KAPITEL DREI

2046 Words
KAPITEL DREI Sam erwachte unter rasenden Kopfschmerzen. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf und versuchte, den Schmerz so loszuwerden. Doch es gelang ihm nicht. Es fühlte sich an, als würde die ganze Welt auf seinen Schädel eindonnern. Sam versuchte, die Augen zu öffnen, um herauszufinden, wo er war, und dabei wurde der Schmerz unerträglich. Blendendes Sonnenlicht spiegelte von Felsen in der Wüste wider und zwang ihn, seine Augen abzuschirmen und den Kopf zu senken. Er spürte, dass er auf felsigem Wüstenboden lag, spürte die trockene Hitze, spürte den Staub, der ihm ins Gesicht stieg. Er krümmte sich wie ein Fötus zusammen und hielt seinen Kopf fester, versuchte, den Schmerz zu vertreiben. Erinnerungen kamen zurück. Zuerst an Polly. Er erinnerte sich an Caitlins Hochzeitsnacht. Die Nacht, in der er Polly einen Antrag gemacht hatte. Wie sie Ja gesagt hatte. Die Freude auf ihrem Gesicht. Er erinnerte sich an den folgenden Tag. Wie er zur Jagd gegangen war. Wie er sich auf ihren gemeinsamen Abend gefreut hatte. Er erinnerte sich daran, wie er sie gefunden hatte. Am Ufer. Im Sterben. Wie sie ihm von ihrem Baby erzählt hatte. Wellen von Trauer schlugen über ihm zusammen. Es war mehr, als er bewältigen konnte. Es war wie ein schrecklicher Alptraum, der sich wiederholt in seinem Kopf abspielte, einer, den er nicht abschalten konnte. Er fühlte sich, als wäre alles, wofür es sich für ihn noch zu leben gelohnt hatte, von ihm genommen worden in einem einzigen großen Moment. Polly. Das Baby. Das Leben, wie er es kannte. Er wünschte sich, er wäre in jenem Moment gestorben. Dann erinnerte er sich an seine Vergeltung. Seine Rage. Wie er Kyle getötet hatte. Und an den Moment, der alles verändert hatte. Er erinnerte sich daran, wie Kyles Geist in ihn gefahren war. Er erinnerte sich an das unbeschreibliche Gefühl der Rage, das Gefühl, dass der Geist und die Seele einer anderen Person ihm aufgedrängt wurden, ihn ganz und gar besessen hatten. Es war der Moment, in dem Sam aufhörte, zu sein, wer er war. Es war der Moment, in dem er zu jemand anderem wurde. Sam öffnete seine Augen zur Gänze und er spürte, er wusste, dass sie glühend rot waren. Er wusste, dass sie nicht länger ihm gehörten. Er wusste, dass es nun Kyles Augen waren. Er spürte Kyles Hass, spürte Kyles Macht, die durch ihn strömten, durch jede Faser seines Körpers, von seinen Zehen durch die Beine hoch in seine Arme, bis hin zu seinem Kopf. Er spürte Kyles Zerstörungsdrang durch seinen Körper pulsieren, wie etwas Lebendiges, wie etwas, das in seinem Körper feststeckte und das er nicht herausbekommen konnte. Er fühlte sich, als hätte er nicht länger die Kontrolle über sich selbst. Ein Teil von ihm vermisste den alten Sam, vermisste, wer er gewesen war. Doch ein anderer Teil von ihm wusste, er würde nie wieder diese Person sein. Sam hörte ein fauchendes, klapperndes Geräusch und öffnete die Augen. Er lag mit dem Gesicht voran am Wüstenboden, und als er hochblickte, sah er eine Klapperschlange ihn nur wenige Zentimeter entfernt anzischen. Die Augen der Klapperschlange blickten direkt in Sams, wie im Gespräch mit einem Freund, eine ähnliche Energie verspürend. Er konnte spüren, dass die Rage der Schlange seiner eigenen ähnlich war—und dass sie kurz davor stand, anzugreifen. Doch Sam fürchtete sich nicht. Im Gegenteil—er fühlte sich von einer Rage erfüllt, die derer der Schlange nicht nur gleich war, sondern größer. Und dazu passende Reflexe. In dem Sekundenbruchteil, in dem die Schlange sich bereitmachte, zuzuschnappen, kam Sam ihr zuvor: er streckte seine Hand aus, packte die Schlange in der Luft am Hals und hielt sie nur zwei Zentimeter von seinem Gesicht entfernt so fest, dass sie ihn nicht beißen konnte. Sam hielt die Augen der Schlange auf seiner Augenhöhe, starrte sie so nahe an, dass er ihren Atem riechen konnte, ihre langen Giftzähne nur zwei Zentimeter entfernt, danach lechzend, in Sams Hals zu fahren. Doch Sam überwältigte sie. Er drückte fester und fester zu und quetschte ihr langsam das Leben aus. Sie erschlaffte in seiner Hand, zu Tode erdrückt. Er holte aus und schleuderte sie über den Wüstenboden. Sam sprang auf die Füße und nahm seine Umgebung in sich auf. Um ihn herum war Staub und Steine—ein endloses Stück Wüste. Er drehte sich herum und bemerkte zwei Dinge: das erste war eine Gruppe kleiner Kinder, in Lumpen gekleidet, die neugierig zu ihm hochblickten. Als er zu ihnen herumwirbelte, stoben sie auseinander, eilten davon, als hätten sie ein wilden Tier dabei beobachtet, wie es aus dem Grab stieg. Sam spürte Kyles Wut durch ihn strömen, und ihm war danach, sie alle zu töten. Doch das Zweite, was ihm auffiel, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Eine Stadtmauer. Eine enorme Steinmauer, die sich über hundert Meter in die Lüfte erhob und sich in die Ewigkeit erstreckte. In dem Moment erkannte Sam: er war in den Vororten einer uralten Stadt aufgewacht. Vor ihm stand ein riesiges gewölbtes Tor, unter dem dutzende Menschen hinein und heraus strömten, in primitive Kleidung gehüllt. Sie wirkten, als befänden sie sich im römischen Zeitalter, in schlichte Roben oder Tuniken gekleidet. Auch Vieh strömte hinein und hinaus, und Sam konnte schon von hier die Hitze und den Lärm der Menge hinter den Mauern spüren. Sam machte ein paar Schritte auf das Tor zu, und dabei stoben die Kinder auseinander, als würden sie vor einem Monster davonlaufen. Er fragte sich, wie furchteinflößend er aussah. Doch es war ihm eigentlich egal. Er verspürte den Drang, diese Stadt zu betreten und herauszufinden, warum er hier gelandet war. Doch anders als der alte Sam verspürte er keinen Drang, sie zu erforschen: vielmehr verspürte er den Drang, sie zu zerstören. Diese Stadt in Stücke zu hauen. Ein Teil von ihm versuchte, es abzuschütteln, den alten Sam zurückzubringen. Er zwang sich dazu, an etwas zu denken, das ihn zurückbringen könnte. Er zwang sich dazu, an seine Schwester Caitlin zu denken. Doch es war vernebelt; er konnte ihr Gesicht nicht mehr wirklich hervorrufen, so sehr er es auch versuchte. Er versuchte, seine Gefühle für sie hervorzurufen, ihre gemeinsame Mission, ihren Vater. Er wusste tief drin, dass sie ihm immer noch wichtig war, dass er ihr immer noch helfen wollte. Doch dieser kleine Teil von ihm war schon bald überwältigt von dem neuen, bösartigen Teil. Er erkannte sich selbst kaum wieder. Und der neue Sam zwang ihn, seine Gedanken aufzugeben und weiterzugehen, direkt in die Stadt hinein. Sam marschierte durch das Stadttor und rempelte dabei die Leute aus dem Weg. Eine alte Frau, die einen Korb auf ihrem Kopf balancierte, kam ihm zu nahe, und er stieß ihr so kräftig gegen die Schulter, dass sie hinfiel, ihr der Korb vom Kopf gestoßen wurde und Obst sich überall verteilte. „He“, schrie ein Mann. „Sieh nur, was du angerichtet hast! Entschuldige dich bei ihr!“ Der Mann marschierte auf Sam zu und machte den dummen Fehler, die Hand auszustrecken und ihn am Mantel zu packen. Der Mann hätte erkennen sollen, dass es ein Mantel war, den er nicht kannte, schwarz und aus Leder, und hauteng. Der Mann hätte erkennen sollen, dass Sams Kleidung aus einem anderen Jahrhundert stammte—und dass Sam der letzte Mann war, dem er in die Quere geraten wollte. Sam blickte auf die Hand des Mannes hinunter, als wäre sie ein Insekt, dann packte er ihn am Handgelenk und verdrehte es mit der Kraft von hundert Männern. Die Augen des Mannes weiteten sich vor Angst und Schmerz, während Sam immer weiter drehte. Schließlich drehte sich der Mann zur Seite und ging in die Knie. Sam drehte jedoch weiter, bis er ein grässliches Krachen hörte und der Mann mit gebrochenem Arm aufschrie. Sam holte aus und schaltete den Mann aus, indem er ihm kräftig ins Gesicht trat, womit er bewusstlos zu Boden fiel. Eine kleine Gruppe Passanten hatte das beobachtet, und sie machten Sam weitläufig Platz, als er weiterging. Niemand schien sehr erpicht darauf, auch nur in seine Nähe zu geraten. Sam ging weiter, direkt in das Gedränge hinein, und war schon bald von einer neuen Menge umringt. Er fügte sich in den endlosen Strom von Menschen, die die Stadt erfüllten. Er war nicht sicher, wohin er gehen sollte, doch er verspürte diese neuen Gelüste, die ihn übermannten. Er spürte die l**t zu trinken durch ihn strömen. Er wollte Blut. Er wollte ein frisches Todesopfer. Sam ließ sich von seinen Sinnen leiten und spürte, wie er in eine bestimmte Gasse geführt wurde. Als er in sie einbog, wurde die Gasse schmaler, dunkler, höher, abgeschottet vom Rest der Stadt. Es war sichtlich ein schäbiger Stadtteil, und während er weiterzog, wurden die Leute immer fragwürdiger. Bettler, Säufer und Prostituierte füllten die Straßen, und Sam rempelte mehrere schurkische, fette Männer, unrasiert, mit fehlenden Zähnen, die an ihm vorüberstolperten. Er achtete darauf, dass er sie besonders kräftig anrempelte, um sie in alle Richtungen umzuwerfen. Sie alle waren weise genug, ihn nicht weiter herauszufordern als empört „He!“ zu rufen. Sam ging weiter und fand sich schon bald auf einem kleinen Platz wieder. Da in der Mitte, mit den Rücken zu ihm, standen etwa ein Dutzend Männer im Kreis und jubelten. Sam kam heran und drängte sich durch, um zu sehen, weswegen sie jubelten. In der Mitte des Kreises waren zwei Hähne, die einander in Stücke rissen, blutüberströmt. Sam sah, dass die Männer Wetten abgaben, altertümliche Münzen tauschten. Hahnenkämpfe. Der älteste Sport der Welt. So viele Jahrhunderte waren vergangen, und doch hatte sich nichts wirklich geändert. Sam hatte genug. Er wurde unruhig, und er verspürte den Drang, etwas Chaos anzurichten. Er marschierte in die Mitte des Rings, direkt auf die beiden Vögel zu. Dabei schrie die Menge empört auf. Sam ignorierte sie. Stattdessen packte er einen der Hähne an der Gurgel, hob ihn hoch und wirbelte ihn über seinem Kopf. Es krachte, und er spürte ihn in seiner Hand erschlaffen, sein Genick gebrochen. Sam spürte seine Eckzähne ausfahren und grub die Zähne in den Körper des Hahnes. Er saugte das Blut gierig auf, und es rann ihm übers Gesicht, die Wangen hinunter. Endlich warf er den Vogel unbefriedigt davon. Der andere Hahn machte sich davon, so schnell er konnte. Die Menge starrte Sam sichtlich schockiert an. Doch dies waren raue, grobe Typen, nicht von der Sorte, die einfach davonlaufen würde. Sie verzogen die Gesichter und bereiteten sich auf einen Kampf vor. „Du hast unseren Wettkampf ruiniert!“, schnappte einer von ihnen. „Dafür wirst du bezahlen!“, schrie ein anderer. Mehrere bullige Männer zogen kurze Dolche hervor und stürzten sich auf Sam, direkt auf ihn einstechend. Sam zuckte kaum. Er sah alles wie in Zeitlupe passieren. Mit Reflexen, die eine Million Mal schneller waren, streckte er einfach die Hand aus, fing das Handgelenk des Mannes in der Luft ab und drehte es ihm im gleichen Schwung herum, bis er ihm den Arm gebrochen hatte. Dann holte er aus und trat dem Mann in die Brust, sodass er in den Kreis zurückflog. Einem weiteren Mann, der auf ihn zukam, stürzte sich Sam entgegen und kam ihm zuvor. Er kam nahe an ihn heran, und bevor der Mann reagieren konnte, hatte er seine Zähne bereits in der Kehle des Mannes versenkt. Sam trank mit tiefen Schlucken, Blut spritzte überall umher und der Mann schrie vor Schmerzen. In wenigen Momenten hatte er ihm das Leben ausgesaugt, und der Mann brach am Boden zusammen. Die anderen starrten, völlig entsetzt. Endlich schien ihnen klar zu sein, dass ein Monster unter ihnen war. Sam trat einen Schritt auf sie zu, und sie alle drehten sich herum und rannten davon. Sie verschwanden wie Fliegen, und nur einen Moment später war Sam der Einzige am Platz. Er hatte sie alle besiegt. Doch das war Sam nicht genug. Es gab kein Ende für das Blut und den Tod und die Zerstörung, die er begehrte. Er wollte jeden Mann in dieser Stadt töten. Selbst dann würde es nicht ausreichen. Sein Mangel an Befriedigung frustrierte ihn ohne Ende. Er lehnte sich zurück, reckte das Gesicht zum Himmel und brüllte. Es war das Brüllen eines Tieres, das endlich freigelassen worden war. Sein Schmerzensschrei erhob sich in die Luft, hallte von den Steinmauern Jerusalems wider, lauter als die Glocken, lauter als die klagenden Gebete. Einen kurzen Moment lang brachte es die Mauern zum Beben, beherrschte die gesamte Stadt—und von einem Ende zum anderen hielten ihre Einwohner inne und horchten hin und lernten das Fürchten. In dem Augenblick wussten sie: ein Monster war unter ihnen.
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