KAPITEL EINS

852 Words
KAPITEL EINS Avery konnte sich nicht an das letzte Mal erinnern, an dem sie so rücksichtslos shoppen gegangen war. Sie war sich nicht sicher, wieviel Geld sie ausgegeben hatte, denn sie hörte nach dem zweiten Geschäft auf, darauf zu achten. Um ehrlich zu sein hatte sie nicht einmal wirklich auf die Kassenzettel geschaut. Rose begleitete sie und das war an und für sich unbezahlbar. Sie mochte das etwas anderes sehen, wenn erst die Kreditkartenabrechnung käme, aber in diesem Moment war es das wert. Mit den Beweisen ihrer Zügellosigkeit in kleinen trendigen Taschen zu ihren Füßen, sah Avery Rose über den Tisch hinweg an. Sie saßen in einem hippen Laden im Leather District von Boston, der sich Caffe Nero nannte und den Rose ausgesucht hatte. Der Kaffee war unverschämt teuer, aber einer der besten, den Avery seit Langem getrunken hatte. Rose schrieb jemandem per SMS. Üblicherweise hätte dies Avery verärgert, aber sie lernte, die Dinge auch gut sein zu lassen. Wenn sie und Rose jemals ihre Beziehung flicken sollten, musste man bestimmte Kompromisse eingehen. Sie durfte nicht vergessen, dass zwischen ihnen 22 Jahre lagen und dass Rose in einer vollständig anderen Welt lebte, als die, in der sie selbst aufgewachsen war. Als Rose ihre SMS fertig geschrieben hatte, legte sie das Telefon auf den Tisch und blickte Avery entschuldigend an. „Entschuldigung“, sagte sie. „Macht nichts“, antwortete Avery. „Darf ich fragen, wer das war?“ Rose schien eine Sekunde darüber nachzudenken. Avery war sich darüber im Klaren, dass auch Rose versuchte Kompromisse einzugehen. Sie hatte sich noch nicht entschieden, wie weit sie ihre Mutter an ihrem persönlichen Leben teilhaben lassen wollte. „Marcus“, sagte Rose leise. „Oh, ich wusste nicht, dass er noch ein Thema ist.“ „Ist er nicht. Nicht wirklich. Also... ich weiß nicht. Vielleicht doch.“ Avery musste lächeln, da sie sich erinnerte wie es war, als Männer zugleich verwirrend und faszinierend waren. „Seid ihr ein Paar?“ „Ich glaube, das könnte man sagen“, sagte Rose. Sie war sparsam mit ihren Worten, aber Avery konnte sehen, wie die Röte in den Wangen ihrer Tochter aufstieg. „Behandelt er Dich gut?“ fragte Avery. „Meistens schon. Wir wollen nur verschiedene Dinge. Er ist nicht sehr zielorientiert. Eher richtungslos.“ „Du weißt, dass es mich nicht stört, solche Dinge von Dir zu erfahren“, sagte Avery. „Ich bin immer bereit Dir zuzuhören. Oder zu reden. Oder Dir zu helfen Typen loszuwerden, die Dich verletzen. Mit meiner Arbeit... Du bist so ungefähr die einzige Freundin, die ich habe.“ Sie erschauderte innerlich als sie bemerkte, wie kitschig das klang, doch es war zu spät es zurückzunehmen. „Das weiß ich, Mom“, sagte Rose. Mit einem Grinsen fügte sie hinzu: „Und ich kann Dir gar nicht sagen, wie traurig das klingt.“ Sie lachten gemeinsam darüber, aber insgeheim war Avery überwältig wie sehr ihr ihre Tochter in diesem Moment glich. In der Sekunde, in der ein Gespräch zu emotional oder persönlich wurde, beendete Rose es entweder durch Schweigen oder durch Witze. Mit anderen Worten, der Apfel war nicht allzu weit vom Baum gefallen. Während sie lachten, kam dieselbe hübsche Bedienung an ihren Tisch, die ihre Bestellungen aufgenommen und ihre Kaffees gebracht hatte. „Noch einen Kaffee?“ fragte sie. „Danke, für mich nicht“, sagte Avery. „Für mich auch nicht“, sagte Rose. Sie stand auf, als die Bedienung den Tisch verließ. „Ich muss los“, sagte sie. „In einer Stunde habe ich ein Treffen mit dem Studienberater.“ Das war ein anderes Thema, das Avery nicht zu sehr aufbauschen wollte. Sie war begeistert, dass sich Rose doch noch entschieden hatte aufs College zu gehen. Mit neunzehn hatte sie nun endlich die Initiative ergriffen und Termine mit Beratern am örtlichen College in Boston vereinbart. Für Avery bedeutete das, dass sie bereit war etwas aus ihrem Leben zu machen, aber dass sie nicht so weit war, alles Vertraute hinter sich zu lassen. Dazu zählte vielleicht sogar die schwierige, aber zu rettende Beziehung zu ihrer Mutter. „Ruf mich später an und lass mich wissen wie es gelaufen ist“, sagte Avery. „Mach ich. Danke nochmal Mom. Das war überraschend lustig. Das müssen wir bald mal wiederholen.“ Avery nickte, als sie ihrer Tochter hinterher sah. Sie nahm den letzten Schluck ihres Kaffees und stand auf, während sie die vier Einkaufstüten neben ihrem Stuhl einsammelte. Nachdem sie diese geschultert hatte, verließ sie das Café und ging zu ihrem Auto. Als ihr Telefon klingelte, war es mit all den Tüten ziemlich umständlich dranzugehen. In Wirklichkeit fühlte sie sich dumm mit den Taschen. Sie war nie eine dieser Frauen, die gerne shoppen gehen. Aber es war eine großartige Gelegenheit, um die Dinge mit Rose wieder ins Lot zu bringen und das war es, was zählte. Nachdem sie die ganzen Tüten abgestellt hatte, kam sie endlich an ihr Telefon, welches sich in ihrer inneren Manteltasche befand. „Avery Black“, sagte sie. „Black“, sagte die wie immer raue und schnell sprechende Stimme von Dylan Connelly, dem Leiter des Morddezernats des A1 Reviers. „Wo sind Sie gerade?“ „Im Leather District“, antwortete sie. „Was gibt es?“ „Ich brauche Sie drüben am Charles River vor der Stadt, in der Nähe von Watertown und zwar so schnell wie möglich.“ Sie hörte den Ton in seiner Stimme, die Dringlichkeit und ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Was ist passiert?“ fragte sie, obwohl sie fast Angst hatte zu fragen. Als Antwort kam eine lange Pause, gefolgt von einem tiefen Seufzer. „Wir haben eine Leiche unter dem Eis gefunden“, sagte er. „Und Sie werden Sie sich selbst anschauen müssen, um zu glauben, was mit ihr passiert ist.“
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