Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem großen dicken Wald. Die Leute erzählten sich, dass darin eine alte Erzzauberin hause, die allerlei Wild und Vögel herbeilocken könne, um sie zu schlachten und zu essen.
Das Furchtbarste aber war, dass sie es auf keusche Jungfrauen abgesehen hatte. Wenn eine auf hundert Schritte dem Schlosse nahe kam, so verwandelte sie dieselbe in eine Nachtigall und sperrte sie dann in einen Korb ein. In der ganzen Gegend wussten die Burschen nicht, mit wem sie sich zusammentun sollten, denn die Alte hatte wohl siebentausend solcher Körbe mit so raren Vögeln im Schloss.
Joringel, einem schönen Jüngling, aber war das Glück hold. Denn er hatte sich zusammen mit Jorinde versprochen, die war schöner als alle anderen Mädchen.
Sie gingen zusammen im Wald spazieren, sprachen vertraut miteinander und hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern. Als sie sich so küssten und herzten, wurde ihnen gar anders. Joringel öffnete die Bluse seiner Verlobten und erfreute sich an den weichen weißen Hügelchen seiner Jorinde. Diese drängte ihren Leib an den des Liebsten und verwunderte sich über die Härte, die gegen ihren Bauch drückte. Sie erschrak darob ebenso wie über die Hitze, die sie in ihrem Schoß aufsteigen spürte. Ängstlich stieß sie den Vertrauten, der ihr auf einmal so fremdartig vorkam, von sich und floh.
Joringel folgte ihr und fing sie lachend wieder ein. »Was ist dir, Liebste? Warum fliehst du mich?«
»Ich weiß nicht recht. Was machen wir? Du bist so anders. Und mir ist so eigentümlich.«
Joringel versuchte sie zu beruhigen, obwohl auch er nicht minder furchtsam war, wusste er doch nicht, wie weiter. Er folgte seinem Triebe und fuhr fort, Jorinde zu umarmen, zu küssen und zu streicheln. Bis sie sich wieder losmachte und fortlief. Jorinde weinte zuweilen, Joringel wurde zunehmend unsicherer.
In diesem alten Spiel junger Liebespaare von Nähe und Flucht, Weglaufen und Einfangen kamen die beiden immer tiefer in den Wald hinein.
»Hüte dich«, sagte Joringel, »dass du nicht so nahe ans Schloss kommst.« Es war ein schöner Abend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume hell ins dunkle Grün des Waldes, und die Turteltaube sang kläglich. Da sah Joringel plötzlich das Gemäuer des alten Schlosses durchs Gebüsch und erschrak. Noch halb stand die Sonne über dem Berg und halb war sie unter. Jorinde ahnte wohl auch Böses, denn sie sang:
»Mein Vöglein mit dem Ringlein rot
singt Leide, Leide, Leide:
es singt dem Täubelein seinen Tod,
singt Leide, Lei - zucküth, zicküth, zicküth.«
Die letzten Töne »zicküth, zicküth« waren die einer Nachtigall, denn Jorinde war in eine verwandelt worden. Die alte Zauberin flog als eine Nachteule mit glühenden Augen um Joringel herum und schrie dreimal »schu, hu, hu, hu«. So musste er stille stehen und konnte wie ein Stein sich nicht von der Stelle bewegen, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Er musste zusehen, wie die alte Frau, die sich aus der Eule zurückverwandelt hatte, die Nachtigall fing und ins Schloss forttrug.
Als das Weib wiederkam, sagte es mit dumpfer Stimme geheimnisvoll: »Grüß dich, Zachiel, wenns Möndel ins Körbel scheint, bind los, Zachiel, zu guter Stund«, und machte Joringel dadurch los. Der hilflose Jüngling jammerte und bettelte, er flehte die Alte an, ihm seine Jorinde wiederzugeben, aber die Zauberin lachte ihn nur aus.
So lief Joringel schließlich tieftraurig los, kam in ein fremdes Dorf und verdingte sich zum Schafehüten. Auch über die lange Zeit ging ihm seine Verlobte nicht aus dem Kopf und dem Herzen. Der junge Mann machte sich Vorwürfe. Wenn er beherzter gewesen und mutiger zugepackt hätte, wäre Jorinde schon im Verlauf des Tages auf einer Lichtung ganz die Seine geworden. Sie beide wären nicht bis zum Abend bei ihrem unentschlossenen Hin und Her immer tiefer in den Wald geraten bis zu dem verwunschenen Schloss. Oder aber – so fragte sich Joringel – wollte er gar im tiefsten Inneren eine Prüfung herbeiführen? Nur keusche Jungfrauen wurden von der Zauberin verwandelt … Immer wieder wälzte er diese dunklen Gedanken in seinem Kopf.
Ein alter Schäfer, dem er die Unsicherheit beim Zusammensein mit seinem Mädchen im Walde gestand, klärte ihn über mancherlei auf und half ihm zu mehr männlichem Zutrauen.
War es dies, war es eine Eingebung, so träumte der junge Mann eines Nachts von einer blutroten Blüte, die nur für ihn aufging. Irgendwie erinnerte sie ihn an seine Geliebte und verhieß ihm unbeschreibliches Glück. Zarte Blütenblätter umhüllten eine schöne große Perle und übte einen unwiderstehlichen Zauber auf ihn aus. Durch diese traumhafte Blume meinte er, die Liebste glücklich wiederzubekommen. Der Traum erregte den Jüngling so sehr, dass er am Morgen sofort in die Welt aufbrach, um nach der glückverheißenden Blume zu suchen.
Er wanderte unbeirrt über Berg und Tal und fand am neunten Morgen eine wunderschöne rote Blume, in deren Mitte ein großer Tautropfen glänzte wie die schönste Perle. Wieder erfüllte ihn große Freude. Voller Zuversicht und ohne müde zu werden, lief der Verliebte Tag und Nacht und trug die Blume bis zum unheimlichen Schloss. Wie er auf hundert Schritt nahe bis zum Schloss kam, da ward er nicht fest, sondern ging fort bis ans Tor. Dieses sprang auf, als er es mit der Blume berührte. So kam er bis in einen großen Saal, in dem waren Tausende von Vogelkäfigen.
Die Zauberin, die dabei war, die Vögel zu füttern, fuhr böse auf Joringel zu, kam aber auf zwei Schritte nicht heran. Sie spie Gift und Galle, konnte dem Jüngling allerdings nichts anhaben. Der suchte unter den Nachtigallen verzweifelt nach seiner Liebsten. Als die Alte aber hinter seinem Rücken einen Käfig fortschaffen wollte, begriff er und sprang herzu. Er berührte das Körbchen mit der Blume und auch das alte Weib, das nun alle Zauberkraft verlor. Jorinde war befreit und fiel ihm um den Hals, so schön und liebreizend wie ehedem.
Auch alle anderen siebentausend Nachtigallen wurden wieder zu Jungfrauen. Sie versprachen ihm ewige und jegliche Dankbarkeit. Was sollte er aber mit siebentausend Jungfrauen?
Jorinde küsste und schnäbelte nach Herzenslust und bei jeder Gelegenheit dankbar und voller Liebe ihren Joringel. Sie gab dem mannhaften Drängen des Verlobten sehr bald nach, öffnete sich ihm ganz wie die rote Blume, die dem Burschen im Traum erschienen war. Schließlich war die Jungfrau lang genug eine Nachtigall gewesen und wusste, dass das Vögeln große Freude bringen kann. So hatte das glückliche Paar seine Lust aneinander.
Ebenso froh und dankbar waren alle jungen Männer in den Dörfern ringsum, denn es gab nun an willigen Jungfrauen genug. Die Freude war allseits so groß, dass die Gegend im darauffolgenden Jahr einen reichen Kindersegen erfuhr.
Joringel nahm seine Jorinde zu sich nach Hause und sie lebten lange vergnügt zusammen.