*** Olivers Sichtweise ***
Ich lag die ganze Nacht wach im Bett und spielte die Ereignisse immer wieder in meinem Kopf ab. Ich hatte gestern Abend mehrere Fehler gemacht, angefangen damit, Aurora zurückzuweisen.
RÜCKBLENDE
Als ich auf die Bühne trat, beruhigte mich der süße Duft von Rosen und Zimt.
„Gefährtin“, flüsterte Michael, mein Wolf.
Endlich werde ich meine Gefährtin treffen. Ich überblickte die Menge und traf den Blick des schönsten Mädchens, das ich je gesehen hatte. Sie lächelte mich an.
„Gefährtin! Gefährtin!“ rief Michael aufgeregt.
Sie ist perfekt, dachte ich. Ihr langes, schwarzes Haar war geflochten, und ihre tief olivfarbene Haut glänzte im Mondlicht. Diese goldenen Augen waren atemberaubend. Sie trug kein Kleid, und doch war sie das schönste Mädchen in der Menge. Ich wollte nur sie. Ich betrachtete sie noch einmal und nahm ihre Schönheit in mich auf.
Moment mal. Ist sie –
Meine Augen verdunkelten sich vor Wut, als ich die Erkenntnis gewann. Aurora Montenegro, die Wölfin, die bei ihrer ersten Verwandlung die Kontrolle verlor und ihren Vater tötete. Meine Gefährtin war die verabscheuungswürdigste Wölfin im gesamten Lluvia-Blanca-Rudel.
Das kann nicht sein! Sie kann nicht unsere Gefährtin sein!
„Sie ist unsere Gefährtin! Zeige ihr Respekt!“ schnappte Michael.
Als die Zeremonie zu Ende war, wusste ich, dass ich sie ablehnen musste. Kein Rudel würde jemals eine Mörderin als Luna akzeptieren, und kein vernünftiger Wolf würde sie als Gefährtin akzeptieren. Ich wusste, dass meine Eltern ausflippen würden, wenn ich es überhaupt versuchen würde. Ich spürte, wie Michael mich anknurrte.
„Lass es“, knurrte er. Er wollte sie, aber ich wusste, dass es nicht passieren konnte.
Als ich Aurora fand, zog ich sie in den nahegelegenen Wald. Sie wehrte sich zuerst, entspannte sich aber, als sie erkannte, dass ich es war, und ich spürte, wie mein Herz bei dem zärtlichen Blick in ihren Augen zerbrach. Mein Wolf heulte vor Glück, dass ich sie in meinen Händen hatte, aber ich wusste, dass ich sie nicht akzeptieren würde. Als wir außer Sichtweite waren, warf ich sie gegen einen Baum.
Verdammt. Warum musste ich das tun?
Als ich meine harschen Worte hervorspuckte, flehte sie mich an. Ihre Stimme war so weich und schön. Ich liebte sie.
Nein, sie ist eine Mörderin, erinnerte ich mich. Lehne sie ab.
Mein Wolf war wütend auf mich, aber das war mir egal. Ich begann, sie abzulehnen, als sie mich unterbrach. Da tat ich das Schlimmste, was ich nur tun konnte. Ich schlug sie. Ich verletzte meine Gefährtin und vollendete die Ablehnung.
Michael schrie vor Schmerz, und ein brennendes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Ich drehte mich um, damit sie nicht die Tränen sehen konnte, die mir übers Gesicht liefen.
Es tut mir so leid, dachte ich, als ich sie hinter mir schluchzen hörte.
ENDE DER RÜCKBLENDE
Michael hat seit gestern Abend nicht mehr mit mir gesprochen, besonders nachdem ich Erin geküsst hatte. Ein Schauer läuft mir über den Rücken bei dem Gedanken an Erins Zunge in meinem Mund.
Wie widerlich.
Schlimmer noch, Aurora hatte alles gesehen. Tränen liefen aus ihren honigfarbenen Augen, und mir schnürte sich der Hals zu.
Ich bin ein verdammter Idiot. Wie konnte ich ihr das antun?
Zum Glück hatten wir nur geküsst. Die Göttin weiß, wie viele Krankheiten diese Schlampe mit sich trägt. Sie ist letzte Nacht nicht mit unserem Rudel zurückgekehrt, also nehme ich an, dass sie ein weiteres Opfer gefunden hat, das sie beglücken konnte.
Unfähig zu schlafen, stehe ich auf, dusche und ziehe mich an. Ich mache mir schnell eine Schüssel Haferbrei und gehe in mein Büro, um einige Geschäftskontrakte und Akten zu überprüfen, die der Firmenanwalt auf meinem Schreibtisch hinterlassen hat. Während ich arbeite, schweifen meine Gedanken zu Aurora ab.
Ich muss meine Ablehnung zurücknehmen. Ich werde um Vergebung bitten, wenn es sein muss. Ich brauche sie.
Plötzlich spüre ich ein stechendes Gefühl auf meiner Wange. Und genauso plötzlich, wie es kam, verschwindet es wieder.
Das war seltsam.
Ich arbeite etwa eine Stunde weiter, völlig in meine Akten vertieft, als mich plötzlich eine tiefe Angst überkommt.
Etwas stimmt nicht.
Mein Herz rast, und das Atmen fällt mir schwer.
„Michael, was passiert?“
„Gefährtin“, wimmert er. „Sie hat Angst.„
Wovor?
Gerade als die Angst übermächtig wird, tritt Carter, einer meiner besten Freunde und Beta, mit einigen Akten in den Raum.
„Alpha, hier ist der Bericht über die monatlichen Ausgaben... Hey, was ist los?“ fragt er und legt die Akten auf meinen Schreibtisch.
„Ich weiß nicht... Ah!“ Ich keuche, als ein stechender Schmerz von der Seite meines Schädels ausgeht. Ich krümme mich vor Qual, und mein Atem wird kürzer und kürzer.
„Oliver, was ist los?“ Carter eilt zu mir. „Hey! Hör auf damit! Du machst mir Angst.“
Ich atme tief ein und versuche, mich zu beruhigen. Michaels Angst verwandelt sich in reine Wut.
„Gefährtin braucht uns. Wir müssen gehen!„
Was?
„Er nimmt sie mit Gewalt! Geh jetzt!“ brüllt er wütend.
Ich bin wütend. Ich muss ihr helfen. Ich muss meiner Gefährtin helfen. Ein brennendes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus.
„AURORA!“ schreie ich vor Qual. Ich falle zu Boden und winde mich vor Schmerzen. Mein Kopf pocht, meine Haut fühlt sich an, als würde sie in Stücke gerissen, und meine inneren Oberschenkel brennen. Ich schnappe nach Luft.
„Oliver, beruhige dich!“ ruft Carter.
„Meine Gefährtin. Ich- ich muss zu meiner Gefährtin! Ich muss nach Lluvia Blanca!“ stöhne ich zwischen den Schmerzattacken. Der verwirrte Ausdruck auf Carters Gesicht macht mich wütend. „Jetzt“, fordere ich mit meiner Alpha-Stimme.
„Ja, Alpha. Ich werde Evan bitten, das Auto zu holen“, antwortet er gehorsam.
„Nein, es geht schneller, wenn wir uns verwandeln“, sage ich.
„Aber dein Schmer-“
„Ich sagte, wir verwandeln uns.“
„Ja, Alpha.“ Carter legt meinen Arm um seinen Nacken und hilft mir auf die Füße. Ich verbinde mich über Gedankenlink mit der Rudelärztin Meghan und lasse sie wissen, dass sie uns an der Grenze von Lluvia Blanca treffen soll; ich habe das Gefühl, dass wir sie brauchen werden. Wir gehen schnell nach draußen, verstecken uns hinter einigen Bäumen, ziehen uns aus und verwandeln uns. Sobald wir in unseren Wolfsformen sind, rennen wir zum Gebiet von Lluvia Blanca.
Dank unseres 50-jährigen Bündnisses lassen uns die Wachen an der Grenze von Lluvia Blanca leicht durch. Als wir die Auffahrt entlangkommen, zieht sich mein Magen zusammen. Ihr süßer Duft von Rosen und Zimt steigt mir in die Nase, gemischt mit einem anderen bekannten Geruch: dem metallischen Geruch von Blut.
Es bleibt keine Zeit für Förmlichkeiten, also verbinde ich mich über Gedankenlink mit Carter, und wir rennen um das Haus herum zum Amphitheater.
„Wen suchen wir?“, fragt Carter über Gedankenlink.
„Aurora Montenegro.“
„Das Mörder-Mädchen?“
Ich ignoriere Carters dummen Kommentar und konzentriere mich auf ihren Duft.
„Sie ist im Wald“, sage ich, als sich ein Gefühl der Angst in meinem Magen ausbreitet. Ich renne in den Wald, Carter dicht hinter mir. Ich schicke ein stummes Gebet an die Mondgöttin.
Bitte sei in Ordnung, Aurora. Es tut mir so leid. Mein Unbehagen wird immer stärker, als plötzlich ein gellender Schrei uns in den Spuren innehalten lässt.
„Jemand, bitte, hilf mir!“
Aurora!
Carter und ich rennen in die Richtung, aus der die Schreie kommen. Wir hören Geräusche eines Kampfes und erreichen die Lichtung gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Erin Aurora in den Kopf tritt und sie bewusstlos schlägt.
Nein!
Ich stürze mich auf Erin, beiße ihr in die Schulter und werfe sie in den Bach. Sie schreit vor Schmerz, als sie aufschlägt. Ich verwandle mich zurück, eile zu Aurora und suche nach einem Puls. Erleichtert stelle ich fest, dass ihr Blut noch durch ihren Körper fließt. Ihr Atem ist flach, aber gleichmäßig.
„Aurora, wach auf, Baby. Bitte wach auf“, wimmere ich und tippe auf ihre weichen, geschwollenen Wangen.
„Alpha, da ist eine Leiche“, sagt Carter. „Es ist Andrew, er ist tot.“
Ich blende Carters Worte aus, während ich Auroras Haar streichle und ihre Wunden untersuche. Ihre Nase und Lippen bluteten, und ihr gesamtes Gesicht war von blauen Flecken übersät. Ich ziehe meine Hand zurück und entdecke, dass Blut aus einer Wunde an der Seite ihres Kopfes sickert.
Was haben sie dir angetan?
Ein Schluchzen entweicht meiner Kehle. Ich lehne meine Stirn an ihre. „Bitte wach auf“, flüstere ich, während mein Wolf weint.
„Alpha, was soll ich mit Erin und der Leiche machen?“ fragt Carter und reißt mich aus meiner Trance.
Ich hebe meinen Kopf und sehe, wie Carter mich besorgt ansieht. Erin ist jetzt an Land und hält ihre blutende Schulter.
„Sie hat meinen Bruder getötet! Ich habe es gesehen! Sie ist eine Mörderin!“ schreit sie.
„Halt die verdammte Klappe!“ fahre ich sie an, und Erin zuckt zusammen. Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder Carter zu. „Ruf Evan und Eric an, sie sollen Andrews Leiche abholen und Erin zurück ins Rudelhaus bringen. Stelle sicher, dass sie sie in ihrem Zimmer einsperren und nicht rauslassen. Ich kümmere mich später um sie. Du sprichst mit Alpha Miguel und informierst ihn, dass Aurora meine Gefährtin ist und dass ich sie ins Flussmond Territorium zurückbringen werde“, befehle ich.
Carter nickt und reicht mir eine Basketball-Shorts, die ich schnell anziehe. Dann beginnt er, Eric und Evan über den Geist zu kontaktieren.
„Alpha, ich bin so schnell wie möglich gekommen. Ich bin an der Grenze von Lluvia Blanca“, sagt Meghan, die Rudelärztin, über den Geist.
„Ich bin auf dem Weg“ ,antworte ich. Vorsichtig hebe ich Aurora in meine Arme und beginne, zur Grenze zu rennen. Aurora ist so leicht in meinen Armen. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis ich die Grenzlande erreiche. Meghan wartet geduldig im silbernen Range Rover. Als sie Aurora sieht, springt sie sofort aus dem Auto.
„Alpha, leg sie auf den Rücksitz. Du fährst, und ich beginne, ihre Wunden zu behandeln“, befiehlt sie.
Ich nicke und lege Auroras leblosen Körper ins Auto, während Meghan auf den Rücksitz klettert. Ich wische mir die Tränen aus den Augen und setze mich auf den Fahrersitz.
Ich bin die ganze Fahrt zum Krankenhaus nervös. Im Rückspiegel beobachte ich, wie Meghan an Aurora arbeitet, während sie leise vor sich hin flucht, als sie Auroras Körper untersucht und Wunden und alte Narben entdeckt.
„Sie haben dieses arme Mädchen gefoltert“ ,flüstert sie, mehr zu sich selbst als zu mir. „Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals.
Ich habe ihr auch wehgetan.
„Die Wunden an ihrem Kopf sind für mich am besorgniserregendsten. Es sieht so aus, als wäre sie mindestens an zwei Stellen am Kopf getroffen worden, und sie hat wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Ich werde einige Scans machen müssen, um zu sehen, wie schlimm der Schaden ist. Angesichts der Blutergüsse an ihrem Bauch ist innere Blutungen ebenfalls sehr wahrscheinlich. Wir wissen mehr, wenn wir im Rudelkrankenhaus sind“, erklärt sie.
„Danke.“
Endlich fahre ich am Rudelkrankenhaus vor. Zwei Krankenschwestern stehen draußen mit einer Trage bereit. Ich trage Aurora schnell auf die Trage, und sie wird sofort hineingebracht, Meghan folgt dicht dahinter. Aurora wird in einen Schockraum gebracht, und mehrere Ärzte beginnen, an ihr zu arbeiten. Ich versuche, hineinzugehen, aber Meghan hält mich auf.
„Alpha, es ist besser, wenn du draußen wartest, während wir arbeiten. Du könntest zu emotional werden.“
„Aber ich bin ihr Gefährte!“ entgegne ich.
„Alpha, bitte. Wir können nicht unsere beste Arbeit leisten, wenn du hier drin bist. Ich verspreche dir, dass du als Erster von ihrem Zustand erfährst, sobald wir mit den Untersuchungen fertig sind“, sagt Meghan ruhig.
Ich wollte sie nicht allein lassen, aber ich wusste, dass die Ärztin recht hatte. Ich nicke, und Meghan eilt zurück hinein, während sie Befehle erteilt und Aurora an mehrere Maschinen anschließt.
Kurz darauf wird Aurora in die Labore gebracht. Meghan kehrt zurück und führt mich in einen privaten Raum. Der Ausdruck in ihrem Gesicht löst Unbehagen in meinem Herzen aus.
„Was ist los?“ frage ich.
„Alpha, wir haben einen schnellen CT-Scan gemacht und festgestellt, dass es keine Hirnschwellung gibt, was gute Nachrichten sind. Sie hat ein paar gebrochene Rippen, und ihr linkes Handgelenk scheint verstaucht zu sein. Allerdings zeigte der Ultraschall schwere innere Blutungen in ihrem Bauch, deshalb haben wir sie in die Chirurgie geschickt, um die Blutungen zu stoppen. Wir haben ihr mehrere Infusionen und eine Bluttransfusion gegeben, um ihren Blutdruck stabil zu halten. Sie hat sich seit Jahren nicht verwandelt, so wie es aussieht, daher wird ihre Heilungszeit länger sein als gewöhnlich. Dr. Robert ist hervorragend, also bin ich zuversichtlich, dass ihre Operation gut verlaufen wird“, sagt sie.
Ich atme erleichtert auf. Sie ist okay!
„Alpha, es gibt noch ein paar Dinge, die ich mit dir besprechen muss“, sagt sie und unterbricht meine glücklichen Gedanken. Meghan tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. „Während ich sie untersucht habe, habe ich ihre Kleidung entfernt und...“ Sie hält abrupt inne und atmet tief durch.
Mein Herz beginnt unkontrolliert zu rasen.
„... und ich habe vaginale Traumata gefunden“, sie pausiert und lässt die Information einsinken.
Ihre Worte hallen in meinem Kopf wider, während Wut durch jede Faser meines Körpers strömt. Es war Andrew, und wahrscheinlich hat sie ihn in Notwehr getötet. Ich merke nicht einmal, dass ich fast am Knurren bin und mich zu verwandeln drohe, bis Meghans Stimme meine Gedanken unterbricht, indem sie eine Hand auf meine Schulter legt.
„Alpha, bitte beruhige dich.“
„Beruhigen? Beruhigen? Meine Gefährtin wurde vergewaltigt, und du willst, dass ich mich beruhige?“ schreie ich sie fast an.
„Aurora hat ein schwer traumatisches Ereignis durchgemacht. Wenn sie aufwacht, wird sie dich brauchen...“
„Was meinst du mit wenn?“ entgegne ich. „Du hast gesagt, sie wird in Ordnung sein.“
„Alpha, lass es mich erklären. Die CT-Scans zeigen keine Hirnschwellung, was großartig ist, aber das bedeutet nicht, dass sie außer Gefahr ist. Während der gesamten Fahrt hierher und bei der ersten Trauma-Untersuchung war Aurora völlig unansprechbar. Sie war bewusstlos, als sie in die Operation ging, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie in einen komatösen Zustand eingetreten ist. Wir haben keine Möglichkeit zu wissen, ob und wann sie aufwachen wird. Du musst darauf vorbereitet sein, Alpha, dass sie vielleicht nie wieder aufwacht.“
Mein Kopf schwirrt, und ich spüre, wie das Blut aus meinem Gesicht weicht. Sie könnte nie wieder aufwachen? Plötzlich überkommt mich ein Gefühl der Reue. Warum habe ich sie letzte Nacht nicht akzeptiert? Warum habe ich sie nicht einfach mit nach Hause genommen? Ich hätte sie beschützen können. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten und beginne zu panisch zu werden bei dem Gedanken, Aurora zu verlieren.
Meghan ruft eine Krankenschwester, um mir etwas zu bringen, das meine Nerven beruhigt, bevor sie losgeht, um ein Update über Aurora zu bekommen. Carter kommt bald darauf in den Raum.
„Ich bin hier für dich, Kumpel. Ich bin hier“, sagt er und zieht mich in seine Arme.