Prolog
Die Insel der Elementargeister:
Drei Jahre zuvor
Auf den Fluren des Kristallpalastes herrschte frühmorgens reges Treiben, doch Prinzessin Gem Aurora LaBreeze, die den prächtigen Korridor entlangschritt, nahm den Trubel nur am Rande wahr. In Gedanken war sie noch immer bei dem Treffen, an dem sie am Abend zuvor teilgenommen hatte. Sie versuchte nach wie vor, alles, was sie gesehen und erfahren hatte, zu verarbeiten, bevor sie ihren Eltern davon berichtete.
Am schockierendsten war die Begegnung mit dem Drachenkönig gewesen! Das Letzte, was sie gehört hatte, war, dass Drago die gesamte Dracheninsel in einen tödlichen Nebel gehüllt hatte, nachdem die Meerhexe seine Familie und alle seine Untertanen in Stein verwandelt hatte. Seitdem war er von der Bildfläche verschwunden – bis gestern Abend, als er an dem Treffen der Herrscher und Vertreter teilgenommen hatte – und das nur, weil eine Frau aus einer anderen Welt aufgetaucht war und alles verändert hatte.
Nali, die Kaiserin der Monster, hatte behauptet, dass diese Frau, Carly Tate, eine Kette von Ereignissen in g**g gesetzt hatte. Angeblich sollten die Königreiche dadurch zusammengeführt werden und „die außerirdische Kreatur“ vernichten. So nannten sie das böse Wesen, das von Magna, der Meerhexe, Besitz ergriffen hatte und sie zwang, die Sieben Königreiche in Angst und Schrecken zu versetzen.
Da sie seit Jahrhunderten nicht über ihren freien Willen verfügen konnte, hatten die anderen Teilnehmer der Versammlung dafür gestimmt, das Leben der Meerhexe wenn möglich zu verschonen. Gem war als Einzige dagegen gewesen. Sie wusste noch nicht, warum ihre Eltern so hartnäckig darauf bestanden hatten, dass sie unter allen Umständen für Magnas Tod stimmen musste, doch sie war sich sicher, dass sie nicht sonderlich erfreut sein würden, wenn sie ihnen die Entscheidung mitteilen würde, die auf der Versammlung gefällt worden war.
Gems Miene hellte sich auf, als sie den alten Wachmann sah, der schützend vor einer prächtigen Doppeltür stand. Der Wächter senkte respektvoll den Kopf und öffnete die Tür zum Konferenzraum, als sie sich näherte. Die prunkvollen Schnitzereien an den Türen erzählten die Geschichte der Elementargeister. Sie streckte die Hand aus und ließ ihre Finger liebevoll über die Oberfläche der einen Tür gleiten.
„Eure Eltern erwarten Euch bereits, Prinzessin. Aber seid gewarnt: Der Hochkanzler ist bei ihnen“, flüsterte der Wächter.
„Danke für die Warnung, Samuel“, antwortete Gem mit einem schiefen Lächeln.
„Es ist mir ein Vergnügen, Lady Gem. Außerdem werde ich ein ernstes Wort mit den jungen Wachen reden müssen. Ihr Verhalten ist vollkommen inakzeptabel. Ich glaube, Ihr habt allein durch Eure Ankunft heute Morgen schon mehr als ein Herz gebrochen, ohne es zu merken“, antwortete Samuel mit blitzenden Augen.
Als sie einen Blick über ihre Schulter warf, bemerkte sie, dass mehrere junge Wachmänner mit einem zaghaften Lächeln in ihre Richtung schauten. Sie gluckste und schüttelte den Kopf, als einer der jungen Männer errötete und ihr ein breites Grinsen zuwarf. Unter Samuels strengem Blick zog sich die Gruppe schnell in verschiedene Richtungen zurück und sie wandte sich wieder dem älteren Wachmann zu.
„Neue Rekruten, es ist jedes Mal das Gleiche. Sie sind heute zum ersten Mal im Palast. Ich wollte, dass sie einen Einblick in die täglichen Abläufe bekommen. Sie werden den Rest des Tages nur noch von dir reden“, sagte er und schüttelte amüsiert den Kopf.
„Ich mache das absichtlich, um dich bei Laune zu halten. So hast du etwas, weswegen du sie schimpfen kannst“, stichelte sie.
Gem lächelte immer noch, als sie den Konferenzraum betrat. Samuel war der persönliche Leibwächter ihrer Eltern gewesen, so lange sie denken konnte. Sie hatte unzählige Stunden damit verbracht, ihn über die verschiedenen Szenen auf den Türen auszufragen, und er hatte ebenso viele Stunden damit verbracht, ihre die fesselnde Geschichte der Insel der Elementargeister zu erzählen. Außerdem hatte er ihr den Umgang mit einem Schwert beigebracht.
Das Lächeln auf ihren Lippen verblasste, als sie den Hochkanzler mit ihren Eltern sprechen sah. Es spielte keine Rolle, dass er ihr entfernter Cousin war, sie konnte ihn nicht leiden. Außerdem traute sie ihm nicht. Selbst als sie noch Kinder gewesen waren, war sie Wayman möglichst aus dem Weg gegangen. Es war ihr ein Rätsel, warum ihre Eltern beschlossen hatten, ihm nach dem frühen Tod seiner Eltern eine so mächtige Position zu geben.
Als sie den Raum durchquerte, wandte Gem den Blick von Wayman ab und konzentrierte sich stattdessen auf das amüsierte Funkeln in den Augen ihrer Mutter. Königin Adrina LaBreeze hob eine Augenbraue, und Gem rang sich ein Lächeln ab und nickte dem Hochkanzler höflich zu, als er sie abschätzig musterte. Sie blickte dem widerwärtigen Mann gelassen in die Augen, wobei sie darauf achtete, dass ihr heiteres Lächeln nicht wankte. Wie üblich flammte in den Augen ihres Cousins Zorn auf, bevor er wegschaute. Der Mistkerl hatte noch einen weiten Weg vor sich, bevor er es ihm gelingen würde, sie einzuschüchtern.
„Willkommen zu Hause, Liebling“, begrüßte ihre Mutter sie herzlich.
Gem blieb vor ihrer Mutter stehen und küsste sie kurz auf beide Wangen, bevor sie dasselbe bei ihrem Vater machte. Ihr Vater hielt ihre Arme noch einen Augenblick lang fest, bevor er sie losließ. Sie ignorierte Wayman. Wenn es einen Weg gab, ihren Cousin zu ärgern, dann war es, ihm die Aufmerksamkeit und Macht zu verweigern, nach der er sich so sehr sehnte.
„Ist die Reise gut verlaufen?“, erkundigte sich ihr Vater leise.
Gem senkte den Kopf. „Es war interessant“, antwortete sie ausweichend.
Sie warf Wayman einen Blick zu. Sie würde ihren Eltern später von der Versammlung berichten. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie mit Informationen in Anwesenheit ihres Cousins äußerst vorsichtig sein sollte. Wenn ihre Eltern beschlossen, Wayman mitzuteilen, wo sie gewesen war und was dort besprochen worden war, dann war das ihre Entscheidung.
„Ich wusste gar nicht, dass du die Insel verlassen hast, Gem. Soweit ich weiß, gibt es immer noch eine strenge Beschränkung für Reisen“, bemerkte Wayman spitz.
Gem zuckte mit den Schultern. „Meine Reise ist vom König und der Königin genehmigt worden, Wayman. Daher habe ich keinen Grund gesehen, dir meine Reisepläne mitzuteilen“, entgegnete sie.
Waymans Augen verengten sich und er schürzte die Lippen, bevor er leise erwiderte: „Wie unsere Majestäten wünschen, natürlich.“ Er neigte seinen Kopf ehrerbietig zu König Ruger und Königin Adrina.
Gem sah ihre Mutter an, als sie eine Berührung an ihrem Arm spürte. Erst da bemerkte sie, dass sie den Griff ihres Schwertes umklammerte. Ihr Cousin hatte schon immer den Wunsch in ihr geweckt, herauszufinden, ob sein Blut rot oder schwarz war.
„Wayman, wir werden unser Gespräch später fortsetzen. Wir wären gerne ein bisschen mit unserer Tochter allein“, erklärte ihre Mutter freundlich.
Wayman erstarrte, als ihre Mutter ihn entließ. Er machte eine knappe Verbeugung vor ihren Eltern und warf ihr einen skeptischen Blick zu. Gem drehte sich lässig um und sah zu, wie er schweigend zu einem Ausgang auf der linken Seite des Raumes ging, der sich hinter einem großen Wandteppich befand.
Sie wartete, bis sie hörte, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde, bevor sie sich wieder ihrer Mutter zuwandte. Ihr Vater gluckste und Gem schnaubte.
„Ich weiß nicht, warum ihr euch mit diesem wertlosen Stück –“, murrte sie verächtlich.
„Manchmal ist es besser, Leute, denen man nicht traut, in der Nähe zu behalten“, antwortete König Ruger mit einem Seufzer.
Gem sah ihren Vater überrascht an. „Ich wusste nicht, dass du so denkst“, sagte sie.
„Er ist schon immer nach seinem Vater gekommen, fürchte ich“, antwortete ihr Vater.
Ihre Mutter schnaubte unwirsch, bevor sie das Thema wechselte. „Was hast du erfahren?“, fragte ihre Mutter.
Gem sah ihre Eltern mit tiefer Besorgnis an. „Die anderen wollen versuchen, Magna zu fangen. Nali hat davor gewarnt, sie zu töten. Drago –“
„Drago!“, riefen ihre Eltern wie aus einem Munde.
„Der Drachenkönig ist zurückgekehrt?“, fragte ihr Vater.
Gem nickte. „Ja. Er hat jetzt anscheinend eine Frau. Sie stammt nicht aus unserer Welt“, erklärte sie.
„Nicht …“, begann ihre Mutter und legte interessiert den Kopf schief.
„Erzähl uns von ihr“, drängte ihr Vater.
Gem dachte an Carly Tate. „Sie ist unglaublich freundlich und liebenswert. Und sie sieht den Leuten aus unserer Welt ziemlich ähnlich. Allerdings scheint sie nicht über Zauberkräfte zu verfügen. Nali meinte, dass ihre Anwesenheit eine Reihe von Ereignissen ausgelöst hat, die unsere Welt retten werden – vorausgesetzt, Drago bringt Magna nicht um“, berichtete sie.
Die Stirn ihrer Mutter legte sich in Falten. „Nali hat den Spiegel der Göttin. Sie muss es wissen“, bestätigte sie.
„Aber warum sollte sie ihnen sagen, dass sie Magna nicht töten sollen? Wenn die Meerhexe tot ist, sollten die Königreiche doch wieder sicher sein“, gab ihr Vater zu bedenken.
Gem schüttelte den Kopf. „Nali sagte, dass Magna diese Dinge nicht selbst tut, sondern eine außerirdische Kreatur, die Besitz von ihrem Körper ergriffen hat. Nali glaubt, dass Magna die Kreatur bekämpft“, sagte sie.
„Eine Kreatur wie – “, flüsterte ihre Mutter und sah Ruger mit besorgter Miene an.
„Was ist?“, fragte Gem.
„Wie sieht dieses außerirdische Wesen aus?“, erkundigte sich ihr Vater leise.
Gem runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht. Nali sagte, es sei vom Himmel gefallen, und sie habe einen schwarzen Schatten über Magna gesehen. Warum? Wisst ihr etwas darüber?“, fragte sie.
Ihre Eltern wechselten einen Blick, bevor sie sich wieder ihr zuwandten. Ihr Vater griff nach der Hand ihrer Mutter und drückte sie.
„Komm mit uns“, wies ihr Vater sie leise an.
Gem nickte und folgte ihren Eltern schweigend aus dem Konferenzraum. Sie war überrascht, als sie nach draußen gingen. Sie hielt kurz inne und schaute sich um. Sie hatte das unangenehme Gefühl, dass sie beobachtet wurden.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie, als sie sich wieder zu ihren Eltern umdrehte, die die Treppe zu den Gartenanlagen hinuntergingen.
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. „Es ist besser, wenn wir es dir zeigen“, antwortete sie leise.
Erstaunt über das Verhalten ihrer Eltern, folgte Gem ihnen die Treppe hinunter und auf den Pfad, der durch die Gärten führte. Inmitten eines riesigen Labyrinths befanden sich einzelne, mit Efeu bewachsene Gärten, die alle einem Thema gewidmet waren.
Ihre Mutter liebte den Rosengarten, während ihr Vater die Wüstenkakteen bevorzugte. Sie selbst liebte den Nachtblumen-Garten. Sie folgte ihnen durch das Labyrinth. Die hohen Hecken, die die Wege säumten, wechselten ständig. Die einzige Konstante waren die acht ummauerten Gärten.
Sie hatte Jahre gebraucht, um sich die winzigen Nuancen im Energiefeld einzuprägen, die sie durch das Labyrinth zu jedem der Gärten führten. Sie blickte auf ihre Hände hinunter. Ein reumütiges Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie bemerkte, dass sie unbewusst ihre Handflächen erhoben hatte, um die Energieimpulse zu spüren.
Sie verlangsamte ihren Schritt, als ein ungewohnter Impuls sie nach links zog. Als sie aufblickte, sah sie, dass ihre Mutter stehengeblieben war und sie mit einem traurigen Lächeln anblickte.
„Was ist das? Es fühlt sich fast an wie …“ Sie schüttelte den Kopf, unfähig, das Gefühl zu benennen.
„Trauer, Schmerz …“, erklärte ihre Mutter.
Gem sah ihre Mutter verwirrt an. „Ja“, antwortete sie.
Ihre Mutter hielt ihr die Hand hin. Gem legte ihre Hand in die ihrer Mutter und sie bogen um die Ecke des Labyrinths. Ihr stockte der Atem, als sie den Lieblingsgarten ihrer Mutter sah. Wilde mit scharfen Dornen besetzten Ranken wucherten darin.
„Was ist passiert?“, fragte Gem mit kaum hörbarer Stimme.
„Wir sollten lieber in den Garten gehen, bevor wir darüber sprechen“, antwortete ihr Vater.
Adrina streckte die Hand aus und murmelte den Ranken etwas zu. Dann hob sie ihre Hand und einer der Ausläufer wickelte sich um ihre Fingerspitze. Ein scharfer Dorn strich über die Fingerkuppe und ein Blutstropfen sickerte heraus. Erst als die Ranke ihre Mutter erkannte, zog sie sich so weit zurück, dass eine Öffnung in der Tür entstand.