KAPITEL ZWEI
Avery kam genau 27 Minuten später am Tatort an. Watertown, Massachusetts lag ungefähr dreißig Kilometer außerhalb von Bostons Stadtgrenze und war eine der vielen Städte, die sich den Charles River mit Boston teilten. Der Watertown Damm befand sich stromaufwärts von der Watertown Brücke. Die Gegend um den Damm war hauptsächlich ländlich, wie auch der Tatort vor dem sie momentan parkte. Sie schätzte, dass der Damm noch gute fünfundzwanzig Kilometer entfernt war, da Watertown noch etwa sieben Kilometer entfernt war.
Als sie zum Fluss hinunterging, duckte sie sich unter einem langen Absperrungsband, das den Tatort absicherte. Der Tatort war ziemlich groß und das gelbe Absperrungsband zeichnete ein großes Rechteck, dass von zwei Bäumen zu zwei Eisenstangen auf der Flussbank führte, die die Polizei in das harte Eis des Flusses getrieben hatte. Connelly stand auf der Bank und sprach mit zwei Polizisten. Draußen auf dem Eis hockte eine Gruppe von drei Menschen und die nach unten auf das Eis blickten.
Sie ging zu Connelly und winkte ihm. Er sah auf seine Uhr, wirkte beeindruckt und winkte sie zu sich.
„Die Forensik wird Sie auf den neuesten Stand bringen“, sagte er.
Das war ihr recht. Obwohl sie Connelly von Fall zu Fall besser leiden konnte, genoss man ihn am besten in kleinen Dosen. Avery begab sich aufs Eis und fragte sich, ob ihr die paar Male, die sie als Kind Schlittschuhlaufen war heute nützlich sein würden. Offensichtlich waren aber jegliche Eislauffähigkeiten seit langem dahin. Sie ging langsam und gab Acht, nicht auszurutschen. Sie hasste es, sich verletzbar und nicht vollständig in Kontrolle zu fühlen, aber das verdammte Eis war einfach zu glatt.
„Das ist ok“, sagte einer der Forensiker, der bemerkte, wie sie sich näherte. „Hatch ist auf dem Weg hierher dreimal auf seinen Hintern gefallen.“
„Halt die Klappe“, sagte ein anderer aus der Gruppe, wahrscheinlich Hatch.
Avery hatte es endlich zur Gruppe der Forensiker geschafft. Sie saßen in der Hocke und blickten durch eine glatt ausgebrochene Öffnung im Eis. Darin sah Avery den Körper einer nackten Frau. Sie sah aus, als wäre sie Anfang zwanzig. Ließ man die Blässe und die gefrorene Haut beiseite, sah sie anziehend aus. Umwerfend sogar.
Die Forensiker schafften es, den Körper mit Plastikstangen unter den Armen zu greifen. Die Enden der Stangen waren in U-Form gebogen und waren mit etwas bezogen, das wie Baumwolle aussah. Rechts neben dem aufgebrochenen Eis wartete eine einfache Isolierdecke auf die Leiche.
„Man hat sie so gefunden?“ fragte Avery.
„Ja“, sagte der Mann von dem sie annahm, dass er Hatch war. „Auch noch von Kindern. Die Mutter rief die örtliche Polizei an und eine Stunde und fünfzehn Minuten später sind wir hier.“
„Sie sind Avery Black, oder?“ fragte der Dritte der Gruppe.
„Ja, die bin ich.“
„Müssen Sie sie genauer untersuchen, bevor wir sie da rausholen?“
„Ja, wenn Sie nichts dagegen haben.“
Die drei traten einen Schritt zurück. Hatch und derjenige, der ihn aufgezogen hatte, weil er hingefallen war, hielten die Plastikstangen. Avery arbeitete sich zentimeterweise vorwärts; die Spitzen ihrer Schuhe waren weniger als 15 Zentimeter vom aufgebrochenen Eis und dem offenen Wasser entfernt.
Das Loch im Eis erlaubte ihr, die Frau von ihren Augenbrauen bis hinunter zu ihren Knien zu betrachten. Sie sah fast wie eine Wachsfigur aus. Avery wusste, dass das wahrscheinlich etwas mit den extremen Temperaturen zu tun hatte, aber da war noch etwas anderes an ihrer Makellosigkeit. Sie war unglaublich dünn – vielleicht ein wenig über 45 Kilo. Ihr gerötetes Gesicht ging in einen Blauton über, aber außerdem waren keine Makel zu entdecken – keine Kratzer, keine Schnitte, keine Schürfungen, nicht einmal ein Pickel.
Avery fiel auch auf, dass sie außer ihrem nassen und teilweise gefrorenen blonden Kopfhaar, kein einziges Härchen an ihrem ganzen Körper hatte. Ihre Beine waren perfekt rasiert. Ihr Intimbereich auch. Sie sah aus wie eine lebensgroße Puppe.
Mit einem letzten Blick auf die Leiche trat Avery zurück. „Ich bin fertig“, sagte sie zu den Forensikern.
Diese traten vor, zählten bis drei und zogen den Körper langsam aus dem Wasser. Als sie sie herauszogen, wählten sie den Winkel so, dass die Leiche zum größten Teil auf der Isolierdecke zum Liegen kam. Avery bemerkte, dass unter der Decke eine Trage lag.
Als der Körper ganz aus dem Wasser heraus war, fielen ihr zwei weitere Dinge auf, die sie komisch fand. Erstens trug die Frau keinen Schmuck. Avery kniete sich hin und sah, dass die Ohren der Frau durchstochen waren, aber die Ohrringe fehlten. Dann wandte sie sich dem zweiten komischen Detail zu: die Finger-und Zehennägel der Frau waren sauber geschnitten – fast so, als wären sie kürzlich manikürt worden.
Es war komisch, dass dies ihre inneren Alarmglocken schrillen ließ. Das kalte Fleisch, das sich unter den Zehennägeln blau verfärbte, hatte etwas Unheimliches an sich. Es ist fast so, als hätte man sie poliert, dachte sie.
„Sind wir hier fertig“, fragte Hatch sie.
Sie nickte.
Während die drei den Leichnam bedeckten und ihn dann vorsichtig auf der Bahre zur Bank trugen, blieb Avery bei dem Loch im Eis zurück. Sie starrte ins Wasser, während sie nachdachte. Sie griff in ihre Tasche, um nach einem Stück Abfall zu suchen, konnte aber nur einen gerissenen Haargummi finden.
„Black“ rief Connelly von der Bank. „Was tun Sie da?“
Sie blickte zurück und sah ihn nahe am Eis stehen, jedoch vorsichtig darauf bedacht, es nicht zu betreten.
„Arbeiten“, rief sie zurück. „Warum kommen Sie nicht her und helfen?“
Er verdrehte seine Augen und sie wandte sich wieder dem Eisloch zu. Sie ließ den gerissenen Haargummi ins Wasser fallen und schaute dabei zu, wie er für einen Moment auf und ab wippte. Dann wurde er langsam vom kriechenden Strom des Wassers unter dem Eis erfasst. Es wurde unter dem Eis in Richtung Watertown fortgetrieben.
Sie wurde also an einer anderen Stelle in den Fluss geworfen, dachte Avery, als sie den Fluss hinunter Richtung Boston blickte. Auf der Bank schlossen sich Connelly und der Polizist mit dem er gesprochen hatte dem Forensik-Team an.
Nackt und ohne eine Wunde oder einen blauen Fleck. Es kann also kein gewalttätiger Angriff gewesen sein. Kein Schmuck, also könnte es ein Raub gewesen sein. Aber in den meisten Fällen eines Raubes würde der Leichnam Zeichen eines Kampfes aufweisen... und diese Frau war makellos. Und was war mit ihren Nägeln und was bedeutete das Fehlen jeglicher Haare außer der auf ihrem Kopf?
Sie ging langsam auf die Bank zu und blickte den Fluss hinab zu der Stelle an der er eine Biegung machte und weiter Richtung Boston floss. Es war komisch daran zu denken, wie schön der gefrorene Charles River von der Boston Universität aus aussah, während weniger als zwanzig Minuten entfernt eine Leiche aus dem Fluss gezogen worden war.
Sie zog ihren Mantelkragen um ihren Hals als sie zurück zur Bank ging. Sie kam gerade rechtzeitig um zu sehen, wie die Hintertüren des Forensikautos geschlossen wurden. Connelly kam auf sie zu, blickte jedoch in die Ferne und auf das gefrorene Wasser.
„Haben Sie sich die Frau gut angesehen?“ fragte Avery.
„Ja. Sie sah aus wie ein verdammtes Spielzeug oder so etwas. Ganz blass und kalt und...“
„Und perfekt“, sagte Avery. „Haben Sie bemerkt, dass sie kein einziges Haar an ihrem Körper hatte? Keine blauen Flecken oder Beulen.“
„Oder Schmuck“, fügte Connelly hinzu. Mit einem schweren Seufzer fragte er: „Darf ich um Ihre erste Einschätzung bitten?“
Sie war jetzt viel eher bereit dazu offen mit Connelly zu sprechen. So war es, seitdem er und O'Malley ihr vor zwei Monaten eine Beförderung zum Sergeant angeboten hatten. Im Gegenzug schienen die beiden eher bereit, ihre Theorien von Anfang an zu akzeptieren, statt auf Teufel komm raus alles in Frage zu stellen, was aus ihrem Mund kam.
„Ihre Fingernägel waren perfekt geschnitten“, sagte sie. „Es wirkt fast, als wäre sie direkt aus einem Schönheitssalon gekommen bevor man sie in den Fluss geworfen hatte. Und dann fehlt jegliche Körperbehaarung. Eines von beiden alleine wäre komisch genug, aber zusammen riecht das ganz für mich nach Vorsatz.“
„Sie glauben, jemand hat sie so hergerichtet, bevor er sie getötet hat?“
„Scheint so. Es ist fast so wie bei einem Bestattungsinstitut, das die Toten so vorzeigbar wie nur möglich für den offenen Sarg macht. Wer immer das getan hat, hat sie so hergerichtet. Hat sie rasiert und ihre Nägel geschnitten.“
„Haben Sie eine Ahnung warum?“
Avery zuckte mit den Schultern. „Zu diesem Zeitpunkt kann ich nur spekulieren. Aber ich kann Ihnen eines sagen, aber Sie werden es nicht sehr mögen.“
„Verdammt“, sagte er, wohl wissend was nun kommen würde.
„Dieser Typ hat sich Zeit gelassen... nicht mal mit dem Akt des Tötens an sich, sondern damit, wie die Leiche auszusehen hat, wenn man sie findet. Er hat absichtsvoll gehandelt. Und geduldig. Vergleiche ich das mit ähnlichen Fällen, kann ich ihnen fast garantieren, dass sie nicht das einzige Opfer sein wird.“
Mit einem weiteren seiner charakteristischen Seufzer kramte Connelly sein Telefon aus seiner Hosentasche. „Ich werde eine Konferenz im A1 einberufen“, sagte er. „Ich sage ihnen Bescheid, dass wir es mit einem potentiellen Serienmörder zu tun haben.“