Kapitel 1: Unterschiede, die existieren

1056 Words
Sechs Jahre später Anaya stand mit gesenktem Kopf vor ihren Eltern. Tränen stiegen in ihre Augen, doch sie ließ sie nicht fallen. Es war faszinierend, wie viel Kontrolle sie über ihre eigenen Tränen hatte. Das Fließen war ihr überlassen, ihr Erscheinen jedoch nicht. Anayas Mutter, Ginny, hatte immer einen missmutigen Ausdruck zwischen den Brauen, wenn sie ihre älteste Tochter ansah. Es war, als erinnere sie sich an die unangenehmste Zeit ihres Lebens. Ihr Vater, Edgar, war nicht besser. Die Unzufriedenheit in ihren Augen war so echt, wie sie nur sein konnte. Anaya wagte es nicht, ihnen in die Augen zu sehen. Es erschreckte sie, die Menge an negativen Gefühlen wahrzunehmen, die sie gegen sie hegten. Es schien, als würden sie ihr stumm die Frage stellen: „Warum bist du nicht an Arnolds Stelle gestorben? Warum lebst du noch, wenn mein Sohn tot ist? Du hättest auch sterben sollen...“ Anaya presste ihre Finger so fest zusammen, bis die Spitzen weiß wurden, weil kein Blut mehr hindurchströmte. „Mama, Papa, sagt nichts mehr zu Anaya! Sie hat nichts gemacht. Es war meine Schuld, weil ich unvorsichtig herumgelaufen bin!“ Charlotte saß in einem hübschen Kleid auf dem Sofa und sprach mit weicher Stimme. Ihre Schwester war nun zehn Jahre alt, aber der kindliche Glanz auf ihren Wangen war noch nicht verblasst. Heute sprach sie sich für Anaya aus, aber Anaya wünschte sich nur, dass sie aufhörte. Wusste Charlotte denn nicht, dass ihre Eltern umso wütender wurden, je mehr sie sprach? „Du weißt nichts, Charlotte. Geh zurück in dein Zimmer. Heute werde ich sie richtig zur Vernunft bringen!“ Ginny knirschte mit den Zähnen und griff wieder nach der Lederpeitsche. Edgar schnaubte und machte keinerlei Anstalten, sie aufzuhalten. „Nein, Mama!“ Charlotte rief mit roten Augen. Sie stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Anaya seufzte innerlich. Es war vorbei. Bald würde sie neue Narben und neue Albträume haben. Aber das war nichts Neues für Anaya. Sie hatte bereits genug davon. „Deine Mutter hat dir gesagt, du sollst zurückgehen. Heute ist dein Geburtstag und deine Freunde werden in ein paar Stunden hier sein. Bleib nicht in deinen dreckigen Kleidern, zieh das Kleid an, das wir gestern gekauft haben. Ich komme hoch und mache dir die Haare.“ Ginny hatte ein sanftes Lächeln, als sie mit Charlotte sprach. Charlotte schaute auf ihr eigenes Kleid, das einen großen gelben Fleck darauf hatte. Anayas Augen waren ebenfalls auf den Fleck gerichtet. Es war kein riesiger Fleck, aber er war auffällig. Anaya war verantwortlich für die Vorbereitungen zu Charlottes Geburtstag. Sie hatte gerade Saft zubereitet, als Charlotte herunterkam und mit ihr sprechen wollte. Anayas Eltern mochten es nicht, wenn Charlotte mit Anaya sprach. Für sie war Anaya wie eine Sklavin, die nur zu Hause gehalten wurde, um die Arbeit zu erledigen. Mit ihr zu sprechen, war gleichbedeutend mit einem sozialen Abstieg. Die Familie der Omegas bestand irgendwann nicht mehr aus vier, sondern aus drei Personen. Anaya wusste nur zu gut, dass, wenn sie mit Charlotte gesehen wurde, sie eine Bestrafung erwarten würde. Um sich selbst zu schützen, hatte sie Charlotte gesagt, sie solle woanders spielen. Aber Charlotte hörte nie zu. Das tat sie nie. Anaya wusste nicht, wessen Schuld es war, dass das frisch zubereitete Saftglas umkippte und auf Charlottes neues Kleid fiel. Aber am Ende war es natürlich Anayas Schuld. Jetzt wartete Anaya auf ihre Bestrafung und versuchte, ihren Körper so stark wie möglich anzuspannen. Als Omega war ihre Schmerztoleranz nicht hoch. Ihr Körper heilte langsam, und die Narben blieben zurück. Edgar nahm Charlotte mit, und Ginny hielt sich schließlich nicht mehr zurück. Anaya wurde in den Keller gebracht. Der Keller war kalt und still. Anayas Körper war sofort von Gänsehaut übersät, als sie eintrat. Sie kannte diesen Ort zu gut. All ihre Bestrafungen wurden hier durchgeführt. Alles, damit Charlotte nicht durch ihre Schreie gestört wurde. „Willst du nicht anfangen?“ Ginny starrte auf Anayas zitternden Körper, ohne einen Hauch von Wärme. Anaya spürte, dass sie, wenn ihre Mutter in diesem Moment auch nur ein wenig Wärme gezeigt hätte, alles vergessen könnte. Selbst die Kälte des Kellers würde sich in ein warmes Paradies verwandeln. Anaya blickte ihrer Mutter immer in die Augen, bevor eine Strafe vollzogen wurde. Sie wollte sehen, ob ihre Mutter etwas fühlte, während sie sie schlug. Aber Anaya sah nur den endlosen Hass in den tiefen blauen Augen. Enttäuscht und traurig zog Anaya ihren Pullover aus und legte ihn auf den Boden. Darunter trug sie nur ein dünnes Baumwollunterhemd und eine alte Jogginghose. Anaya umklammerte ihre Arme und zitterte noch mehr, als sie sich umdrehte. Es ertönte ein Knacken, gefolgt von einem brennenden Schmerz auf ihrem Rücken. Die Lederpeitsche traf erbarmungslos und zerriss das Unterhemd. Dort, wo sie traf, hinterließ sie eine Wunde, die sofort blutete. Anaya biss sich auf die Lippe und schloss die Augen fest. Sie hatte das schon oft durchgemacht und konnte es noch einmal durchstehen. Anaya zuckte nur zusammen, wenn die Peitsche auf ihren Körper niederging, sobald sie wieder angehoben wurde, konnte niemand sehen, dass ihr Rücken blutig geschlagen war. Nach fünf Hieben wickelte Ginny die Peitsche um ihre Hand und wandte sich zum Gehen. Anaya stand da, hielt sich zitternd die Arme, ihre Lippen waren blass und weiß. Als sie die sich entfernenden Schritte hörte, rief sie in einer verzweifelten Stimme: „Mama..?“ Es gab keine Antwort. Die Schritte hielten nicht für sie an und die Tür des Kellers wurde erbarmungslos mit einem lauten Knall zugeschlagen. Anaya schluckte ihre Emotionen hinunter und hob mit zitternden Händen den Pullover auf. Auch auf ihrem Pullover waren Saftflecken. Anaya hatte nicht die Kraft, ihn wieder anzuziehen. Ihr Rücken brannte. Der Keller war kalt, aber das fühlte sich gut an. Plötzlich gaben ihr die Kälte und die Stille Frieden. Sie mochte das Gefühl von Sicherheit in einem so albtraumhaften Ort. Anaya setzte sich auf den kalten Boden, den Pullover in den Händen. Sie rollte ihn zusammen und legte ihn auf den Boden. Sie legte sich hin und bettete ihren Kopf auf den Pullover. Jetzt musste sie nicht zurückgehen, um die Vorbereitungen für den Geburtstag ihrer Schwester zu treffen. Jetzt musste Anaya das Fest nicht miterleben, das nie für sie gefeiert wurde. Es war fast ironisch, wie Anayas und Charlottes Geburtstag am selben Tag lag, aber die Feiern, die sie erhielten, so unterschiedlich waren.
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