstuch und modisch geschweiftem Zylinder einen ungewohnten Anblick bot. Es war Markt unter den offenen Bogen der Lauben, aber es wurde wenig umgesetzt. Die Butterhändler aus dem Duxer Tal, die Käseverkäufer, Melber, Metzger und Selcher hatten sich auf die teure Zeit eingestellt und verlangten viel. Und wenig Geld war im Land. Da mussten noch solche Menschen wie dieser Fremde zureisen und die Preise hinauftreiben! Peter Storck sah die übellaunigen Blicke nicht, die ihm nachflogen, und verstand auch nicht viel von dem, was hinter ihm her gesprochen wurde. Er war müde vom langen Stehen und Warten im bayrischen Generalkommissariat, das im ockergelben Gebäude der ehemals kaiserlichen Hofburg seinen Platz hatte. Aber nun bauschten die abgestempelten und unterschriebenen Papiere seine Rocktasche. Eine Weile stand er vor dem kleinen halbrunden Auslagefenster eines Drogenladens und betrachtete silberfarbene Schellackstangen, braune Leimtafeln, Gläser mit Indigo, Krapprot, Spangrün, Gelb und Drachenblut, sog den eigenartigen Geruch nach allerlei Würzen ein, der aus dem Laden mit dem lächerlich ausgestopften Krokodil wehte. Es gab auch in den Gewölben nebenan allerlei Dinge zu sehen: Fazzelhauben aus kostbarem Biber, Frauenhüte mit schwerer Goldstickerei auf dem flachen Rande, silberbeschlagene Maserpfeifen, bocklederne Geldbeutel, Gürtel, mit Stachelschweinkielen ausgenäht, goldglänzende Heiligenbilder auf Spitzengrund. Zwei bayrische Soldaten, gutmütig und derb, bestaunten neben ihm einen bemalten Kupferstich, der die „hochfeyerliche Vermählung” Kaiser Karls des Sechsten darstellte, in schneckenartig gewundenem Zug aus Prunkwägen, Reitern und Fußgängern. Peter Storck gelangte wieder an den Fluss, ging eine Weile neben seinen tosenden Fluten hin und setzte sich endlich auf einen Bretterstapel. Es kam ihm seltsam vor, dass er da auf einmal in der blassen Märzsonne saß und einem vierspännigen Frachtwagen nachsah, der Wein ins Oberland brachte. Der Messingschmuck an den Kummeten klingelte, Dachsfell und rotes Ziertuch flatterten im Wind. Der Fuhrmann im blauen Kittel ließ die Peitsche knallen. – Dann zog Peter seine Tabakspfeife aus der Tasche und besah die apfelgrün und pfirsichroten Quasten, die Farben der Würzburger Franken, deren Bund er vor zwei Jahren beigetreten war als Sohn eines Landsmannes. Damals in Wien war er wegen dieser bunten Pfeifentroddeln einen ganzen Vormittag auf der Polizei verhört worden, und der Kommissär hatte ihm empfohlen, solche studentische Abzeichen ja nicht zur Schau zu tragen. Der Fürst Metternich dulde dergleichen in keinem Wege... Aber was war mit dem Oheim geschehen? Wieder zog er die Zuschrift des bayrischen Amtmannes in Landeck aus der Tasche, nach der sein Oheim Martin Storck in Sankt Marein im Oberen Inntale, Besitzer des Zeitlanghofes, plötzlich verschwunden sei und außer etlichem Hab und Gut nichts hinterlassen habe als einen Zettel, in dem er eigenhändig bestimmte, der Hof mit Einrichtung und allen Gründen gehe als Schenkung in den Besitz seines Neffen Peter Storck über, wohnhaft zu Wien im eigenen Hause zum Alten Blumenstöckel. Da bisher über das Schicksal des Verschollenen nichts erforscht werden konnte, möge der p. p. Peter Storck einstweilen das Haus in seine Obhut nehmen, widrigenfalls es von der Behörde versiegelt werden müsse, wobei für Abgänge und Schäden keinerlei z*****g geleistet werden könne. Obschon nach der Meinung der Ortsinsassen der Herr Martin Storck auf einer Gebirgswanderung verunglückt sei, wofür aber keinerlei Beweise vorlägen, müsse dennoch abgewartet werden, ob der Eigentümer nicht zurückkehren wolle. Das weitschweifig abgefasste Schriftstück aus Landeck enthielt außerdem noch eine Aufstellung des Besitzes und namentlich der Einrichtungsgegenstände, die im Hause vorgefunden wurden, wie sie von der Kommission nach dem Verschwinden des Oheims verfasst worden war. Die ungezählten Laufereien in Wien und nun in Innsbruck waren erledigt, der Pass in Ordnung und nichts stand der weiteren Reise mehr im Wege. Peter konnte endlich zu seinem Oheim Martin, der in den Träumen seiner Jugend eine so große Rolle gespielt hatte. Aber der Oheim war nicht mehr da. In der Familie war oft von ihm gesprochen worden. Vor dem heranwachsenden Knaben war dies stets mit einer sonderbaren Vorsicht geschehen. Oft hatte man, kindliche Beobachtungsgabe unterschätzend, beim Eintritt Peters das Gespräch auffallend und plump auf etwas anderes gelenkt, sich durch Winke und Augenblinzeln zur Behutsamkeit ermahnt. Peter wusste nur, dass dieser Oheim, ein Bruder seines Vaters, gleich diesem aus Franken nach Wien zugewandert, plötzlich in die Einöden des Tiroler Hochgebirges geflohen sei und nie mehr zurückkehren würde. Fragen seinerseits wurden mit Verweisen abgetan. So geschah es, dass ihm erst in seinem siebzehnten Lebensjahr genauere Kunde von dem rätselhaften Einsiedler wurde, freilich unter Begleitumständen, die ein tiefaufwühlendes Erlebnis bedeuteten und ihn auf eigenartige, schwer zu erklärende Weise in ein gänzlich verändertes Verhältnis zur bisher überaus zärtlichen und liebevollen Mutter brachten. Das geschah an jenem Tag, da eine Base der Mutter, die eben verwitwete Frau Genoveva Schnäbele aus Augsburg, von Passau her auf einem Gesellschaftsschiff eintraf, um durch einige Zeit in Wien ihre Trauer zu vergessen. Die schöne und ebenmäßig gebaute, noch junge Frau, eine schwarzhaarige Schwäbin mit goldig schimmernder blasser Haut, erschien dem von den ersten Schauern des Verlangens erfassten Jüngling als eine Göttin von überirdischer Herrlichkeit. In ihrer heiteren Gesundheit und schlanken Fülle mochte sie auch verwöhnten und erfahrenen Männern mehr als nur begehrenswert erscheinen. Beim ersten Abendessen, das die eben Angekommene in seinem Elternhaus einnahm, wagte Peter es kaum, die Augen zu der schalkhaft und munter plaudernden Frau zu erheben. Der aufgeräumte Vater, offensichtlich über den Besuch erfreut, ermunterte ihn zu allerlei Ritterdiensten. So musste Peter endlich der Fremden mit dem großen silbernen Doppelleuchter vorangehen, als sie ihr Schlafgemach zu beziehen wünschte. Als er sich artig mit einem Kratzfuß empfehlen wollte und schüchtern eine geruhsame Nacht wünschte, gähnte die schöne Muhme hinter der anmutig vorgehaltenen Hand und sagte: „Seitdem ich in Passau den Trauner bestiegen habe, bin ich noch nicht rechtschaffen zum Schlafen gekommen. Jetzt wär's mir halt gut, wenn Er mir als mein Kavalier die Schühle von den Füßen ziehen täte!” Alsogleich fiel Peter, von solchem süßen Dienst berauscht, auf die Knie, knüpfte in ungeschickter und eifriger Hast die Bänder von der feinen Fessel und zog die Schuhe ab, behielt aber in einer heftigen Verzücktheit das zierliche warme Gebilde des kleinen Fußes mit den sich mutwillig bewegenden Zehlein in der Hand, indes seine Augen sich aus unbekannter Ursache mit Tränen füllten. Die Muhme bemerkte dies wohl, lachte girrend auf, gab ihm einen sanften Klaps auf den Kopf und ließ ihre Finger in seinem Haar spazieren gehen, wobei sie sagte: „Ei, ei! Er ist ja gar schon ein richtiges Männle!”, worauf er verlegen und stolpernd das Zimmer verließ, um den Eltern gute Nacht zu sagen und ehrerbietig die Hände zu küssen, wie es der Brauch war. Als er danach sein Gesicht erhob, sah er die Augen seiner Mutter mit einer so bangen Frage auf sich gerichtet, dass er erschrak. Bald darauf lag er in seinem Bett oben im Dachgeschoß, recht eigentlich Wand an Wand mit der Frau Genoveva. Es war still, von weither nur tönte das Schnurren einer gezupften Gitarre und hinderte ihn am Einschlafen, wie er meinte. Aber er merkte bald, dass er dieses schwache Geräusch nur deshalb als störend empfand, weil er mit gespanntester Aufmerksamkeit zu lauschen sich mühte, ob nicht ein Laut des Kleiderabstreifens oder Bettknackens aus dem himmlischen Gemach nebenan käme. Es rührte sich aber nichts; nur ein feiner, zischelnder Regen begann zu fallen und der nächtlich Übende ließ endlich ab von seinem Saitenspiel. Der Schlaf wollte jedoch nicht kommen. Unruhig und von innerer Hitze gequält wendete sich Peter im schmalen Bett hin und her und lag endlich mit fieberig geöffneten Augen auf dem Rücken. Aber jäh blieb ihm der Atem aus, denn unter leisem Türöffnen schlich etwas in die Mansarde und ließ sich leicht und warm auf dem Bettrand nieder. Eine Hand fühlte nach seiner Brust, in der das Herz hämmerte, kitzelndes Haar strich um seine Wangen, schlüpfrige Lippen pressten sich erstickend auf seinen Mund, und in unbeschreiblicher Angst und Wonne gab sich der Unerfahrene überirdischen Empfindungen hin, fühlte traumhaft unbekannte schwellende Formen, trank betäubenden Duft und versank nach fast schmerzender Wonne der Erlösung in einen Zustand der Bewusstlosigkeit. Erst beim Frührotschein erwachte er, sah die Schläferin neben sich, fühlte die eigenen Glieder mit den ihren selig verschlungen und unlösbar vermischt. Ein leises Kreischen der Angeln zwang seinen Blick zur Türe, die sich handbreit auftat. Eben wollte er zu denkender Besinnung kommen, als er einen Augenblick im Türspalt das Gesicht seiner Mutter zu erkennen meinte, mit einem so entsetzten und trostlosen Ausdruck, dass ihn heftigster Schrecken emporriss. Aber schon war die schattenhafte, vielleicht nur geträumte Erscheinung verschwunden, und die erweckte Frau an seiner Seite sprang auf und flüchtete nach einem hingehauchten Kuss in ihr Gemach. Peter stand sogleich auf, wusch sich schaudernd im eisigen Wasser, bekleidete sich und ging leise hinunter, von der Magd ein Frühstück heischend. Er gab vor, eine Wanderung in die Praterauen machen zu wollen, was er des Öfteren getan hatte. Als er nach einem planlosen Irrgang zurückkehrte, ungewiss, ob er einige Sicherheit des Betragens würde gewinnen können, wenn er in Gegenwart der Eltern dieser Frau gegenüberstehen müsse, fand er Vater und Mutter allein und schlechtester Laune vor. Seine tödliche Angst, es würde das Ungeheure dieser Nacht an seiner Stirn zu lesen sein, schwand vor dem, was er nun erfuhr. Der Vater brummte ärgerlich über den Sohn, der sich erst zeige, wenn der Suppentopf auf dem Tisch stünde, die Mutter saß bleich, mit verkrampften Händen, als hätte sie unter Vorwürfen zu leiden gehabt. Und kaum war die zweite Speise aufgetragen und die Magd aus dem Zimmer, schalt der Vater über die Art der Zubereitung, von der man doch endlich wissen könne, dass sie ihm nicht behage, und fügte in demselben Reden hinzu, es sei unerhört, dass man ihm ins Amt nicht Botschaft getan von der Abreise des lieben Gastes. Es sei übrigens schlechterdings unglaublich, dass die Erkrankung einer gleichgültigen und weitschichtigen Verwandten in Linz so fluchtartiges Abgehen veranlasst haben könne. Und woher die Nachricht gekommen sei? Die Mutter erwiderte stockend, dass ein Bauernbub den Brief gebracht und den Entschluss in der Base gezeitigt habe, schon jetzt den für später geplanten Besuch in Linz zu machen, dies umso mehr, als gegen Mittag ein Schiffszug die Bergfahrt antreten werde, wie der Junge mitgeteilt. Sicherlich käme die Base wieder, fügte die Mutter mit niedergeschlagenen Augen hinzu. Der Vater befasste sich knurrend mit einem Hühnerschenkel und beugte sich über seinen Teller. Da hob die Mutter plötzlich die Augen und ein flammender, unguter Blick traf Peter, der nun mit furchtbarem Schreck erkannte, dass er am Morgen nicht geträumt und dass die Mutter auf irgendeine Art die schöne Frau Schnäbele aus dem Hause getrieben habe. Als die ersten angsterfüllten Stunden vergangen waren und die fürchterliche Erwartung nahenden Unheils sich verzog, versuchte Peter schamhaft, sich der Mutter zu nähern und durch allerlei Aufmerksamkeiten und Dienste die verlorene Huld wieder zu gewinnen. Aber er stieß auf kalte Ablehnung und Gleichgültigkeit. Nie sprach die Mutter ein Wort, das mit dem Vorfall in irgendeiner Weise zusammenhing, aber auch nie mehr trat das alte Verhältnis zwischen ihr und ihrem Sohn wieder ein. Ihre zunehmende Fremdheit schmerzte ihn bitter. Später gewöhnte er sich, trotzig erst, dann unempfindlich werdend an das veränderte Zusammenleben. Und als der Vater, kurz bevor er an einem Stickfluss verschied, ihn auf die hohe Schule nach Würzburg schickte, fiel Peter der Abschied von der strenge gewordenen Frau leicht. Erst als er an ihrem Totenbett stand und die Sterbende, des Sprechens nicht mehr fähig, die wächserne Hand wie vergebend unendlich mühsam hob und auf seinen Scheitel legte, machte sich der so lange begrabene Schmerz über den Verlust ihrer Liebe frei. So war er, fünfundzwanzigjährig, eben zum Doktor der Rechte promoviert und Besitzer des Hauses zum Alten Blumenstöckel, in einem jähen Feuer hervorbrechender Reue reifer geworden, als es seinen Jahren zukam.
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