Prolog

2330 Words
Prolog Fünf Jahre zuvor: „Eure Majestät“, rief eine der Wachen Orion mit eindringlicher Stimme zu. Orion drehte sich stirnrunzelnd um. Er gab Kapian, dem Hauptmann seiner Leibgarde, mit einem Nicken zu verstehen, dass er auf ihn warten sollte. Sie mussten den Schaden begutachten, die ein kleines Erdbeben vor drei Stunden verursacht hatte, einen Aktionsplan ausarbeiten, um den Betroffenen zu helfen, und Hilfstrupps schicken, um mit den Reparaturen zu beginnen. Kapian und er waren gerade von einer Erkundungsmission an der Küste zurückgekehrt. Durch das Beben hatten sich Risse im felsigen Meeresgrund gebildet und es hatte sich eine Spalte geöffnet, in die sie fast hineingesogen worden wären. Als sie erkannt hatten, dass das Beben wahrscheinlich auch die Insel treffen würde, waren sie eilig zur Insel der Meeresschlange zurückgekehrt. Nach ihrer Rückkehr hatten sie festgestellt, dass die Unterwasserstadt zwar keinen Schaden genommen hatte, dafür aber die Stadt darüber, wie ihm berichtet worden war. Auch wenn es kein starkes Erdbeben gewesen war, machte er sich Sorgen, dass ein Tsunami vielleicht noch mehr Schaden im oberen Königreich anrichten könnte. Die neuen Gebäude waren zwar so konstruiert, dass sie viel stärkeren Beben standhalten konnten, aber es gab auch viele ältere Bauten, die einstürzen könnten. Die Furchen auf seiner Stirn wurden noch tiefer, als er begriff, wer nach ihm gerufen hatte. York war der persönliche Leibwächter seiner Frau und für gewöhnlich immer in ihrer Nähe. „Gibt es ein Problem?“, fragte er, als er Yorks besorgten Blick bemerkte. „Es geht um die Königin, Eure Majestät. Sie ist bei dem Erdbeben verletzt worden“, erklärte York. „Orion, soll ich ...“, fragte Kapian und drehte sich zu Orion um. Doch Orion schüttelte bei Kapians mitfühlendem Tonfall nur den Kopf. „Finde heraus, ob noch jemand verletzt wurde, Kapian. Ich kümmere mich währenddessen um Shamill“, wies Orion ihn an, bevor er sich wieder York zuwandte. „Wo ist sie?“ „In ihren Gemächern, Eure Majestät“, antwortete York. Orion drängte sich an dem Wachmann vorbei und schritt auf die Gemächer seiner Frau zu. Die Palastwachen richteten sich auf, als er vorbeiging, aber er schenkte ihnen keine Beachtung. Seine Gedanken waren bei Shamill. „Eure Majestät“, rief York ihm nach. Mit der Hand am Griff der Tür zu Shamills Wohnbereich drehte Orion sich ungeduldig zu der Wache um. Er wartete darauf, dass York zu ihm aufschloss und kniff die Lippen zusammen, als er den traurigen Blick des Mannes sah. „Was ist?“, fragte er. „Ich sollte Euch warnen ...“, sagte York, bevor er verstummte und zur Tür blickte. „Die Verletzungen der Königin sind äußerst schwerwiegend. Ich hätte sie besser beschützen müssen. Ich möchte Euch mein aufrichtiges Bedauern aussprechen, Eure Majestät.“ Orion wartete Yorks nächste Worte nicht ab. Das musste er auch nicht – dem Gesichtsausdruck des Mannes nach zu urteilen mussten Shamills Verletzungen schlimmer sein, als er zunächst gedacht hatte. Er drehte sich um und stieß die Tür auf. Als er den Raum betrat wandten sich drei Heiler zu ihm um und machten eine respektvolle Verbeugung. Sie sagten kein Wort, als er durch das Wohnzimmer zu Shamills Schlafzimmer ging. In der Tür hielt er einen kurzen Augenblick lang inne. Neben den Heilern, die sich im Wohnzimmer unterhielten, waren noch drei weitere Frauen im Zimmer seiner Frau. Die erste war eine von Shamills Hofdamen, die Shamills blasse Stirn mit einem feuchten Tuch abtupfte. Shamill lag auf den makellosen weißen Laken, die fast die gleiche Farbe wie ihre Haut hatten. Sein Blick fiel auf die zweite Frau, die in der Nähe des Fensters stand. Sie hielt ein kleines Bündel in ihren Armen und wiegte es hin und her. „Eure Majestät“, murmelte die dritte Frau, Kelia, und neigte respektvoll den Kopf. Kelia war früher sein Kindermädchen gewesen und hatte sich in den späteren Monaten von Shamills Schwangerschaft um sie gekümmert. Sein Blick glitt über Kelias faltiges Gesicht, bevor er auf Shamills friedlichem Gesicht verweilte. Ihm war der besorgte Blick der älteren Frau nicht entgangen. „Wie geht es ihr?“, fragte er mit leiser Stimme. „Nicht gut, Eure Majestät. Ihre Hoheit ist gerade über die oberen Klippen spaziert, als sich das Erdbeben ereignet hat. Ein Teil der Stützmauer entlang einer der Pfade ist über ihr eingestürzt und hat sie unter sich begraben“, erklärte Kelia mit zitternder Stimme. „Ihr Wächter hat sie gefunden und um Hilfe gerufen.“ „Das Baby ...“, fragte Orion zögernd. „Euer Sohn hat überlebt, aber ihre Anstrengungen, ihn am Leben zu halten, bis er geboren werden konnte, haben die Königin das Leben gekostet“, antwortete Kelia. Orion ging zum Bett hinüber. Shamills Hofdame erhob sich und ging schweigend zum Fenster. Orion ließ sich neben seine Frau auf das Bett sinken. Im Hintergrund hörte er, wie Kelia der jungen Frau, die neben dem Fenster stand, leise etwas zu murmelte. Die junge Frau, die seinen Sohn in den Armen hielt, reichte Kelia den Säugling, bevor sie und Shamills Hofdame leise den Raum verließen. Kelia ging zu ihm und hielt ihm den Säugling hin. Orion nahm das Baby behutsam in seine Arme. „Ich bin vor der Tür, falls Ihr mich braucht“, flüsterte Kelia. Orion nickte und blickte auf die runden, rosigen Wangen des schlafenden Säuglings hinab. Er hob einen Finger und strich damit sanft über die Wange des Babys. Fast sofort drehte das Baby den Kopf und öffnete den Mund. „Ist ... er ... gesund?“, fragte Shamill mit kaum hörbarer Stimme. Orion blickte zu Shamill. Ihre Augen waren offen, aber er konnte die Schatten des Todes darin sehen. Ihr Blick war nicht mehr scharf und klar und der Glanz, der normalerweise in ihren Augen schimmerte, war kaum noch zu sehen. „Ja, das ist er“, sagte Orion und verlagerte das Baby in seinen Armen, sodass Shamill es sehen konnte. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, bevor es wieder verblasste. Sie zuckte zusammen und holte zitternd Luft. Ihre Augenlider flatterten und schlossen sich für einen Moment, bevor sie sie mühsam wieder öffnete. Als ihre Blicke sich trafen, überkam ihn ein Gefühl der Traurigkeit. Obwohl Shamill und er nie richtig ineinander verliebt gewesen waren, waren sie gute Freunde. Er respektierte ihre stille Anmut und ihre Güte. „Dolph …“, flüsterte Shamill. „Er ist in Sicherheit“, beruhigte Orion sie. „Lass mich … nur ein … Mal … bevor …“ Orion legte das Baby sanft auf Shamills Brust. Instinktiv streckte er die Hand aus, um die Träne aufzufangen, die aus ihrem Augenwinkel gesickert war. Sie bewegte ihre linke Hand, aber sie war zu schwach, um sie zu heben. Er griff danach und legte ihre kalten Finger an die warme Wange ihres Sohnes. „Welcher ... Name ...?“, fragte sie mit schwacher Stimme. „Juno. Sein Name ist Juno, so wie du es wolltest“, erwiderte Orion mit einem kleinen, traurigen Lächeln. „Juno …“, flüsterte Shamill. Orion griff nach ihrer Hand, als sie ihm zu entgleiten begann. Er zog ihre kalten Finger an seine Lippen und drückte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, als das letzte Licht in ihren Augen noch einmal aufleuchtete und dann erlosch. Juno stieß einen durchringenden Schrei aus. Es war, als könne das Kind spüren, dass seine Mutter fort war. „Möge deine Reise dich ins Glück führen, Shamill. Ich werde unsere beiden Söhne und das Königreich beschützen“, sagte Orion mit ruhiger Stimme. Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er das quengelnde Baby sanft in seine Arme schloss. Trauer durchflutete ihn, als er sich vom Bett erhob und sich umdrehte. Direkt vor der Tür stand Kelia. Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, aber er schüttelte den Kopf. „Wo ist Dolph?“, fragte er. „Der junge Lord ist im Garten mit seinem Kindermädchen“, erwiderte Kelia. „Ich möchte, dass du ein Kindermädchen für Juno findest. Sag ihr, sie soll mich in zehn Minuten im Garten treffen“, befahl Orion. „Ja, Eure Majestät“, antwortete Kelia mit einer Verbeugung. Orion durchquerte das Wohnzimmer und ging auf den Balkon hinaus. Da sie unter Höhenangst litt und gerne in der Nähe der Gärten war, hatte Shamill auf einer Wohnung im ersten Stock bestanden, als sie geheiratet hatten. Seine eigenen Gemächer befanden sich im Westturm. Er zog es vor, auf den Ozean hinauszuschauen, wenn er auf der Insel war. Orion überquerte den breiten, überdachten Balkon und stieg dann die Stufen hinunter, die zu dem Steinweg führten. Instinktiv schirmte er das Baby in seinen Armen ab, als er durch den Garten ging. Obwohl die Sonne schon relativ tief stand, wusste er, dass das Baby empfindlich auf Licht reagieren würde. Unter einem Baum hielt er inne und lauschte. Er lächelte, als er das Juchzen seines ältesten Sohnes hörte, gefolgt von einem Plätschern. „Master Dolph, du sollst dich doch nicht nass machen! Bald gibt es Abendessen“, schimpfte das Kindermädchen mit strenger Stimme. Orion ging den Weg hinunter zu einem kleinen Bach, der durch den Garten lief. Dolph saß lachend und planschend im Wasser. Sein ältester Sohn hatte es bereits faustdick hinter den Ohren und der frustrierte Gesichtsausdruck der Frau verriet ihm, dass er sich wahrscheinlich schon bald nach einem neuen Kindermädchen für ihn umsehen musste. „Ich werde mich um ihn kümmern“, sagte Orion bestimmt. Die Frau drehte sich überrascht um. Orion bemerkte, wie ihr Blick zuerst zu dem Baby in seinen Armen und dann wieder zu seinem Gesicht wanderte. Sie sah erschüttert aus. „Ja, Eure Majestät. Ich … Mein Herz ist bei der Königin“, sagte sie und fasste sich ans Herz. „Danke für Ihre Anteilnahme“, erwiderte Orion, bevor er seine Aufmerksamkeit auf seinen ältesten Sohn richtete. „Dolph, komm her.“ „Vater, ich kann das Wasser tanzen lassen!“ Dolph kicherte und wackelte mit den Fingern. Orion sah zu, wie das Wasser auf das Kommando seines Sohnes hin nach oben stieg und umherwirbelte. Es war nicht zu leugnen, dass Dolph eines Tages ein sehr mächtiger Herrscher sein würde. Die Freude seines ältesten Sohnes entlockte Orion ein Lächeln. Das Leben würde weitergehen. „Sehr gut, mein Sohn. Schau mal, ich möchte dir deinen kleinen Bruder vorstellen“, sagte Orion. Er ging zu einer Steinbank unter einem Baum und setzte sich. „Kann ich ihm beibringen, wie man das Wasser tanzen lässt?“, fragte Dolph und kletterte auf die Bank. Orion gluckste. „Wenn er älter ist“, versprach er. Dolph lief auf seinen Vater zu. Er hielt inne und betrachtete das kleine Bündel in Orions Armen, bevor er stirnrunzelnd wieder zu seinem Vater aufblickte. Wieder lächelte Orion, als er den verwirrten Gesichtsausdruck seines Sohnes sah. „Er ist klein“, sagte Dolph mit einem erneuten Blick auf seinen Bruder. „Das warst du auch, als du in seinem Alter warst“, erklärte Orion geduldig. „Darf ich ihn anfassen?“, fragte Dolph und blickte zu seinem Vater auf. „Ja, aber sei vorsichtig“, erwiderte Orion und positionierte Juno so, dass sein älterer Bruder ihn besser sehen konnte. „Mutter ist fortgegangen. Wollte sie nicht mehr bei uns sein?“, fragte Dolph, während er mit einem Finger über Junos Wange strich. „Wer hat dir von deiner Mutter erzählt?“, fragte Orion und sah seinen Sohn aufmerksam an. Dolph kicherte, als Juno seinen Mund öffnete und versuchte, an seinem Finger zu saugen. Orion presste verärgert die Lippen aufeinander. Es war seine Aufgabe, Dolph zu erklären, was mit Shamill geschehen war. Wenn das Kindermädchen etwas gesagt hatte … „Das Wasser“, antwortete Dolph nur. „Wird er Zähne bekommen?“ „Das Wasser ...?“, fragte Orion und runzelte die Stirn. Dolph nickte und sah zu seinem Vater auf. „Das Wasser hat mir gesagt, dass Mutter in den Ozean zurückgekehrt ist. Es hat gesagt, ich solle nicht traurig sein, weil wir eines Tages eine neue Mutter haben würden, die uns genauso lieb hat“, fuhr er fort. „Kann ich wieder im Wasser spielen?“ Orion nickte, verblüfft über die Aussage seines Sohnes. Dann erregte das Geräusch von herannahenden Schritten seine Aufmerksamkeit. Auf dem Pfad, der zu der Steinbank führte, auf der er saß, standen Kapian, Kelia und ein junges Mädchen. Orion erhob sich, als sie auf ihn zukamen. Kelia streckte die Hand nach Juno aus, der wieder zu wimmern begann. Er reichte ihr das Neugeborene. „Wir werden uns um ihn kümmern, Eure Majestät“, sagte Kelia. „Das ist meine Enkelin, Karin.“ „Danke, Kelia“, erwiderte Orion abwesend. Ihm wurde erst so richtig bewusst, was geschehen war, als er zusah, wie Karin Juno in ihren Armen wiegte, bevor sie und Kelia sich umdrehten und wieder davongingen. Orion drehte sich zu Dolph um und sah ihm zu, wie er im Wasser spielte. Selbst im zarten Alter von zweieinhalb Jahren zeigte sich bei seinem Ältesten schon die Macht, die mit seinem Geburtsrecht als Prinz des Meeresvolks einherging. Dolph würde eine strenge Hand brauchen, die ihn führte. Orion blickte zu seinem Freund Kapian. „Ich will genau wissen, was passiert ist. Shamill hatte große Höhenangst. Sie wäre niemals einfach so den Klippenpfad entlangspaziert“, sagte er grimmig. „Ich werde so bald wie möglich einen vollständigen Bericht für dich haben. Außerdem habe ich den Bau von temporären Sicherheitsgeländern entlang der Klippen angeordnet. Es wird eine Weile dauern, bis alle Schäden behoben sind, aber wir werden alles tun, damit sich eine solche Tragödie nicht wiederholt“, versicherte Kapian ihm. Orion nickte gedankenverloren. Es gab im Moment zu viel zu tun, um der Trauer nachzugeben, die auf ihm lastete. Shamills Tod würde nicht nur in seinem Leben eine Lücke hinterlassen, sondern im gesamten Königreich.
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