Kapitel 2: Weder war ihr wertvoll

1068 Words
Anaya verbrachte den gesamten Abend im Keller. Sie war eingeschlafen, kurz nachdem sie sich hingelegt hatte, und wachte ein paar Stunden später von selbst auf. Niemand klopfte laut an ihre Tür, um sie zu wecken, und niemand rief nach ihr, um Aufgaben zu erledigen. Das bedeutete nur, dass sie noch nicht gebraucht wurde. Auch nachdem sie in der Nacht aufgewacht war, ging Anaya nicht wieder nach draußen. Sie hörte Musik, die von oben kam, das Geburtstagslied, das die anderen Kinder für Charlotte sangen. Anaya setzte sich mühsam auf. Das Blut auf ihrem Rücken war bereits getrocknet und zog an ihrer Haut. Es war schmerzhaft, aber nichts, was Anaya nicht schon früher gespürt hatte. Schmerz war die einzige Empfindung, die ihr in diesen Tagen vertraut war. Leise summte Anaya das Lied im Keller. Ihre tiefe Stimme hallte nach, als das Lied endete. Es machte den Keller noch düsterer und trauriger. Anaya zeichnete mit ihrem Finger die Form einer kleinen Torte in den Staub und blies darauf, als das Lied vorbei war. Heute war sie offiziell sechzehn geworden. „Alles Gute zum Geburtstag, Arnold“, flüsterte Anaya, „ich vermisse dich.“ Es gab keinen einzigen Tag in Anayas Leben, an dem sie nicht an ihren Bruder erinnert wurde. Jedes Mal, wenn sie in den Spiegel sah, jedes Mal, wenn ihre Eltern sie mit Missfallen ansahen. Es erinnerte Anaya immer daran, dass Arnold nicht mehr hier war. Anaya störte sich nicht allzu sehr an dem Wandel im Verhalten ihrer Eltern nach Arnolds Tod. Sie war damals erst fünf Jahre alt. Sie verstand nichts, geschweige denn die tiefen Gefühle von Trauer und Hass. Man sagte ihr, sie sei zu sehr wie Arnold und erinnere ihre Eltern an ihn. Das konnte Anaya verstehen. Sie fühlte sich auch schuldig und akzeptierte ihr Leben, wie es war. Doch nachdem Charlotte geboren wurde, kam die Erkenntnis. Charlotte sah auch aus wie Anaya. Sie hatte ebenfalls das Aussehen ihrer Mutter geerbt. Aber Charlotte wurde wie eine Prinzessin behandelt. Warum? War sie nicht auch wie Arnold? „Charlotte wurde uns im Austausch für Arnold gegeben. Die Göttin hat Mitleid mit uns und hat uns seine Seele zurückgeschenkt. Schau, ist sie nicht genau wie Arnold? Ihr Lächeln ist genauso wie seines!“ Diese Worte hatte ihr Vater gesprochen, während er mit der zweimonatigen Charlotte spielte. Anaya hatte es gehört. Ihr sechsjähriges Ich war verwirrt. Als Anaya älter wurde, verstand sie es schließlich vollständig. Ihre Eltern hassten sie dafür, dass sie Arnold genommen hatte, und behandelten Charlotte als das Geschenk der Göttin, als Ersatz für ihren Sohn. Anaya wurde weder geliebt noch gewollt im Haus. Sie hätte genauso gut bei dem Angriff der Rogues sterben können, der ihren Bruder tötete. Wenigstens auf diese Weise hätten ihre Eltern vielleicht ein bisschen Reue für sie empfunden. Das Singen war zu Ende. Tatsächlich waren mehr als zwei Stunden vergangen, ohne dass Anaya es bemerkt hatte. Anaya seufzte und zog ihren Pullover an. Es war zu spät, um über diese Dinge nachzudenken. Da sie damals nicht gestorben war, hatte Anaya auch jetzt keine Pläne, bald zu sterben. Auch wenn der Schmerz und das Leid jetzt endlos erschienen, würde es nicht für immer so sein. Anaya wusste, dass eines Tages der Moment kommen würde, an dem sie nicht mehr so leiden musste. Ein Tag, an dem sie von diesem Gefängnis befreit sein würde und wie ein freier Vogel in den Himmel fliegen könnte. Sie wusste nicht, wann dieser Tag kommen würde, aber sie freute sich darauf. Anayas Knochen zitterten noch von den Nachwirkungen, und es fiel ihr schwer zu laufen. Irgendwie schaffte sie es zur Tür und öffnete sie. Draußen war es still und dunkel. Sie schlich leise hinaus und kehrte auf den Dachboden zurück. Mittlerweile schliefen alle. Es war bereits Mitternacht. Im Dachboden verriegelte Anaya die Tür und zog den Pullover aus. Ihr Unterhemd war zerstört. Mit ihrem nackten Rücken, der der kalten Nachtluft ausgesetzt war, fühlte sich die Wunde nicht mehr so schmerzhaft an. Anaya benutzte einen Spatel, um Salbe auf ihren Rücken aufzutragen, und wickelte dann unbeholfen eine Bandage darum, damit die Salbe einziehen konnte. Danach zog sie sich ein dünnes T-Shirt und eine alte Baumwollhose an und legte sich auf den Bauch auf ihre Matratze. Die Matratze hatte zwei Kissen und eine ausreichend warme Decke, um sie in kalten Nächten wie dieser zu bedecken. Aber Anaya mochte die Kälte. Sie machte sie taub für alles. Sie wünschte nur, die Kälte würde auch ihre Gedanken und Gefühle betäuben. Es wäre besser gewesen, wenn die Kälte ihr auch den Atem und die Seele genommen hätte. Anaya hatte sich geschworen, niemals ihr eigenes Leben zu nehmen. Egal, wie schwer es wurde, egal, wie sehr sie litt, sie hatte sich selbst versprochen, dass das Leben, das sie hatte, ein Austausch für das ihres Bruders war. Aber die Euphorie des Todes war verlockend. Sie zog Anaya immer wieder von ihrem Leben weg. Doch Anaya widerstand dem Drang. Sie hoffte nur, dass irgendwann etwas oder jemand ihr Leben beenden würde, sodass sie es nicht selbst tun musste. So war Anaya. Sie dachte über eine strahlende Zukunft nach und im nächsten Moment über die glückliche Erlösung des Todes. Für sie war die Grenze zwischen Leben und Tod so dünn wie ein Haar. Keines von beiden war ihr wertvoll, und doch waren beide kostbar. Diese Gedanken waren bedrückend, aber für sie wahr. Sie waren die Quelle ihrer Albträume und Tagträume. In der einsamen Nacht summte Anaya leise vor sich hin. Ihr Geburtstag war vorüber. Sie hatte Arnold gratuliert, aber niemand hatte ihr gratuliert. Tränen durchnässten das einzige Kissen unter ihrem Kopf. Anaya hielt die Tränen nicht mehr zurück. Wenn niemand in der Nähe war, ließ sie die Kontrolle los und ließ sie fließen. Nur, indem sie sie jetzt freiließ, konnte sie sie morgen wieder unter Kontrolle halten. In der Ferne riefen die Nachtvögel und erinnerten sie daran, dass die Nacht noch lang war. Anaya wischte sich die Tränen ab und zog das andere Kissen unter ihr Gesicht. Sie wurde schläfrig. Ihre Augen waren von Tränen und Müdigkeit getrübt. Sie war nur noch einen Augenblick vom Schlaf entfernt, als eine sanfte, tröstende Stimme in ihr Herz flüsterte. Sehr leise und sanft, genau der Trost, nach dem Anaya sich sehnte. „Alles Gute zum Geburtstag, Anaya,“ wünschte ihr Wolf in einem sehr sanften Ton. Anaya lächelte und antwortete: „Danke, Wolfy,“ bevor der Schlaf sie endgültig übermannte.
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