Kapitel 1-2

839 Words
Alessia Mein Bruder Junior ist das größte Stronzo auf Erden. Genauer gesagt sind alle meine fünf Brüder Arschlöcher, aber Junior ist am schlimmsten. Heute Morgen hat er uns mitgeteilt, dass er mit seiner schwangeren Freundin durchbrennen und sie in Vegas heiraten wird. Heute Abend. Heißt, dass wir alle nach Vegas fliegen mussten, um dabei zu sein. Aber ehrlich gesagt hätte ich diesen Moment um nichts in der Welt verpassen wollen. Auch wenn die Reise mir viel abverlangt, um meine Mutter bei Laune und meinen Blutzucker unter Kontrolle zu halten. Und es macht es schwieriger, die Müdigkeit, die von meinem Nierenleiden verursacht wird, vor meiner wachsamen Familie zu verheimlichen. Sie wissen nichts davon und so soll es auch so lange wie möglich bleiben. Wir befinden uns auf einer Dachetage des Bellissimos, in einem Empfangsbereich mit wandhohen Glasfenstern, die Vegas überblicken. Ein katholischer Priester wird die beiden trauen. Außerdem hat sich das Event als eine Doppelhochzeit entpuppt. Stefano, mein einziger Bruder, der relativ nett ist – was nicht bedeutet, dass er nicht genauso tödlich sein kann wie der Rest –, hat heute Morgen seiner Freundin Corey einen Antrag gemacht und sie haben beschlossen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. „Maria, Königin des Friedens, bete für uns“, murmle ich und bekreuzige mich zusammen mit den anderen Anwesenden und dem Priester. Ich fasse es nicht, dass Junior nochmal heiratet. Dabei ist die Hochzeit gar nicht der große Schocker. Nein, es ist das Glück, das er ausstrahlt, als er seiner taffen Braut Desiree gegenübersteht. Er hält ihre Hände in seinen und starrt sie an, als wäre sie seine Welt. Neben ihm steht ihr kleiner Sohn. Es rührt mich zu Tränen, wenn ich mitansehe, was für ein enges Verhältnis die beiden miteinander haben. Junior hatte bei einem tragischen Unfall vor ein paar Jahren seine kleine Tochter verloren und sich komplett zurückgezogen. Ich hätte nie gedacht, dass er nochmal sein Herz öffnen würde. Und jetzt erwartet er nicht nur ein Baby, sondern er gibt auch noch den Stiefvater. „Ist es nicht wunderschön?“ Meine Mom heult und drückt meine Hand. „Absolut perfekt“, bekräftige ich. Mir kommen ebenfalls die Tränen. Nicos schwangere Ehefrau Sondra hat sich für die Deko verausgabt. Der Saal muss mit zehntausend Dollar an Blumen geschmückt sein. Die Säulen und echten Weinreben, die sich über die Spaliere ranken, geben einem das Gefühl, zurück in der alten Heimat zu sein. Die Zeremonie ist stilvoll und extravagant, gleichzeitig jedoch unaufdringlich, sodass sie beiden Paaren gerecht wird. Nur um die vierzig Familienmitglieder sind hier. Die zwei Babybäuche machen das Ganze umso süßer – Sondra und Desiree sind beide schwanger. Ich freue mich wahnsinnig darauf, Tante zu werden. Kinder sind meine Leidenschaft – ich habe meinen Abschluss in Frühpädagogik gemacht, obwohl meine Familie wahrscheinlich nie erlauben wird, dass ich arbeite. Weder sie noch der Ehemann, den sie mir irgendwann vorsetzen werden. Es schmerzt, dass ich nie etwas davon erleben werde – Liebe, eine spontane Hochzeit, eine eigene Familie. Als Prinzessin wurde schon immer von mir erwartet, dass ich eines Tages eine riesige jungfräuliche Kirchenhochzeit mit einem von der Familie ausgewählten Bräutigam über mich ergehen lasse. Keine tiefen Blicke von einem Mann, der mich über alles liebt. Es wäre eine arrangierte Ehe. Früher habe ich mir leidenschaftlich eine Liebesheirat gewünscht. Damals, als ich noch glaubte, ich würde tatsächlich einmal heiraten und eigene Kinder haben. Ich war überglücklich, als Nico die Frau seiner Wahl heiraten durfte statt der Braut, die seit seinem zehnten Lebensjahr seine Verlobte gewesen war. Zum Glück wurden mir bereits einige Freiheiten zugestanden. Ich durfte aufs College gehen. Ich musste zwar jahrelang Überzeugungsarbeit leisten, damit Junior es auch nur in Erwägung zog, am Ende aber hat er nachgegeben. Wegen des Diabetes wollten sie mich fast nicht gehen lassen. In bin für sie zu fragil. Mama wollte mich nicht aus den Augen lassen. Meine Brüder bezweifelten, dass ich mich allein zurechtfinden würde. Ich sollte dortbleiben, wo sie mich beschützen konnten – in Chicago oder Las Vegas. Aber am Ende haben wir alle einen Kompromiss gefunden. Sie haben mich in der alten Heimat zur Uni geschickt, wo La Famiglia über mich wachen konnte. Die Sizilianer. Und mein Bruder Stefano war zeitweise auch da, um auf mich aufzupassen. Ich wurde bewacht wie eine Prinzessin in der Klosterschule. Was mich aber nicht davon abgehalten hat, ab und zu auch etwas zu erleben. Ich hatte einen heimlichen Freund, einen netten Italiener, der mir in respektvollster Manier die Unschuld genommen hat. Als er erfahren hatte, welcher Familie ich angehöre, konnte er sich gar nicht schnell genug aus dem Staub machen. Was auch besser so war, schließlich wollte ich nicht, dass er Ärger bekommt. Ich wollte einfach nur ein bisschen das Leben kennenlernen, bevor es zu spät ist. Denn meine Familie ahnt nicht, dass mein Diabetes bereits eine Niereninsuffizienz im dritten Stadium herbeigeführt hat. Kinder kriegen würde mich umbringen, hat man mir gesagt. Die Liebesheirat und eigene Familie sind damit also vom Tisch. Sollte ich nicht auf meine Gesundheit achten, könnte ich keine Fünfundzwanzig werden.
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