KAPITEL ZWEI
Scarlet spürte eine Zunge über ihr Gesicht lecken und öffnete die Augen in blendendem Sonnenlicht. Die Zunge hörte nicht auf, und bevor sie auch nur hingesehen hatte, wusste sie, dass es Ruth war. Sie öffnete die Augen gerade weit genug, um es zu bestätigen: Ruth beugte sich über sie, winselte und wurde nur noch aufgeregter, als Scarlet ihre Augen öffnete.
Scarlet verspürte einen stechenden Schmerz, als sie versuchte, ihre Augen weiter zu öffnen; vom blendenden Sonnenlicht getroffen füllten sich ihre Augen mit Tränen, empfindlicher als je zuvor. Sie hatte schlimme Kopfschmerzen und zwängte ihre Augenlider gerade weit genug auseinander, um zu sehen, dass sie irgendwo auf einer Pflasterstraße lag. Menschen eilten an ihr vorbei und sie konnte sehen, dass sie inmitten einer geschäftigen Stadt war. Menschen eilten hin und her, in alle Richtungen herrschte reges Treiben, und sie konnte das Lärmen einer Menschenmasse zur Mittagszeit hören. Während Ruth immer weiter winselte, saß sie da und versuchte, sich zu erinnern, herausfinden, wo sie war. Doch sie hatte keine Ahnung.
Bevor Scarlet erfassen konnte, was passiert war, spürte sie plötzlich, wie ein Fuß sie in die Rippen stieß.
„Weg hier!“, kam eine tiefe Stimme. „Du kannst hier nicht schlafen.“
Scarlet blickte hinüber und sah eine Römersandale neben ihrem Gesicht. Sie blickte hoch und sah einen römischen Soldaten über ihr stehen, in eine kurze Tunika gekleidet, mit einen Gürtel um die Hüften, von dem ein Kurzschwert hing. Er trug einen kleinen, mit Federn bestückten Messinghelm.
Er beugte sich vor und stieß sie erneut mit seinem Fuß an. Es tat Scarlet im Magen weh.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe? Weg hier, oder ich sperre dich ein.“
Scarlet wollte gehorchen, doch als sie die Augen weiter öffnete, tat ihr die Sonne zu sehr weh und sie war desorientiert. Sie versuchte, auf die Beine zu kommen, doch es fühlte sich an, als bewegte sie sich in Zeitlupe.
Der Soldat holte aus und trat sie kräftig in die Rippen. Scarlet sah es kommen und machte sich darauf gefasst, unfähig, schnell genug zu reagieren.
Scarlet hörte ein Knurren und sah Ruth mit gesträubtem Fell auf den Soldat losgehen. Ruth fing seinen Knöchel in der Luft ab und grub ihre scharfen Eckzähne mit aller Kraft hinein.
Der Soldat schrie auf, und seine Schreie erfüllten die Luft, während Blut von seinem Knöchel floss. Ruth ließ nicht los, schüttelte ihn mit aller Kraft, und der Ausdruck des Soldaten, noch vor einem Augenblick so hochmütig, wandelte sich zu Angst.
Er griff nach seiner Schwertscheide und zog das Schwert heraus. Er hob es hoch und war kurz davor, es auf Ruths Rücken heruntersausen zu lassen.
In dem Moment spürte Scarlet es. Es war, als würde sich eine Kraft ihres Körpers bemächtigen, als wäre eine andere Macht, ein anderes Wesen, in ihr. Ohne zu verstehen, was sie tat, trat sie plötzlich in Aktion. Sie konnte es nicht kontrollieren und sie verstand nicht, was geschah.
Scarlet sprang auf die Füße, ihr Herz vor Adrenalin pochend, und schaffte es, das Handgelenk des Soldaten in der Luft zu packen, gerade als er mit dem Schwert zuschlug. Sie spürte, wie eine nie geahnte Kraft durch sie floss, während sie seinen Arm festhielt. Selbst mit all seiner Kraft konnte er sich nicht rühren.
Sie drückte sein Handgelenk zusammen und schaffte es, so fest zuzudrücken, dass er, während er schockiert zu ihr hinunterblickte, schließlich sein Schwert fallen ließ. Es landete klirrend auf dem Kopfsteinpflaster.
„Schon gut, Ruth“, sagte Scarlet sanft, und Ruth ließ allmählich seinen Knöchel locker.
Scarlet stand da und hielt das Handgelenk des Soldaten fest, sodass er in ihrem tödlichen Griff gefangen war.
„Bitte, lass mich los“, flehte er.
Scarlet spürte die Kraft, die sie durchfloss, und spürte, wenn sie wirklich wollte, konnte sie ihn ernsthaft verletzen. Doch das wollte sie nicht. Sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden.
Langsam lockerte Scarlet ihren Griff und ließ ihn los.
Der Soldat, mit Furcht in den Augen, als wäre er gerade einem Dämonen begegnet, drehte sich herum und rannte davon, ohne sich damit aufzuhalten, sein Schwert aufzuheben.
„Komm mit, Ruth“, sagte Scarlet, die das Gefühl hatte, dass er mit Verstärkung zurückkommen würde, und daher nicht verweilen wollte.
Einen Augenblick später rannten die beiden in die dichte Menge. Sie eilten durch die schmalen, verwinkelten Gassen, bis Scarlet eine Nische im Schatten fand. Sie wusste, dass die Soldaten sie hier nicht finden würden, und sie wollte eine Minute für sich, um sich zu sammeln und herauszufinden, wo sie waren. Ruth hechelte neben ihr, während Scarlet in der Hitze Atem schöpfte.
Scarlet war erschrocken und verblüfft über ihre eigenen Kräfte. Sie wusste, dass etwas anders war, doch sie konnte nicht vollständig verstehen, was mit ihr passierte; sie verstand auch nicht, wo alle anderen waren. Es war so heiß hier, und sie war in einer belebten Stadt, die sie nicht kannte. Es sah so gar nicht aus wie das London, in dem sie aufgewachsen war. Sie blickte auf die vorbeihuschenden Menschen hinaus, in Roben, Togas und Sandalen gekleidet, mit großen Körben voll Feigen und Datteln auf ihren Köpfen und Schultern, manche von ihnen mit Turbanen auf dem Kopf. Sie sah altertümliche Steinbauten, schmale, verwinkelte Gassen, gepflasterte Straßen, und wunderte sich, wo um alles in der Welt sie sein konnte. Dies war definitiv nicht Schottland. Alles hier wirkte so primitiv, dass es sich anfühlte, als wäre sie tausende Jahre zurückgereist.
Scarlet blickte um sich und hoffte auf eine Spur von ihren Eltern. Sie sah sich jedes vorbeiziehende Gesicht genau an und hoffte, wünschte, dass eines von ihnen stehenbleiben und sich ihr zuwenden würde.
Doch sie waren nirgendwo zu sehen. Und mit jedem vorbeiziehenden Gesicht fühlte sie sich mehr und mehr alleine.
Scarlet überkam langsam ein Gefühl der Panik. Sie verstand nicht, wie sie alleine hier angekommen sein konnte. Wie konnten sie sie nur so zurücklassen? Wo konnten sie sein? Hatten sie es selbst zurückgeschafft? War sie ihnen nicht wichtig genug, um nach ihr zu suchen?
Je länger Scarlet dastand, beobachtete und wartete, um so klarer wurde es ihr. Sie war alleine. Völlig alleine in einer fremden Zeit, an einem fremden Ort. Selbst wenn sie hier waren, hätte sie keine Ahnung, wo sie nach ihnen suchen sollte.
Scarlet blickte auf ihr Handgelenk hinunter, auf das uralte Armband mit dem baumelnden kleinen Kreuz, das man ihr gegeben hatte, kurz bevor sie Schottland verließen. Als sie im Hof dieser Burg gestanden hatten, hatte einer dieser alten Männer in den weißen Roben die Hand ausgestreckt und es ihr über das Handgelenk gestreift. Sie fand es sehr hübsch, aber sie wusste nicht, was es war oder was es bedeutete. Sie hatte das Gefühl, dass es eine Art Hinweis sein könnte, doch hatte keine Ahnung, wofür.
Sie spürte Ruth gegen ihr Bein streifen und sie beugte sich hinunter, drückte ihr einen Kuss auf den Kopf und umarmte sie. Ruth winselte ihr ins Ohr und leckte sie ab. Zumindest hatte sie Ruth. Ruth war wie eine Schwester für sie, und Scarlet war so dankbar, dass sie es mit ihr hierher geschafft hatte, und so dankbar, dass sie sie vor diesem Soldaten beschützt hatte. Es gab niemanden, den sie mehr liebte.
Als Scarlet an den Soldaten zurückdachte, an ihre Begegnung, erkannte sie, dass ihre Kräfte tiefer sein mussten, als sie gedacht hatte. Sie konnte nicht verstehen, wie sie, ein kleines Mädchen, ihn überwältigt haben konnte. Sie spürte irgendwie, dass sie sich veränderte, oder sich bereits verändert hatte, zu etwas, das sie zuvor nicht gewesen war. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter es ihr in Schottland erklärt hatte. Doch sie verstand es immer noch nicht so richtig.
Sie wünschte, es würde alles einfach weggehen. Sie wollte einfach nur normal sein, wollte, dass die Dinge alle wieder normal waren, so wie früher. Sie wollte einfach nur ihre Mama und ihren Papa; sie wollte die Augen schließen und wieder in Schottland sein, in der Burg mit Sam und Polly und Aiden. Sie wollte wieder bei ihrer Hochzeitszeremonie sein; sie wollte, dass alles in der Welt wieder in Ordnung war.
Doch wenn sie die Augen öffnete, war sie immer noch hier, ganz allein mit Ruth in dieser fremden Stadt, dieser fremden Zeit. Sie kannte keine Menschenseele. Niemand schien ihr freundlich gesinnt. Und sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte.
Schließlich hielt es Scarlet nicht länger aus. Sie musste weiterziehen. Sie konnte sich hier nicht ewig verstecken und warten. Wo immer ihre Mama und Papa auch waren, dachte sie, irgendwo da draußen mussten sie sein. Sie verspürte einen Hungerstich und hörte Ruth winseln, und sie wusste, dass auch sie Hunger hatte. Sie musste tapfer sein, sagte sie sich. Sie musste da hinaus und versuchen, sie zu finden—und versuchen, für sie beide Nahrung zu finden.
Scarlet trat auf die geschäftige Gasse hinaus, nach Soldaten Ausschau haltend; sie entdeckte Gruppen von ihnen in der Ferne, die die Straßen patrouillierten, doch sie schienen nicht speziell nach ihr zu suchen.
Scarlet und Ruth zwängten sich in die Menschenmassen, hin und her gedrängt, während sie die verwinkelten Gassen entlangspazierten. Es war hier so überfüllt, und die Leute drängten sich in alle Richtungen. Sie kamen an Händlern mit Holzkarren vorbei, die Obst und Gemüse feilboten, Laibe von Brot, Flaschen von Olivenöl und Wein. Sie waren in den vollen Gassen dicht aneinandergedrängt und schrien um Kundschaft. Zu allen Seiten feilschten die Leute mit ihnen.
Als wäre es noch nicht voll genug, waren die Straßen auch mit Tieren gefüllt—Kamelen und Eseln und Schafen und allen Arten von Vieh—die von ihren Besitzern getrieben wurden. Zwischen ihnen hindurch rannten wilde Hühner, Hähne und Hunde. Sie rochen grässlich und machten den lärmenden Marktplatz nur noch lauter, mit ihrem ständigen Wiehern und Blöken und Bellen.
Scarlet konnte spüren, wie Ruths Hunger beim Anblick dieser Tiere größer wurde, kniete sich hinunter und packte sie im Nacken, um sie zurückzuhalten.
„Nein, Ruth!“, sagte Scarlet mit fester Stimme.
Ruth gehorchte widerwillig. Scarlet tat es leid, doch sie wollte nicht, dass Ruth diese Tiere anfiel und unter diesen Leuten große Unruhe stiftete.
„Ich finde Futter für dich, Ruth“, sagte Scarlet. „Versprochen.“
Ruth winselte zur Antwort, und Scarlet verspürte selbst einen Hungerstich.
Scarlet eilte an den Tieren vorbei, führte Ruth weitere Gassen entlang, die sich an Händlern vorbeiwanden, und in weitere Gassen hinein. Dieses Labyrinth schien nicht enden zu wollen, und Scarlet konnte selbst den Himmel kaum sehen.
Endlich fand Scarlet einen Händler mit einem riesigen Brocken gebratenem Fleisch. Sie konnte es von Weitem riechen, der Geruch sickerte ihr in alle Poren; sie blickte hinunter und sah, dass Ruth zu ihm hochblickte und sich die Lippen leckte. Sie blieb gaffend davor stehen.
„Willst du'n Stück kaufen?“, fragte der Händler, ein großer Mann mit einer blutbefleckten Schürze.
Scarlet wollte ein Stück mehr als alles andere. Doch als sie in ihre Taschen griff, fand sie absolut kein Geld darin. Sie griff sich an ihr Armband, und mehr als alles andere wollte sie es abnehmen und diesem Mann verkaufen, um eine Mahlzeit zu erstehen.
Doch sie zwang sich dazu, es nicht zu tun. Sie spürte, dass es wichtig war, und so brachte sie ihre gesamte Willenskraft auf, um sich zurückzuhalten.
Stattdessen schüttelte sie langsam und traurig den Kopf zur Antwort. Sie packte Ruth und führte sie fort von dem Mann. Sie konnte Ruth winseln und protestieren hören, doch sie hatten keine Wahl.
Sie zogen weiter, und schließlich endete das Labyrinth in einem hellen und sonnigen, weit offenen Hauptplatz. Scarlet war vom freien Himmel beeindruckt. Nach all diesen Gässchen fühlte er sich wie das Geräumigste an, das sie je gesehen hatte, mit tausenden Menschen, die darin umhertrieben. In seiner Mitte stand ein Steinbrunnen, und der Platz war von einer enormen Steinmauer umrahmt, die sich über hundert Meter in die Luft erhob. Jeder Stein war so d**k, dass sie insgesamt zehnmal so groß war wie sie. Vor dieser Mauer standen hunderte Menschen, klagend und betend. Scarlet hatte keine Ahnung, warum, oder wo sie war, doch sie spürte, dass sie im Zentrum der Stadt war, und dass dies ein sehr heiliger Ort war.
„He du!“, kam eine fiese Stimme.
Scarlet spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken aufstellten, und drehte sich langsam herum.
Da saß eine Gruppe von fünf Jungs auf einem Steinvorsprung und starrte auf sie hinunter. Sie waren von Kopf bis Fuß dreckig und in Lumpen gekleidet. Sie waren Jugendliche, vielleicht 15 Jahre alt, und sie konnte die Gemeinheit in ihren Gesichtern sehen. Sie konnte spüren, dass sie auf Ärger hofften, und dass sie gerade ihr nächstes Opfer ausgemacht hatten; sie fragte sich, ob es offensichtlich war, wie alleine sie war.
Unter ihnen war ein wilder Hund, riesig, tollwütig wirkend, und doppelt so groß wie Ruth.
„Was machst du hier draußen ganz alleine?“, fragte der Anführer spöttisch, zum Gelächter der anderen vier. Er war muskulös und sah dümmlich aus, mit breiten Lippen und einer Narbe auf der Stirn.
Als sie sie ansah, fühlte Scarlet, wie ein neuer Sinn über sie kam, einer, den sie nie zuvor erfahren hatte: es war ein erhöhter Sinn der Intuition. Sie wusste nicht, was geschah, doch plötzlich konnte sie klar und deutlich ihre Gedanken lesen, spürte ihre Gefühle, kannte ihre Absichten. Sie fühlte sofort, glasklar, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Sie wusste, dass sie ihr schaden wollten.
Ruth knurrte neben ihr. Scarlet konnte eine gröbere Konfrontation kommen spüren—und genau das wollte sie vermeiden.
Sie bückte sich und fing an, Ruth davonzuführen.
„Komm mit, Ruth“, sagte Scarlet, während sie sich herumdrehte und anfing, davonzugehen.
„He Mädel, ich rede mit dir!“, schrie der Junge.
Im Davongehen blickte Scarlet über die Schulter zurück und sah, wie die Fünf vom Stein sprangen und begannen, ihr nachzugehen.
Scarlet fing zu laufen an, zurück in die Gassen, und wollte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diese Jungen bringen. Sie dachte an die Auseinandersetzung mit dem römischen Soldaten zurück und fragte sich einen Moment lang, ob sie stehenbleiben und versuchen sollte, sich zu verteidigen.
Doch sie wollte nicht kämpfen. Sie wollte niemandem wehtun. Oder irgendein Risiko eingehen. Sie wollte einfach nur Mama und Papa finden.
Scarlet bog in eine menschenleere Gasse ein. Sie blickte hinter sich, und in wenigen Momenten konnte sie die Gruppe Jungen ihr nachjagen sehen. Sie waren nicht weit hinter ihr, und sie holten schnell auf. Zu schnell. Ihr Hund rannte mit ihnen, und Scarlet konnte sehen, dass sie sie in wenigen Augenblicken eingeholt haben würden. Sie würde einen guten Haken schlagen müssen, um sie abzuhängen.
Scarlet bog um eine weitere Ecke und hoffte, einen Ausweg zu finden. Doch da blieb ihr das Herz stehen.
Es war eine Sackgasse.
Scarlet drehte sich langsam herum, Ruth an ihrer Seite, und stellte sich den Jungen. Sie waren nun vielleicht drei Meter entfernt. Sie wurden langsamer, als sie näherkamen, nahmen sich Zeit, genossen den Moment. Sie standen lachend da, mit grausamen Grinsern auf dem Gesicht.
„Sieht aus, als hättest du Pech gehabt, kleines Mädchen“, sagte der Anführer.
Scarlet dachte genau das Gleiche.