Kapitel 1-1

1432 Words
Kapitel 1 Heute – Yachats, Oregon: Jenny Ackerlys Herz sagte ihr, dass ihre beste Freundin nicht tot war – auch wenn ihr Kopf das Gegenteil behauptete. Die lange, kurvenreiche Straße, die durch den Redwood Nationalpark an der Küste von Oregon führte, fühlte sich genauso wie ihr Leben in den letzten zwei Jahren seit Carlys Verschwinden an – eine nicht enden wollende Reise voller Drehungen und Wendungen. Sie war bereit, die Straße des Lebens ein wenig zu begradigen, damit sie sehen konnte, wohin sie führte. „Sie ist nicht tot. Ich würde es wissen, verdammt noch mal!“, fluchte sie leise. Das Brennen in ihren Augen und das plötzliche Bedürfnis zu niesen warnten Jenny, dass sie kurz davor war, zu weinen. Das tat sie immer, wenn sie sich dem Yachats State Park bis auf acht Kilometer genähert hatte. Den Blick auf die Straße gerichtet, lehnte sie sich über den Beifahrersitz, öffnete das Handschuhfach ihres Subaru Outback und zog eine Handvoll Servietten heraus, die sie aus verschiedenen Restaurants mitgenommen hatte. Die Taschentücher, die von ihrer letzten Fahrt hierher vor drei Monaten noch übrig gewesen waren, hatte sie bereits aufgebraucht. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, bevor sie sich lautstark in die feuchte Serviette schnäuzte. Dann stopfte sie die benutzte Serviette in die leere Taschentuchbox und drehte das Radio lauter. Wieder fluchte sie lautstark, als ein neuer Song begann und sie erkannte, dass es einer von Carlys Lieblingssongs war. Das brachte das Wasserwerk natürlich so richtig zum Laufen. Sie drückte den Knopf und schaltete das Radio aus. Dann schnappte sie sich eine weitere Serviette und tupfte die Tränen ab, die ihr die Sicht verschleierten. Wenn sie zu stark weinte, würde sie auf dem Seitenstreifen anhalten müssen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie anhalten musste, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Leider war das Einzige, was Weinen bewirkte, dass ihr Gesicht rot wurde und sie wertvolle Zeit verlor, die sie nutzen konnte, um herauszufinden, was mit Carly geschehen war. Sie schnäuzte sich noch einmal und stopfte das benutzte Taschentuch wütend in die Schachtel, die rasch immer voller wurde. „Ich schwöre, wenn ich herausfinde, wer dir das angetan hat, Carly, mache ich sie fertig. Ich werde sie in Stücke reißen, wieder zusammensetzen, sie fragen, wie es sich anfühlt, und dann das Ganze noch einmal machen“, schwor Jenny und umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. „Wenn sie dir … wehgetan … haben, werde ich sie in einem Feuerameisenbett mitten in der Wüste begraben und zusehen, wie sie von den Ameisen verschlungen werden, während ich an einer eiskalten Limonade nippe.“ Okay, das würde sie nicht wirklich tun, aber sie konnte es sich vorstellen. Ja, sie konnte ein bisschen unangenehm werden, wenn jemand ihre Freunde verletzte. Jenny fand, dass das einfach dazugehörte, wenn man rote Haare hatte. Eigentlich war sie für ihr nettes, ausgeglichenes Wesen bekannt – bis jemand etwas tat, das sie verärgerte. Dann kam das Temperament, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, in seiner ganzen feurigen Pracht zum Vorschein. Als sie die Ausfahrt vor sich sah, wurde Jenny langsamer und betätigte den Blinker. Sie bog links in die Einfahrt zum Yachats State Park ein und folgte der Straße bis zum Ranger-Posten. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, aber das würde sie nicht von ihrer Mission abhalten. Egal, ob Regen oder Sonnenschein, Kälte oder Nebel, sie würde die Strecke laufen, die Carly genommen hatte, bevor sie verschwunden war. Sie würde jeden winzigen Zentimeter absuchen, in der Hoffnung, dass das Wetter und die Zeit vielleicht irgendeinen Hinweis freigelegt hatten, den die Polizei und die freiwilligen Helfer vor zwei Jahren übersehen hatten, als sie ihre Freundin als vermisst gemeldet hatte. „Wie viele?“, fragte der Ranger, als sie an das Fenster heranfuhr. „Nur eine“, antwortete Jenny und reichte ihm ihre Jahreskarte. Der Ranger musterte die Karte kurz, bevor er Jenny anschaute. Sie konnte spüren, wie sein Blick über ihr Gesicht wanderte. Es dauerte nicht lange, bis er sie erkannte. „Du bist das Mädchen, das immer nach der Verschwundenen sucht, nicht wahr?“, fragte der Ranger und stützte sich auf die Fensterbank. Jenny zog eine Grimasse und nickte. „Ihr Name ist Carly Tate. Hat jemand etwas gefunden?“, fragte sie und streckte ihre Hand nach dem Ausweis aus. „Nichts. Gelegentlich kommen noch ein paar Leute, um nach Spuren zu suchen, aber das letzte Mal, dass jemand da war, ist schon eine Weile her“, antwortete der Ranger mit einem freundlichen Lächeln. „Ich habe um drei Uhr Feierabend, wenn Sie möchten, dass ich Sie begleite.“ Jenny schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. „Das ist schon okay. Ich habe heute nicht viel Zeit“, log sie. Der Ranger machte ein langes Gesicht und zuckte mit den Schultern. „Seien Sie vorsichtig. Entlang des Pfades, der zur Bucht hinunterführt, gibt es einige Erosionen“, sagte er und reichte ihr den Pass und einen Parkschein. „Und halten Sie Ausschau nach plötzlichen Wetteränderungen. Um diese Jahreszeit kann es schnell neblig werden oder regnen. Das erschwert die Sicht.“ „Das werde ich, danke.“ Jenny wartete den Rest seines auswendig gelernten Vortrags nicht ab. Da sie in dieser Gegend aufgewachsen war, war sie mit den plötzlichen Wetterumschwüngen bestens vertraut und wusste, wie man damit umzugehen hatte. Sie drückte auf den Knopf, um das Fenster zu schließen, gab ein wenig mehr Gas als beabsichtigt und spürte den Ruck der Bodenwelle. Sie verzog das Gesicht, verringerte den Druck auf das Pedal und fuhr etwas langsamer weiter. Sobald sie außer Sichtweite des Ranger-Postens war, beschleunigte sie wieder. Sie folgte der langen, kurvenreichen Straße und bog an den entsprechenden Schildern ab, ohne sie zu lesen. Sie wusste, wo sie hinwollte. Als sie auf den Parkplatz fuhr, stellte sie mit Genugtuung fest, dass sich dort nur noch ein weiteres Auto befand und wie es aussah, waren dessen Besitzer gerade im Begriff, zu gehen. Jenny saß in ihrem Auto und wartete, während der Mann und die Frau sich über die Karte stritten, die sie studierten. Sie tippte mit den Fingern auf das Lenkrad und widerstand dem Drang, auszusteigen und die beiden zu fragen, ob sie Hilfe brauchten. Dann stellte sie den Motor ab, löste den Sicherheitsgurt und drehte sich um, um nach ihrer Jacke zu greifen, die auf dem Rücksitz lag. Sie richtete sich in ihrem Sitz auf, blinzelte die Tränen zurück, die schon wieder in ihren Augen brannten und stieß einen tiefen, zittrigen Atemzug aus, als das Auto neben ihr endlich wegfuhr. Sie öffnete die Tür, stieg aus, zog ihre Jacke an und machte den Reißverschluss zu, bevor sie die Tür schloss. Aus Gewohnheit schaute sie sich noch einmal, bevor sie die Tür abschloss und ihre Autoschlüssel einsteckte. Seit Carly vor zwei Jahren verschwunden war, fühlte Jenny sich nicht mehr sicher. Sie war vor über einem Jahr aus der kleinen Küstengemeinde Yachats, Oregon, weggezogen, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Bis jetzt war ihr das nicht besonders gut gelungen, wie sie zugeben musste. * * * * Langsam folgte Jenny dem Pfad und hielt an einer Gabelung inne. Der Weg vor ihr führte in einer Schleife durch den Wald und am Berg entlang. Der Pfad rechts davon führte hinunter zur Bucht und zum Strand. Diese Route verwarf sie jedoch rasch. Carly hatte eine Karte des Parks in ihrem Auto gelassen, auf der der längste Weg grün markiert war und daneben standen die Worte ‚Ich schaffe das‘. Jenny lächelte, als sie daran dachte, dass außerdem auch das Wort ‚Eiscreme‘ in schwarzer Farbe am Ende des Weges geschrieben stand und eingekreist war. Sie schob ihre Hände in die Taschen und ging weiter, vorbei an dem Schild, das zum Strand führte, und atmete den herrlichen Duft von immergrünen Bäumen, feuchter Erde und kalter Meeresluft ein. Jenny betrachtete den Weg, während sie sich vorstellte, wie es für Carly gewesen sein musste. Sie hat bestimmt ganz schön gemeckert, dachte Jenny, nachdem sie dem Weg anderthalb Kilometer lang gefolgt war. Sie hielt inne, um sich umzusehen, und seufzte. Sie war umringt von hohen Bäumen, dichten Farnen und abfallenden Schluchten. Vielleicht war Carly gestolpert und den Abhang hinunter in die Farne gerollt. Sie hätte sich den Kopf an einem Stein stoßen und von der dichten Vegetation verschluckt werden können. Carly war für ihre Tollpatschigkeit bekannt. Vielleicht hatte sie einfach nur Pech, gestand sich Jenny im Stillen ein. „Bestimmt hätte sie jemand gefunden, wenn das passiert wäre“, murmelte Jenny, bevor sie den schmalen Pfad weiter entlangging.
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