Kapitel 1-2

1306 Words
* * * Sara Wilsons Leben hing an einem seidenen Faden und sie klammerte sich daran, wie ein hungriger Hund an einen Knochen. Sie hatte den Schmerz längst vergessen, ihr Geist war wie benebelt. Sie kannte sich gut genug mit dem menschlichen Körper aus, um zu wissen, dass ihr Körper noch nicht bereit war, aufzugeben. Ihr Herz war jung und stark. Es war ihr Geist, der langsam schwächer wurde. Sie war kaum noch bei Bewusstsein. Ein Teil von ihr hatte Angst, sich der Dunkelheit hinzugeben, die ihre Sicht trübte. Sie befürchtete, dass sie dann womöglich nie wieder aufwachen würde. Sie wollte leben, trotz allem, was mit ihr geschah. Ihre Arme schmerzten unter dem Gewicht ihres Körpers. Doch sie konnte nichts dagegen tun; ihre Beine weigerten sich, sie länger zu tragen. Ein Teil von ihr wünschte, sie wäre etwas offensiver gewesen, als sie die Männer in dem Raum als kranke Feiglinge bezeichnet hatte, die nicht den Mut hatten, sich ihr einzeln zu stellen. Ihre Vernunft tadelte sie hingegen dafür, dass sie sie überhaupt provoziert hatte. Emma hatte sie gewarnt. Das jüngere Mädchen hatte Sara mit gebrochenen und mühsam hervorgebrachten Worten gewarnt, sich nicht gegen die Männer zu wehren. „Sie werden dich umbringen, genauso wie das andere Mädchen“, hatte Emma geflüstert. „Sie werden dich schlagen und warten, bis du dich erholt hast, bevor sie wieder auf dich einprügeln werden. Wehre dich nicht. Sie haben sie ermordet, weil sie sich gewehrt hat.“ Daraufhin war Emma still geworden und hatte nichts mehr gesagt. Jetzt verstand Sara, warum. Dies war Saras zweite Runde mit den verrückten Mistkerlen. Bei der ersten hatte sie auf Emma gehört und den Mund gehalten. Als sie sie das erste Mal geschlagen hatten, hatte sie gelacht. In ihrem Gesicht, an ihren Armen und am Oberkörper waren noch immer Spuren dieser Schläge zu sehen. Cuello hatte sie mit dem Namen einer anderen Frau angesprochen, als er auf sie eingedroschen hatte – Carmen, Carmen Walker. Sara wusste nicht, wer die Frau war. Sie hoffte nur, dass der Bastard sie niemals finden würde. Der Hass in seinem Blick, in seinen Worten und in jeder seiner Bewegungen ließ keinen Zweifel daran, dass er Carmen umbringen wollte. Emma und sie waren lediglich ein schlechter Ersatz. Sara hatte versucht, sich ruhig zu verhalten, als der Wachmann sie in den Raum gestoßen hatte. Zumindest bis sie gesehen hatte, was sie dort mit ihnen vorhatten. Der Wächter hatte sich zuerst Emma geschnappt. Sara hatte den Gedanken nicht ertragen, dass die jüngere, zartere Frau ausgepeitscht wurde. Sie hatte sich gewehrt – und verloren. Sara hatte wie verrückt geflucht und versucht, sich von den Fesseln zu befreien. Als die ersten Peitschenhiebe auf ihr Fleisch getroffen waren, hatte sie geschrien. Sie hatte ihre Lippen jedoch schnell zusammengepresst, als sie gemerkt hatte, dass Cuello umso mehr lachte, je lauter sie schrie. Ihr Schweigen hatte den Mann wütend gemacht, doch egal, was er tat, sie hatte den Mund gehalten. Ausnahmsweise war ihre Sturheit mal für etwas gut gewesen. Sara hatte diese besondere Eigenschaft während ihrer Kindheit in einem höllischen Elternhaus mit zehn männlichen „Cousins“ kultiviert – von denen nur die Hälfte tatsächlich mit ihr verwandt war. Da ihre Mom noch sehr jung gewesen, als sie Sara bekommen hatte, hatte sie Sara bei ihrer älteren Schwester abgeladen und so getan, als hätte die Geburt nie stattgefunden. Ihre Tante hatte selbst fünf Jungen. Sie hatte die Gelegenheit genutzt, sich als Pflegemutter etwas dazuzuverdienen. Da Sara das einzige Mädchen war, war sie auf dem Dachboden untergebracht worden, zusammen mit all dem ausrangierten und vergessenen Gerümpel. Sara hatte während dieser Zeit, die sie in den Appalachen verbracht hatte, zwei wichtige Dinge gelernt: So viel Zeit wie möglich draußen zu verbringen und niemals Angst zu zeigen. Als Kind hatte sie sich unter anderem am Abendbrottisch um Reste streiten müssen. Als einige der Jungen, von denen zwei ihre Blutsverwandte waren, es für lustig hielten, Doktorspielchen mit ihr zu spielen, hatte Sara gelernt, mit ihren Fäusten, Füßen und allem anderen, was sie hatte, zu kämpfen. Wenn sie sich bei ihrer Tante und ihrem Onkel beschwerte, nannten die beiden sie nur eine Unruhestifterin, die Aufmerksamkeit suchte, und schickten sie auf den Dachboden, damit sie über ihre bösen Taten nachdachte. Eines Tages hatte sich Sara durch das Fenster nach draußen geschlichen und war an dem alten Wasserturm neben dem Haus hinuntergeklettert. Sara war sechzehn gewesen, als sie das Haus verlassen hatte. Seitdem hatte sie nie wieder zurückgeblickt. In der zehnten Klasse hatte ihr eine Lehrerin gezeigt, wie frei sie sein konnte, wenn sie sich auf ihre Ausbildung konzentrierte. Also hatte Sara das getan und nicht aufgehört, bis sie ihren Traum von Unabhängigkeit erreicht hatte. Sie hatte in Kräutermedizin und Botanik promoviert. Das war das einzig Gute an ihrer Kindheit gewesen – die Zeit, die sie den Pflanzen gewidmet hatte. Dabei hatte sie eine Faszination für ihre Beschaffenheit und Verwendungsmöglichkeiten entwickelt. Sara wusste nicht, was die quälende Folter beendet hatte, aber sie war dankbar dafür. Das Geräusch einer Explosion riss sie aus ihrer Benommenheit. Sie versuchte, den Kopf zu heben, wofür jedoch mehr Kraft nötig war, als sie noch in sich hatte. Stattdessen hoffte sie, dass die kolumbianische Armee einmarschierte, um Cuello aufzuhalten. Auch wenn sie bezweifelte, dass dies der Fall war, hielt ein losgelöster Teil ihres Gehirns an dem hartnäckigen Wunsch fest. Das leise Geräusch von Krallen auf dem polierten Holz erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie mühsam die Augen öffnete, glaubte sie, einen goldenen Blitz zu sehen. Ihr entwich ein kaum hörbares Stöhnen, als sie in sich zusammensackte, was ihre ohnehin schon gestreckten Arme noch mehr belastete. „Schneide sie los“, sagte eine Stimme hinter ihr. Die hartnäckige Hoffnung flammte noch einmal auf. Ihre Runde war vorbei. Sie hoffte nur, dass das nicht bedeutete, dass Emma jetzt an der Reihe war. Angst stieg in ihr auf und sie wehrte sich schwach gegen die Fesseln. „Nein“, protestierte sie mit schwacher Stimme. „Du lebst!“, antwortete eine heisere Männerstimme. Sara entwich ein weiteres Stöhnen, als ihre Handgelenke behutsam befreit wurden und sie in harte, muskulöse Arme fiel. Etwas Weiches und Warmes strich über ihre Haut und bedeckte ihren zerschundenen Rücken. Der Schmerz ließ fast augenblicklich nach. „Tu …“, stieß sie hervor, nicht imstande, die Augen zu öffnen und den Mann anzusehen, der sie festhielt. „Was soll ich tun, Gefährtin?“, flüsterte die Stimme. Saras benebeltes Gehirn hörte die Worte, konnte sie aber nicht verstehen. Trotz des beruhigenden Gefühls auf ihrem Rücken, kostete es sie große Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben. Was auch immer darauf lag, es linderte den Schmerz, das Brennen und das Stechen. Sie fragte sich, ob es eine Pflanze war, die hier in der Gegend wuchs. „Tu … Emma nicht weh“, stieß sie schließlich hervor und zwang ihr müdes Gehirn, sich wieder zu konzentrieren. „Ich … nimm … mich stattdessen.“ Eine warme, beruhigende Hand strich die losen Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. Am liebsten hätte sie ihre Wange an die Hand geschmiegt. Doch die Angst nagte an ihr. Was, wenn dies ein weiterer Trick war? Was, wenn sie ihr weismachen wollten, dass sie aufhörten, nur um wieder von vorne anzufangen? Der Gedanke war unerträglich. Schließlich gab sie das bisschen Kontrolle auf, das sie noch über ihr Bewusstsein hatte. Wärme hüllte sie ein, als sie in die tiefe Finsternis fiel. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Sara für ein paar kurze Sekunden sicher und beschützt. Dann gab sie sich der Dunkelheit hin, und alles wurde still. „Nie wieder, meine wilde Blume, nie wieder“, sagte die Stimme. Sara hörte die Worte nicht. Hätte sie sie gehört, hätte ihr die harte Schärfe der Worte einen noch größeren Schrecken eingejagt. Die Schärfe galt jedoch nicht ihr, sondern war vielmehr ein Versprechen dessen, was kommen würde.
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