KAPITEL VIER

3211 Words
KAPITEL VIER Caitlin und Caleb kletterten den steilen Berghang hinunter auf das Dorf Nazareth zu. Es war felsig, und sie rutschten mehr als wanderten den steilen Hang hinunter, Staub dabei aufwirbelnd. Auf dem Weg änderte sich das Gelände, der nackte Fels wich kleinen Flecken von Gräsern, hier und da einer Palme, dann richtigen Wiesen. Schließlich fanden sie sich in einem Olivenhain wieder und spazierten durch Reihen von Olivenbäumen, weiter hinab auf die Ortschaft zu. Caitlin sah sich die Äste genauer an und sah tausende kleiner Oliven in der Sonne schimmern, und bewunderte, wie schön sie waren. Je näher sie dem Ort kamen, umso fruchtbarer waren die Bäume. Caitlin blickte hinunter und hatte von diesem Aussichtspunkt einen Blick auf das Tal und das Dorf aus der Vogelperspektive. Ein kleines Dorf, eingebettet in gewaltige Täler, konnte man Nazareth kaum eine Stadt nennen. Es schien nur ein paar hundert Einwohner zu haben, nur ein paar Dutzend kleiner Gebäude, ebenerdig und aus Stein erbaut. Einige von ihnen schienen aus einem weißen Kalkstein gebaut, und in der Ferne konnte Caitlin enorme Kalksteinbrüche um die Stadt herum sehen, in denen Dorfbewohner vor sich hin hämmerten. Sie konnte das sanfte Klingen ihrer Hämmer selbst aus dieser Entfernung schallen hören, und konnte den hellen Kalkstein-Staub in der Luft hängen sehen. Nazareth war von einer niedrigen, verwinkelten Steinmauer umgeben, die vielleicht drei Meter hoch war und selbst in dieser Zeit bereits uralt aussah. In ihrer Mitte war ein breiter, offener Torbogen. Am Tor standen keine Wachen, und Caitlin nahm an, dass es keinen Grund dazu gab; immerhin war dies eine kleine Stadt mitten im Nirgendwo. Caitlin musste sich fragen, warum sie wohl in dieser Zeit und an diesem Ort erwacht waren. Warum Nazareth? Sie dachte darüber nach, was sie über Nazareth wusste. Sie erinnerte sich vage daran, einmal etwas darüber gelernt zu haben, doch sie konnte sich einfach nicht erinnern. Und warum im ersten Jahrhundert? Es war so ein dramatischer Sprung vom mittelalterlichen Schottland, und sie stellte fest, dass sie Europa vermisste. Diese neue Landschaft mit ihren Palmen und der Wüstenhitze war ihr so fremd. Mehr als alles andere fragte sich Caitlin, ob Scarlet hinter diesen Mauern war. Sie hoffte—sie betete—dass es so war. Sie musste sie finden. Eher würde sie nicht zur Ruhe kommen. Caitlin trat mit Caleb durch das Stadttor und betrat die Stadt mit einem erwartungsvollen Gefühl. Sie konnte ihr Herz beim Gedanken daran, Scarlet zu finden, pochen spüren—und beim Gedanken daran, herauszufinden, warum sie überhaupt an diesen Ort geschickt worden waren. Konnte ihr Vater darin auf sie warten? Als sie die Stadt betraten, verschlug ihr ihre Lebendigkeit den Atem. Die Straßen waren erfüllt von herumrennenden Kindern, kreischend und spielend. Hunde liefen wild umher, und auch Hühner. Schafe und Ochsen teilten sich die Straßen, schlenderten umher, und außerhalb jedes Heims stand ein Esel oder Kamel an einen Pfahl gebunden. Dorfbewohner spazierten gemütlich umher, in primitive Tuniken und Roben gekleidet, mit Körben voll Waren über ihren Schultern. Caitlin fühlte sich, als hätte sie eine Zeitmaschine betreten. Während sie die engen Straßen entlang wanderten, vorbei an kleinen Häusern, an alten Frauen, die von Hand Wäsche wuschen, hielten die Leute an und starrten. Caitlin erkannte, dass sie so fehl am Platz aussehen mussten, wie sie diese Straßen entlanggingen. Sie blickte auf ihre moderne Kleidung hinunter—ihren engen, ledernen Kampfanzug—und fragte sich, was diese Leute wohl von ihr dachten. Sie mussten denken, dass sie eine Außerirdische war, die vom Himmel heruntergefallen war. Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Vor jedem Haus stand jemand, der Essen zubereitete, Waren verkaufte oder sein Handwerk ausübte. Sie passierten mehrere Zimmermanns-Familien, der Mann vor dem Heim sitzend, sägend, hämmernd, Dinge bauend von Betten über Kästchen bis hin zu hölzernen Achsen für Pflüge. Vor einem der Häuser baute ein Mann ein riesiges Kreuz, über einen Meter d**k und drei Meter lang. Caitlin erkannte, dass es ein Kreuz war, das für eine Kreuzigung gedacht war. Sie schauderte und blickte weg. Als sie in eine weitere Straße einbogen, war der gesamte Block gefüllt mit Schmieden. Überall flogen Hämmer auf Ambosse, und das Klirren von Metall hallte durch die Straße, jeder Schmied das Echo des nächsten. Es gab auch Lehmgruben mit hohen Flammen, über denen Platten von rotglühendem Metall schwelten, auf denen Hufeisen, Schwerter und alle Arten von Metallarbeiten gefertigt wurden. Caitlin bemerkte die Gesichter von Kindern, schwarz vom Ruß, die an der Seite ihrer Väter saßen und ihnen bei der Arbeit zusahen. Ihr taten die Kinder leid, die in so jungem Alter schon arbeiten mussten. Caitlin suchte überall nach einem Anzeichen von Scarlet, von ihrem Vater, irgendeinem Hinweis darauf, warum sie hier waren—doch sie fand nichts. Sie bogen in eine weitere Straße ein, und diese war von Steinmetzen erfüllt. Hier meißelten Männer an großen Kalkstein-Brocken herum, schufen Statuen, Keramik und riesige flache Pressen. Zuerst erkannte Caitlin nicht, wofür diese gut waren. Caleb deutete auf sie. „Das sind Weinpressen“, sagte er, wie immer ihre Gedanken lesend. „Und Olivenpressen. Sie werden eingesetzt, um die Trauben und Oliven zu zerdrücken und so den Wein und das Öl zu gewinnen. Siehst du diese Kurbeln?“ Caitlin sah genauer hin und bewunderte die Handwerkskunst, die langen Kalksteinplatten, die feine Metallkunst der Zahnräder. Sie war davon überrascht, wie fortgeschritten ihre Maschinen waren, selbst für diese Zeit. Sie war auch überrascht davon, wie alt das Weinbau-Handwerk war. Hier war sie, tausende Jahre in der Vergangenheit, und die Leute stellten immer noch flaschenweise Wein her, Olivenöl, genau wie sie es im 21. Jahrhundert taten. Und während sie zusah, wie die Glasflaschen langsam mit Wein und Öl befüllt wurden, erkannte sie, dass sie genau wie die Weinflaschen und Olivenöl-Flaschen aussahen, die sie selbst verwendet hatte. Eine Gruppe Kinder rannte an ihr vorbei, spielte Fangen, lachte, und dabei wirbelten Staubwolken hoch und bedeckten Caitlins Füße. Sie blickte hinunter und stellte fest, dass die Straßen in diesem Dorf nicht befestigt waren—es war wahrscheinlich, überlegte sie, zu klein, um sich gepflasterte Straßen leisten zu können. Und doch wusste sie, dass Nazareth für irgendetwas berühmt war, und es störte sie, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wofür. Wieder einmal hätte sie sich selbst dafür treten können, dass sie im Geschichtsunterricht nicht besser aufgepasst hatte. „Es ist die Stadt, in der Jesus lebte“, sagte Caleb, ihre Gedanken lesend. Caitlin spürte, wie sie wieder einmal rot wurde, als er ihre Gedanken mit solcher Leichtigkeit aus ihrem Kopf pflückte. Sie hielt nichts vor Caleb zurück, und doch wollte sie nicht, dass er ihre Gedanken las, wenn es darum ging, wie sehr sie ihn liebte. Das könnte ihr peinlich werden. „Er lebt hier?“, fragte sie. Caleb nickte. „Falls wir zu seiner Zeit angekommen sind“, sagte Caleb. „Wir sind eindeutig im ersten Jahrhundert. Das sehe ich an ihrer Kleidung, an der Architektur. Ich war schon einmal hier. Diesen Ort und diese Zeit vergisst man nicht so schnell.“ Caitlins Augen weiteten sich bei dem Gedanken. „Meinst du wirklich, er könnte jetzt gerade hier sein? Jesus? Herumspazieren? In dieser Zeit, an diesem Ort? In dieser Stadt?“ Caitlin konnte es kaum erfassen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie um die Ecke biegen und beiläufig Jesus auf der Straße begegnen könnte. Der Gedanken daran schien unvorstellbar. Caleb runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht“, sagte er. „Ich spüre nicht, dass er jetzt hier wäre. Vielleicht haben wir ihn verpasst.“ Caitlin war bei dem Gedanken ganz aus der Fassung. Sie blickte mit einem neuen Gefühl der Ehrfurcht um sich. Kann es sein, dass er hier ist?, fragte sie sich. Sie war sprachlos, und ihre Mission fühlte sich mit einem Mal umso wichtiger an. „Es kann sein, dass er hier ist, in diesem Zeitraum“, sagte Caleb. „Aber nicht unbedingt in Nazareth. Er reiste viel. Bethlehem. Nazareth. Kapernaum—und natürlich Jerusalem. Ich weiß nicht einmal mit Sicherheit, ob wir in seiner genauen Zeit sind oder nicht. Aber wenn wir das sind, könnte er überall sein. Israel ist groß. Wenn er hier wäre, in dieser Stadt, würden wir das spüren.“ „Was meinst du damit?“, fragte Cailtin neugierig. „Wie würde es sich anfühlen?“ „Ich kann es nicht erklären. Aber du würdest es wissen. Es ist seine Energie. Sie ist anders als alles, was du je zuvor erlebt hast.“ Plötzlich kam Caitlin ein Gedanke. „Bist du ihm je tatsächlich begegnet?“, fragte sie. Caleb schüttelte langsam den Kopf. „Nein, nicht aus der Nähe. Einmal war ich zur gleichen Zeit in der gleichen Stadt. Und die Energie war überwältigend. Anders als alles, was ich zuvor je gefühlt habe.“ Wieder einmal staunte Caitlin darüber, was Caleb bereits alles gesehen hatte, all die Zeiten und Orte, die er erlebt hatte. „Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden“, sagte Caleb. „Wir müssen herausfinden, welches Jahr es ist. Aber das Problem damit ist natürlich, dass bis lange nach Jesus' Tod niemand die Jahre gezählt hat, wie wir es tun. Immerhin basiert unser Kalenderjahr auf dem Jahr seiner Geburt. Und zu seinen Lebzeiten zählte niemand die Jahre basierend auf seinem Geburtsjahr—die meisten Leute wussten nicht einmal, wer er war! Also wenn wir die Leute fragen, welches Jahr es ist, werden sie uns für verrückt halten.“ Caleb blickte sich sorgfältig um, als würde er nach Hinweisen suchen, und Caitlin tat es ihm gleich. „Ich habe schon das Gefühl, dass er in dieser Zeit lebt“, sagte Caleb langsam. „Nur nicht an diesem Ort.“ Caitlin betrachtete das Dorf mit neuem Respekt. „Aber dieses Dorf“, sagte sie, „es scheint so klein, so bescheiden. Es ist nicht wie eine große, biblische Stadt, wie ich sie mir vorgestellt hätte. Es sieht nicht anders aus als jede beliebige Wüstenstadt.“ „Du hast recht“, antwortete Caleb, „aber so ist der Ort, an dem er lebte. Es war nicht irgendein großartiger Ort. Es war hier, unter diesen Leuten.“ Sie gingen weiter und bogen schließlich um eine Ecke, die sie auf einen kleinen Platz in der Dorfmitte führte. Es war ein schlichter kleiner Platz, um den herum kleine Gebäude standen und in dessen Mitte sich ein Brunnen befand. Caitlin blickte sich um und entdeckte ein paar ältere Herren im Schatten sitzen, Spazierstöcke haltend, auf den leeren, staubigen Dorfplatz starrend. Sie gingen auf den Brunnen zu. Caleb drehte an der rostigen Kurbel, und langsam zog das verwitterte Seil einen Eimer Wasser hoch. Caitlin fasste hinein, nahm das kalte Wasser mit hohlen Händen auf und spritzte es sich ins Gesicht. Es fühlte sich in der Hitze so erfrischend an. Sie bespritzte ihr Gesicht erneut, dann ihr langes Haar, und kämmte es mit den Fingern. Es war staubig und fettig, und das kalte Wasser fühlte sich himmlisch an. Sie würde alles für eine Dusche geben. Dann beugte sie sich vor, nahm noch mehr Wasser mit den Händen auf und trank es. Ihre Kehle war ausgetrocknet, und es war genau, was sie brauchte. Caleb tat es ihr nach. Schließlich lehnten sich beide an den Brunnen und betrachteten den Platz. Es schien keine besonderen Gebäude zu geben, keine besonderen Kennzeichnungen oder Hinweise darauf, wohin sie gehen sollten. „Also wohin jetzt?“, fragte sie schließlich. Caleb blickte herum, blinzelte ins Sonnenlicht und hielt sich die Hand vor die Augen. Er wirkte genauso ratlos wie sie. „Ich weiß es nicht“, sagte er trocken. „Ich bin überfragt.“ „An anderen Zeiten und Orten“, fuhr er fort, „schien es, als wären unsere Hinweise stets in Klostern oder Kirchen zu finden gewesen. Aber in dieser Zeitperiode gibt es keine Kirche. Es gibt kein Christentum. Es gibt keine Christen. Erst nach Jesus' Tod gründeten die Leute eine Religion nach ihm. In dieser Zeitperiode gibt es nur einen Glauben. Jesus' Glauben: Das Judentum. Immerhin war Jesus jüdisch.“ Caitlin versuchte, das alles zu verarbeiten. Es war alles so komplex. Wenn Jesus Jude war, überlegte sie, hieß das, er würde zum Beten in eine Synagoge gehen. Plötzlich hatte sie einen Einfall. „Dann ist vielleicht der beste Ort für die Suche der Ort, an dem Jesus betete. Vielleicht sollten wir nach einer Synagoge suchen.“ „Ich glaube, du hast recht“, sagte Caleb. „Immerhin war die einzige andere ausgeübte Religion zu jener Zeit, wenn man es überhaupt so nennen kann, das Heidentum—die Anbetung von Götzenbildern. Und ich bin sicher, dass Jesus nicht in einem heidnischen Tempel beten würde.“ Caitlin blickte sich erneut in der Stadt um, kniff die Augen zusammen und suchte nach einem Gebäude, das einer Synagoge ähneln könnte. Doch sie fand keines. Es waren alles schlichte Wohnstätten. „Ich sehe nichts“, sagte sie. „Alle Gebäude sehen für mich gleich aus. Es sind nichts als kleine Häuser.“ „Ich auch nicht“, sagte Caleb. Es folgte eine lange Stille, während Caitlin versuchte, alles zu verarbeiten. In ihrem Kopf rasten die Möglichkeiten. „Meinst du, dass mein Vater und das Schild irgendwie mit all dem hier in Verbindung stehen?“, fragte Caitlin. „Meinst du, dass es mich zu meinem Vater führen wird, wenn wir dahin gehen, wo Jesus war?“ Caleb kniff die Augen zusammen und schien lange Zeit nachzudenken. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich. „Aber es ist eindeutig, dass dein Vater ein äußerst großes Geheimnis hütet. Ein Geheimnis nicht nur für die Art der Vampire, sondern für die gesamte Menschheit. Ein Schild, oder eine Waffe, die die Natur der gesamten Menschheit ändern wird, für alle Zeit. Es muss äußerst mächtig sein. Und es scheint mir, wenn irgendjemand dazu gedacht war, uns zu helfen, zu deinem Vater zu finden, dann würde dies jemand äußerst Mächtiger sein. Wie Jesus. Für mich würde das Sinn ergeben. Vielleicht müssen wir, um den einen zu finden, den anderen finden. Immerhin ist es dein Kreuz, das uns so viele der Schlüssel offenbart hat, die uns hierher gebracht haben. Und beinahe alle unsere Hinweise haben wir in Kirchen und Klöstern gefunden.“ Caitlin versuchte, alles zu erfassen. War es möglich, dass ihr Vater Jesus kannte? War er einer seiner Jünger? Der Gedanke daran war atemberaubend, und die geheimnisvolle Aura um ihn wurde immer tiefer. Sie saß am Brunnen und blickte sich ratlos in dem schläfrigen Dörfchen um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie überhaupt zu suchen anfangen sollte. Überhaupt nichts stach besonders hervor. Und noch dazu wollte sie immer dringender Scarlet finden. Ja, sie wollte ihren Vater mehr als je zuvor finden; sie spürte die vier Schlüssel praktisch in ihrer Tasche brennen. Doch sie konnte keine offensichtliche Stelle erkennen, um sie einzusetzen—und es war schwer, sich auf ihn zu konzentrieren, solange sich ihre Gedanken um Scarlet drehten. Der Gedanke daran, dass sie ganz alleine da draußen war, zerriss sie in Stücke. Wer wusste schon, ob sie überhaupt in Sicherheit war? Doch dann wiederum hatte sie auch keine Ahnung, wo sie nach Scarlet suchen sollte. Sie verspürte eine zunehmende Hoffnungslosigkeit. Plötzlich erschien ein Schafhirte im Tor und schritt langsam auf den Dorfplatz hinaus, gefolgt von seiner Schafherde. Er trug eine lange, weiße Robe mit einer Kapuze, die seinen Kopf vor der Sonne schützte, und ging auf sie zu, einen Stab in der Hand. Zuerst dachte Caitlin, dass er direkt auf sie zu kam. Doch dann erkannte sie: der Brunnen. Er war einfach nur auf etwas zu trinken aus, und sie waren im Weg. Als er hereinkam, scharten sich die Schafe um ihn herum, erfüllten den Dorfplatz, alle auf den Brunnen zu. Sie mussten gewusst haben, dass es Tränkzeit war. In wenigen Augenblicken fanden sich Caitlin und Caleb inmitten der Herde wieder, und die zarten Tiere schubsten sie zur Seite, damit sie zum Wasser gelangen konnten. Ihr ungeduldiges Blöken erfüllte die Luft, während sie darauf warteten, dass ihr Hirte sie versorgte. Caitlin und Caleb machten Platz, als der Hirte auf den Brunnen herantrat, die rostige Kurbel drehte und langsam den Eimer heraufholte. Als er sich daranmachte, ihn herauszuheben, ließ er die Kapuze fallen. Caitlin war überrascht darüber, wie jung er war. Er hatte dichtes blondes Haar, einen blonden Bart und hellblaue Augen. Er lächelte, und sie konnte die Sonnenfalten auf seinem Gesicht sehen, um seine Augen herum, und konnte die Wärme und Güte von ihm ausstrahlen spüren. Er nahm den übervollen Eimer, und trotz des Schweißes auf seiner Stirn, trotz der Tatsache, dass er durstig wirkte, drehte er sich herum und goss den ersten Krug Wasser in den Trog am Fuß des Brunnens. Die Schafe drängten sich heran, blökend und einander aus dem Weg schubsend, während sie tranken. Caitlin überkam das seltsamste Gefühl, dass dieser Mann vielleicht etwas wusste, dass er vielleicht aus gutem Grund ihren Weg gekreuzt hatte. Wenn Jesus in dieser Zeit lebte, überlegte sie, vielleicht hatte dieser Mann dann von ihm gehört? Caitlin verspürte einen Schub von Nervosität, als sie sich räusperte. „Entschuldigung?“, fragte sie. Der Mann drehte sich zu ihr herum und blickte sie an, und sie konnte die Intensität seiner Augen spüren. „Wir sind auf der Suche nach jemandem. Ich frage mich, ob Sie vielleicht wissen, ob er hier lebt.“ Der Mann kniff die Augen zusammen, und Caitlin bekam dabei das Gefühl, als würde er direkt durch sie sehen. Es war unheimlich. „Er lebt“, antwortete der Mann, als würde er ihre Gedanken lesen. „Aber er ist nicht länger an diesem Ort.“ Caitlin konnte es kaum glauben. Es war also wahr. „Wohin ist er gegangen?“, fragte Caleb. Caitlin hörte die Eindringlichkeit in seiner Stimme und konnte spüren, wie dringend er es wissen wollte. Der Mann richtete seinen Blick auf Caleb. „Na, nach Galiläa natürlich“, erwiderte der Mann, als wäre das offensichtlich. „Ans Meer.“ Caleb kniff die Augen zusammen. „Kapernaum?“, fragte Caleb vorsichtig. Der Mann nickte zur Antwort. Calebs Augen weiteten sich verstehend. „Viele Anhänger sind auf dem Pfad“, sagte der Mann kryptisch. „Suchet, so werdet ihr finden.“ Der Hirte senkte plötzlich den Kopf, wandte sich um und ging davon, die Schafe hinter ihm her. Bald schon hatte er den Platz durchquert. Caitlin konnte ihn nicht gehen lassen. Noch nicht. Sie musste mehr erfahren. Und sie hatte das Gefühl, dass er etwas zurückhielt. „Warten Sie!“, rief sie aus. Der Hirte hielt an, drehte sich herum und starrte sie an. „Kennen Sie meinen Vater?“, fragte sie. Zu Caitlins Überraschung nickte der Mann langsam. „Wo ist er?“, fragte Caitlin. „Es liegt an dir, das herauszufinden“, sagte er. „Du bist diejenige, die die Schlüssel trägt.“ „Wer ist er?“, fragte Caitlin, es unbedingt wissen wollend. Langsam schüttelte der Mann den Kopf. „Ich bin nur ein Hirte auf meinem Weg.“ „Aber ich weiß nicht einmal, wo ich suchen soll!“, erwiderte Caitlin verzweifelt. „Bitte. Ich muss ihn finden.“ Der Hirte fing langsam zu lächeln an. „Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist“, sagte er. Und damit bedeckte er seinen Kopf, drehte sich herum und durchquerte den Platz. Er trat durch den Torbogen und einen Augenblick später war er verschwunden, seine Schafe hinterher. Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist. Seine Worte hallten Caitlin durch den Kopf. Irgendwie ahnte sie, dass es mehr war als nur eine Allegorie. Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr hatte sie das Gefühl, es war wortwörtlich gemeint. Als wollte er ihr sagen, dass es genau hier einen Hinweis gab, wo sie stand. Caitlin drehte sich plötzlich herum und suchte den Brunnen ab, die Stelle, an der sie gesessen hatten. Nun spürte sie etwas. Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist. Sie kniete nieder und fuhr mit den Händen über die uralte, glatte Steinmauer. Sie fühlte sie der Länge nach ab, immer überzeugter, dass da etwas war, dass sie an einen Hinweis geführt worden war. „Was tust du?“, fragte Caleb. Caitlin suchte krampfhaft, untersuchte alle Risse in allen Steinen, fühlte, dass sie auf der richtigen Spur war. Schließlich, halb um den Brunnen herum, hielt sie inne. Sie fand eine Ritze, die etwas größer war als die anderen. Gerade groß genug, um ihren Finger hineinzustecken. Der Stein um sie herum war einfach ein klein wenig zu glatt, und die Ritze einfach ein klein wenig zu groß. Caitlin fasste hinein und versuchte, ihn herauszubekommen. Bald schon fing der Stein zu wackeln an, dann bewegte er sich. Der Stein lockerte sich und ließ sich aus der Brunnenmauer ziehen. Dahinter, stellte sie erstaunt fest, lag ein kleines Versteck. Caleb kam näher, über ihre Schulter gebeugt, als sie in die Dunkelheit hineinfasste. Sie spürte etwas Kaltes und Metallisches in ihrer Hand und holte es langsam hervor. Sie hob ihre Hand ins Licht und öffnete sie langsam. Sie konnte nicht glauben, was sich darin befand.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD