Ruger trat vor und wedelte mit der Hand durch die Luft, woraufhin ein Kristallschlüssel erschien. Er nahm den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Gem konnte nicht umhin, sich zu fragen, was sich hinter der Tür verbarg, das so wichtig war, dass es auf diese Weise geschützt werden musste.
Sie hielt inne und sah ihren Vater besorgt an, bevor sie ihrer Mutter in den Garten folgte und sich umsah. Sie war seit ihrer Kindheit nicht mehr in diesem Garten gewesen.
Mit offenem Mund betrachtete Gem die Zwillingsbäume, die ineinander verschlungen in der Mitte des Gartens standen. Diese Bäume hatte sie noch nie gesehen. Sie sahen aus wie zwei Körper, die einander umarmen. Der größere Baum war schützend um den etwas kleineren gewickelt. Wilde Kletterrosen wuchsen um die dicken Stämme herum, doch es blühte nur eine einzige Rose. Die Rose war dunkelrot, von schwarzen Adern durchzogen und größer als ein Teller. Gem trat einen Schritt vor, um eines der Blütenblätter zu berühren. Ein leises Keuchen entwich ihr, als ihr Vater ihr Handgelenk festhielt, um sie aufzuhalten.
„Nicht anfassen“, mahnte er.
„Warum nicht? Ich verstehe nicht. Warum ist es so kalt hier?“, fragte sie und zog ihre Hände zurück, um ihre Arme zu reiben.
„Es ist der dunkle Schatten, den Nali erwähnt hat“, antwortete ihre Mutter mit sanfter Stimme.
„Der dunkle Schatten …“ Gem sah erst ihre Mutter und dann ihren Vater an, bevor sie sich wieder der Rose zuwandte. „Wollt ihr damit sagen, dass das außerirdische Wesen, das von Magna Besitz ergriffen hat, hier ist? Wie? Und wann? Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?“
Gem beobachtete, wie ihre Eltern einen Blick austauschten, ihre Gesichter zeigten eine Fülle widersprüchlicher Gefühle. „Ja, die außerirdische Kreatur ist hier, aber es ist nicht dieselbe, die von Magna Besitz ergriffen hat“, begann Königin Adrina. „Kurz nachdem der Große Krieg vorbei war, haben König Samui und Königin Malay von der Insel der Riesen uns aufgesucht und uns um Hilfe gebeten. Sie waren in der Nähe der Insel der Meeresschlange unterwegs gewesen, als ein Objekt vom Himmel fiel. Der Meteorit hatte ihr Schiff beschädigt, und die Reparatur hatte mehrere Tage gedauert. In der Nähe der Absturzstelle fand Samui ein Stück des Meteoriten – und es war lebendig. Es glitt unter seine Haut und begann ihn zu verzehren. Malay hat sich sofort an uns gewandt“, erklärte ihre Mutter.
„Aber … warum? Warum sind sie nicht auf ihre Insel zurückgekehrt?“, fragte sie, während sie immer noch die verschlungenen Bäume betrachtete.
„Malay ist meine Schwester – deine Tante. Riesen müssen außerhalb ihres Königreichs heiraten. Malay und er haben sich als Teenager kennengelernt und sie hat sich in Samui verliebt“, erzählte ihre Mutter.
Gem schaute ihre Mutter überrascht an. „Warum hast du mir nie von ihr erzählt?“, fragte sie.
„Du warst noch sehr jung, als Malay und Samui hier ankamen. Die fremde Kreatur wuchs rasch und breitete sich in Samuis Körper aus. Nichts, was wir taten, konnte sie aufhalten. Nach ein paar Tagen merkten wir, dass sie die Kontrolle über seinen Geist übernommen hatte.“ Die Stimme ihrer Mutter zitterte angsterfüllt.
Ruger machte einen Schritt auf Adrina zu und legte seinen Arm um ihre Taille. „Wir waren in diesem Garten und haben verschiedene Zauber ausprobiert, um Samui von der Kreatur zu befreien, doch das Wesen war zu mächtig. Dann hat Samui uns plötzlich angegriffen. Malay hat versucht, ihn aufzuhalten. Doch als sie ihn berührte, sprang ein Teil der Kreatur auf sie über. Deine Mutter und ich wussten, dass sie verheerenden Schaden anrichten und Menschenleben fordern würde, falls es uns nicht gelingen sollte, sie aufzuhalten – ganz zu schweigen von der möglichen Ausbreitung der außerirdischen Plage auf andere Inseln. Also beschwor ich einen uralten Zauber herauf und verwandelte sie in Bäume“, erklärte er.
Ihre Mutter machte eine Handbewegung in Richtung der Rose. „Vor kurzem begannen die Ranken zu wachsen, und wir bemerkten, dass sich die Dunkelheit in den Blütenblättern der Rose ausbreitete. Wir glauben, dass die Kreatur stark genug geworden ist, um zu entkommen und sich einen neuen Wirt zu suchen“, sagte sie.
Gem betrachtete die Blume. Während der kurzen Zeit, in der sie sich unterhalten hatten, hatte das Schwarz das Rot fast verdrängt. Die Bewegung der Blütenblätter war fast hypnotisch. Sie musste ihre Finger zu einer Faust ballen, um der Versuchung zu widerstehen, die Blume anzufassen.
„Warum ist sie nicht von Magna auf jemanden anderen übergesprungen?“, fragte sie abwesend.
„Magna ist eine sehr mächtige Hexe. Das Wesen nutzt die Macht derer, von denen sie Besitz ergreift. Ich glaube, Magna hat die Gefahr gespürt und die Kreatur an sich gebunden, damit sie sich nicht ausbreiten konnte. So ähnlich wie Malay und Samui es gemacht haben, als sie sich in Bäume verwandelten haben. Sie haben ihre Macht vereint und die Kreatur in sich eingesperrt. Wenn wir eine Möglichkeit finden, die Kreatur herauszuziehen und einzudämmen, können wir Malay und Samui vielleicht retten, doch das muss bald passieren. Wenn nicht, sind wir womöglich gezwungen, ihr Leben zu beenden, um das Wesen zu vernichten. Denn wir können auf keinen Fall zulassen, dass es sich ausbreitet“, erklärte ihre Mutter mit stockender Stimme.
„Wenn diese Kreaturen so mächtig sind, wie ihr sagt, wäre es vielleicht besser, sie am Leben zu lassen.“ Beim Klang von Waymans tiefer Stimme drehten sich alle um.
„Was machst du denn hier?“, fragte Ruger.
Waymans Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. „Was wohl, Eure Majestät, ich bin Euer Berater“, antwortete er.
Gem sah mit wachsendem Unbehagen zu, wie Wayman den Garten betrat. Sein Blick war nicht auf sie gerichtet, sondern auf die verwandelten Gestalten von Samui und Malay. Sie stellte sich direkt vor ihn.
„Du bist hier nicht willkommen“, blaffte sie ihn an.
Wayman sah sie an. „Ich wüsste nicht, wo ich sonst sein sollte“, sagte er mit grimmiger Gewissheit und Gem fragte sich, ob es hier um mehr ging als um sein gekränktes Ego, weil sie ihn zurückgelassen hatten. Eine Bewegung in der Nähe der Gartentür lenkte sie einen kurzen Augenblick von Wayman ab.
„Verzeihung, Eure Majestäten, ich habe versucht, ihn davon abzuhalten, Euch zu folgen, aber ich habe ihn im Labyrinth aus den Augen verloren“, keuchte Samuel atemlos.
„Ich kümmere mich darum, Samuel“, beruhigte Ruger den alten Wachmann.
„Wayman, tu es nicht!“, rief Adrina entsetzt.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils nahm die Katastrophe vor Gems Augen ihren Lauf. Wayman streckte beide Hände aus und griff nach der inzwischen völlig schwarzen Rose. Sein Körper versteifte sich, und seine Augen weiteten sich. Schwarze Tentakeln wickelten sich um seine Arme und begannen, sich rasch um seinen Körper zu winden.
Ruger zog Gem und Adrina schnell von Wayman weg und schob sie hinter sich.
Adrina packte ihn am Arm. „Verwandle ihn, Ruger“, riet sie.
Wayman drehte sich zu ihr um. Seine Gesichtszüge waren hart und seine Augen schwarz wie eine mondlose Nacht. Ein Knurren entwich seinen Lippen, und er hob seine Hände.
„Ich bin frei!“ Waymans Lippen bewegten sich, doch der Ton, der herauskam, war rau, heiser, kalt und fremd.
Ihr Vater wollte etwas erwidern, doch bevor er die Gelegenheit dazu hatte, schossen lange, scharfe schwarze Speere aus Waymans Handflächen. Samuel sprang blitzschnell vor ihren Vater. Die Speere durchbohrten den Körper ihres geliebten Wächters, bevor sie ihn in die Luft hoben, wo er einen Moment lang herumbaumelte. Dann ließ der Außerirdische, der von Waymans Körper Besitz ergriffen hatte, ihn wie ein altes Kinderspielzeug fallen.
Gem streckte die Hand nach ihrem Freund aus und ihr entsetzter Schrei erfüllte die Luft: „Nein! Samuel!“
„Lauf!“, schrie ihr Vater.
Gem stolperte, als ihr Vater herumwirbelte und sie und Adrina durch die Gartentür schob. Er folgte ihnen, dann schlug er die Tür zu und murmelte einen heiseren Befehl. Als sie zurücktraten, sahen sie, wie sich die Ranken, die den Garten geschützt hatten, zu verwandeln begannen.
„Es breitet sich aus“, sagte ihre Mutter besorgt.
Gem nahm die Hand ihrer Mutter und zog sie auf den Pfad. Die Kreatur breitete sich tatsächlich aus – und die Ranken griffen gierig nach ihnen. Sie drehte sich zu ihrem Vater um, als sie bemerkte, dass er nicht neben ihnen war.
„Vater?“, rief sie.
Ruger wich zurück. Adrina streckte ihre Hand nach ihm aus. Sein Blick war auf die wachsende schwarze Masse gerichtet. Gem zischte, als die Mauern, die den Garten umgaben, plötzlich einstürzten und Wayman durch das Rankengeflecht trat. Ein verächtliches Grinsen umspielte seine Lippen.
„So fühlt sich wahre Macht an, Ruger. Du hättest sie annehmen sollen, anstatt zu versuchen, sie wegzusperren“, zischte Wayman.
„Wasser gefriere, halte ihn auf!“, befahl Ruger.
Gem beobachtete, wie sich Wassertropfen um Waymans Körper bildeten, bevor sie zu Eis gefroren. Im Inneren des Eises konnte sie die schwarzen Tentakeln zappeln sehen. Sie umklammerte den Arm ihrer Mutter fester, als die Ranken, die nach ihnen gegriffen hatten, sich zurückzogen. Hoffnung keimte in ihr auf, bis sie das bösartige Glitzern in Waymans Augen bemerkte.
„Vater, pass auf!“, rief Gem.
Sie stieß ihre Mutter zur Seite und machte einen Satz nach vorne. Schnell schlang sie ihre Arme um die Taille ihres Vaters und riss ihn von den Füßen, als das Eis zerbrach und Splitter scharfkantiger Eiskristalle auf sie zuflogen. Gem rollte sich auf die Knie, zog einen Dolch aus ihrem Stiefel und warf ihn durch die Luft. Die Klinge bohrte sich tief in Waymans Schulter und ließ ihn einige Schritte rückwärtstaumeln.
Dann rappelte Gem sich auf und half ihrem Vater auf die Beine, bevor sie sich zu ihrer Mutter umdrehte. Sie mussten von hier verschwinden. Die Kreatur kreischte vor Wut und streckte ihre Tentakeln aus, um den Dolch aus Waymans Schulter zu ziehen.
„Mutter!“, rief Gem panisch.
Adrina lag auf dem Boden, ein langer Eissplitter ragte aus ihrer Seite. Ein dunkler Blutfleck breitete um die Wunde herum aus und färbte den hellgrünen Stoff ihres Gewandes tiefrot. Gem kniete sich neben ihre Mutter und strich ihr über die Wange.
„Ruger, du musst – wir müssen – den Zauber der Ältesten sprechen. Das ist die einzige Chance, unser Königreich zu retten“, flüsterte Adrina.
Ruger hielt die Hand seiner Frau und nickte. „Gem, du musst die anderen Königreiche um Hilfe bitten. Wenn sie die Kreatur in Magna vernichten können, sind sie vielleicht in der Lage, hier dasselbe zu tun. Wenn nicht, dann warne sie vor dem, was auf sie zukommen wird“, befahl ihr Vater.
Stirnrunzelnd wandte Gem den Blick von dem blassen Gesicht ihrer Mutter ab und sah ihren Vater an. „Ich werde dich nicht allein lassen! Samuel …“, begann sie.
Ihr Vater fasste sie am Arm. „Du bist jetzt unsere einzige Hoffnung, Gem. Ich werde entlang des Weges Fallen aufstellen, um die Kreatur aufzuhalten, falls sie ausbrechen sollte, aber du darfst nicht zulassen, dass sie dich berührt. Geh!“, befahl ihr Vater mit strenger Stimme.
Gem wollte protestieren, doch ihr Vater war bereits dabei, den Zauber zu sprechen. Sie richtete sich auf, als sie sah, wie Nebelschwaden um ihn herum aufstiegen. Das Wesen – und Wayman – streckte einen Tentakel nach ihren Eltern aus. Instinktiv hob Gem ihre Hände und schloss das Labyrinth vor ihnen. Als sie sich zurückzog, sah sie, wie ihr Vater ihrer Mutter auf die Beine half. Die Stimme ihrer Mutter vermischte sich mit der ihres Vaters, als sie gemeinsam den Zauberspruch aufsagten.
Furcht und Trauer überkamen sie. Die schwarzen Ranken durchbrachen die Hecken, rissen sie aus dem Boden und warfen sie beiseite, während sie sich hungrig nach weiteren Wirten ausstreckten. Waymans Gesichtszüge wandelten sich von Holz zu Stein und wieder zurück zu Fleisch.
Sie entfernte sich immer weiter von ihren Eltern und Wayman und lief rückwärts, da sie befürchtete, dass die Kreatur sie angreifen könnte, wenn sie sich umdrehte. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Stimmen ihrer Eltern verstummten, als der Nebel sie einhüllte und ihre Körper sich auflösten. Das Verstummen ihrer Stimmen hielt den Zauber, den sie entfesselt hatten, jedoch nicht auf. Die Nebelschwaden wurden immer dichter und begannen sich auszudehnen.
„Komm zu mir, Gem, und akzeptiere dein Schicksal“, rief Wayman.
Gem schüttelte den Kopf, bekam vor Angst jedoch kein Wort heraus. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon, während sich der dunkelgraue Nebel des Ältestenzaubers weiter ausbreitete und in einer dicken Welle über den Boden rollte. Hinter sich hörte sie Waymans Wutgeheul, und wusste, dass die Kreatur gegen den Zauber ankämpfte, der sich langsam über die Insel ausbreitete.