Jersula Ikera stapfte schlecht gelaunt durch den weichen Sand. Das dünne, dunkelblaue seidige Gewand, das sie trug, schmiegte sich an ihren Körper und wehte hinter ihr. Aus der Ferne könnte man den Eindruck haben, als würde sie über die feinen weißen Kristalle, aus denen der Sandstrand bestand, schweben.
Sie trug ihr langes weißes Haar offen und es wehte im Wind. Die eisblauen Augen blitzten mit einem ungewöhnlichen Feuer und ihre hellblauen Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Sie war an den Strand gekommen, um für eine Weile allein zu sein. Zumindest so lange, bis sie ihre Balance wiedergefunden hatte und die ruhige Maske, die sie brauchte, um mit anderen zu agieren, wieder aufsetzen konnte.
Ein schneller, prüfender Blick verriet ihr, dass der Strand leer war. Jersula, von ihrer Familie und ihren wenigen engen Freunden Sula genannt, atmete erleichtert auf. Endlich konnte sie in Ruhe über die Befehle nachdenken, die sie heute früh erhalten hatte. Sie gefielen ihr nicht und Sula wusste, dass sie etwas von dem Frust in sich abbauen musste, wenn sie den Tag überstehen wollte, ohne einen Fehler zu begehen, der ihre Karriere zerstören könnte.
»Warum? Warum schicken sie mich zurück an diesen schrecklichen Ort? Hat das eine Mal nicht gereicht? Wen habe ich so verärgert, dass sie mich schon wieder dorthin schicken?«, schimpfte sie leise.
Ihr fielen Dutzende Personen ein, die dafür verantwortlich sein könnten. Sie wusste, dass ihre eisige, reservierte und manchmal etwas direkte Art bestimmte Mitglieder des usoleischen Rates verärgert hatte, aber sie lag mit ihren Einschätzungen immer richtig! Es war nicht ihre Schuld, dass die meisten politischen Mitglieder des Rates liebenswerte, verwirrte Personen waren, die sich auch in einem Wurmloch verlaufen würden.
Sula warf einen Blick zurück auf ihren Transporter, um zu sehen, wie weit sie sich entfernt hatte. Nicht sehr weit. Wie es aussah, war Stapfen nicht der schnellste Weg, sich fortzubewegen.
Der kleine Transporter schimmerte im Sonnenlicht. Sie hatte ihn erhalten, als sie vor sechs Wochen auf Rathon angekommen war. Sie hatte gehofft, zur Botschafterin zwischen ihrem Volk und den Trivatoren ernannt zu werden, aber diese Hoffnung war brutal zerstört worden, als heute Morgen, noch vor Tagesanbruch, die neuen Befehle eingetroffen waren.
»Aber nein, ich muss zu dieser armseligen, vom Krieg zerrissenen Entschuldigung von einem Planeten zurück, auf dem nur Wilde leben! Zu diesen unkultivierten, feindlichen, brutalen Wesen, die bis vor ein paar Jahren noch keine Ahnung von Leben auf anderen Planeten gehabt hatten! Sie haben bisher noch nicht mal die Raumfahrt gemeistert«, brummte sie frustriert, bevor sie ihre Schritte verlangsamte und zornige Tränen wegblinzelte. »Sie sind primitive Monster!«
Ihre Wut erreichte den Siedepunkt, als sie an ihren Besuch auf der Erde dachte. Als sie das letzte Mal auf diesem primitiven Planeten Namens Erde gewesen war, war es ihre Aufgabe gewesen, die Situation, die der zuvor getötete Botschafter hinterlassen hatte, zu bewerten. Es war unmöglich gewesen, irgendetwas zu tun, da sie keinerlei Unterstützung von den Trivatoren oder den Menschen erhalten hatte.
Sie hatte zwei Wochen warten müssen, ehe die Trivatoren ihr überhaupt Zugang zu Ratsmitglied Badricks Raumschiff gewährt hatten. Als sie es dann endlich betreten durfte, war die vorherige Besatzung entfernt und durch eine neue Besatzung ersetzt worden. Alle Berichte und persönlichen Aufzeichnungen von Ratsmitglied Badrick waren verschwunden. Das Einzige, was Sula vorgefunden hatte, war eine ahnungslose Crew, ein Trivator namens Cutter, der sie argwöhnisch beäugt hatte und ein Menschenmann, der sie bei ihrer einzigen Begegnung mit einem verächtlichen Ausdruck im Gesicht ignoriert hatte! Erst viel später hatte sie die Gründe für die Feindseligkeit des Menschen und der Trivatoren ihr gegenüber herausgefunden. Diesmal konnte sie die Tränen des Frusts nicht wegblinzeln. Genervt hob sie eine Hand und wischte sie weg.
Sula hatte dem Rat und ihrem Vater ihre Erkenntnisse über Badrick gemeldet, und war bereits wenige Wochen nach ihrer Ankunft auf der Erde wieder auf ihren Heimatplaneten Usoleum zurückgerufen worden. Sie hatte geglaubt, dass man sie auf die Position des Botschafters im Hauptquartier der Allianz vorbereiten wollte und hatte Tag und Nacht an einer Vielzahl von Problemen gearbeitet, aber es war alles umsonst gewesen. Sie hatte einen versteckten Speicher mit Badricks Dateien entdeckt, und kurz nachdem sie dies gemeldet hatte, war sie nach Rathon geschickt worden. Hier sollte sie mit den Trivatoren zusammenarbeiten, um so viele Informationen wie möglich aus diesen Dateien herauszuholen und die Beziehung zwischen den Usoleern und Trivatoren zu verbessern, nachdem Badrick mit seinem unverantwortlichen Verhalten so viel Schaden angerichtet hatte. Ein Verhalten, das Schande über ihre Familie gebracht hatte.
Es gab Unmengen an Dateien zu untersuchen, und in der Zwischenzeit hatte sie sich in den letzten sechs Wochen an ihren Auftrag gehalten und den Trivatoren die Füße geküsst. Das allein hätte dem usoleischen Rat schon zeigen sollen, dass sie hier auf diesem Planeten eine hervorragende Botschafterin für den trivatorischen Rat sein würde. Aber wieder einmal hatte man ihre Hoffnungen zerschlagen. Sula war die einzige Usoleerin, die schon einmal auf der Erde gewesen war, also wurde sie wieder dorthin versetzt, um ihre ursprüngliche Aufgabe zu erledigen: das Chaos beseitigen, das Badrick hinterlassen hatte, und das nach fast zwei Erdenjahren! Wenn sie eine halbwegs erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Menschen erreichen wollte, musste sie in diesen Dateien nützliche Informationen finden. Wenn sie von den Menschen auch nur ein bisschen Vertrauen und Entgegenkommen wollte, musste sie in der Lage sein, die Frage zu beantworten, die alle stellten: Wo waren die restlichen vermissten Menschenfrauen?
Sula blieben noch ein paar Tage auf Rathon. Um die Trivatoren und die Allianz zu beruhigen und ihnen zu versichern, dass alles unter Kontrolle war, würde sie an einer Zeremonie zwischen einem Familienmitglied von Kanzler Razor und einem Trivatorkrieger teilnehmen, die in ein paar Stunden beginnen würde. Wenn sie es nicht schaffte, vor der Zeremonie ihre Emotionen unter Kontrolle zu bekommen, würde es um ihre Karriere noch schlechter stehen als bisher.
»Das ist eine Beleidigung!«, zischte Sula und verdrängte ihr weinerliches Elend mit dem Zorn, den sie schon vorher gespürt hatte. »Wenn Vater meint, meine Brüder sind so viel bessere Diplomaten als ich, dann sollte einer von ihnen derjenige sein, der an dieser Zeremonie teilnimmt! Wenn es ein Problem gibt, dann schicken sie mich. Vater weiß, dass ich für die Position des Botschafters mehr als qualifiziert bin. Aber nein, er gibt sie Sirius, dem Nachkommen, der am wenigsten dafür qualifiziert ist. Alles, was Sirius interessiert, ist es, Frauen hinterherzujagen, mit denen er sowieso nichts anfangen kann, und Glücksspiel! Er ist nicht einmal in der Lage, sich um die Renntiere im Stall zu kümmern, geschweige denn der Botschafter bei den Trivatoren zu sein«, schimpfte Sula und fuchtelte mit den Händen in der Luft.
Sie seufzte schwer und trat durch den engen Durchgang im Felsen. Sie blickte für einige Sekunden auf das Wasser, das von einer kleinen Bucht geschützt wurde, bevor sie auf die beruhigenden Wellen zuging. Sie vermisste ihre Welt, die hauptsächlich aus Wasser bestand. Ihr Volk wurde in den wunderschönen Meeren dort geboren, und obwohl sie an Land lebten, fanden sie im Wasser Trost.
Sulas Hand glitt zum Verschluss ihres Kleides. Sie öffnete es und das Kleidungsstück fiel in den Sand. Darunter trug sie einen figurbetonten dunkelblauen Schwimmanzug. Sie spreizte ihre Finger und die feinen Schwimmhäute zwischen ihnen breiteten sich aus, wie kleine Netze. Dann trat sie einen Schritt vor und genoss den ersten Kontakt des Wassers auf ihrer Haut. Das wohlige Gefühl durchströmte sie, kühlte ihre Wut und beruhigte ihre Verzweiflung.
Ihr Blick schweifte über das Wasser. Die Wellen schlugen fast zweihundert Meter vor der Küste gegen das Riff auf. Es wäre nur eine kurze Strecke für sie, aber sie konnte sie mehrmals schwimmen, bevor sie zu ihrer momentanen Unterkunft zurückkehren musste, um sich auf die Zeremonie vorzubereiten. Sula ging langsam vorwärts, bis sie tief genug war, um unter die Oberfläche zu sinken.
Die beiden fast unsichtbaren Schlitze an ihrem Hals öffneten sich und sie zog Wasser durch ihre Kiemen. Ihre zweite Lunge wurde mit lebensspendender Kraft gefüllt und löste den im Wasser gebundenen Sauerstoff. Sie liebte es, in der Nähe des Ozeans zu leben und zu arbeiten. Als sie an ihren nächsten Auftrag dachte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Er war so weit von den großen Ozeanen, die den größten Teil der Erde bedeckten, entfernt. Es gab einen langen, schmalen See, aber es war nicht dasselbe. Sie würde regelmäßig Ausflüge an die Küste unternehmen müssen, um das Verlangen ihres Körpers nach salzigem Wasser zu stillen.
Ich werde oft schwimmen müssen, nur um diesen arroganten Kerl nicht zu töten, wenn er noch da sein sollte, dachte Sula. Vielleicht habe ich Glück und er ist schon tot und wurde durch einen vernünftigeren Menschen ersetzt.
Sie bereute ihren hasserfüllten Gedanken. Das war so untypisch für sie. Sie hasste den Gedanken, irgendetwas oder irgendjemanden zu verletzen. Ihre sechs älteren Brüder zogen sie deswegen auf und sagten, dass es genau aus diesem Grund lächerlich war, überhaupt darüber nachzudenken, ein Mitglied des Rates der Allianz zu werden.
Sula verdrängte die negativen Überlegungen und verlor sich in dem wohligen Gefühl vom Ozean eingehüllt zu sein. Sie stieß ihren Körper vom Grund ab und glitt durch die kristallklare Flüssigkeit wie ein Laserstrahl durch Stahl. Um sie herum war eine Welt aus bunten Fischen und Pflanzen, die nur wenige zu schätzen wussten.
Die Bucht war vor den größeren Meereslebewesen, die auf der anderen Seite des Riffs lebten, geschützt. Sie hatte sich über Rathons ozeanische Umgebung informiert und beschlossen, dass es am besten wäre, innerhalb der geschützten Barrieren der Küste zu bleiben. »Der einzigartige Zaun der Natur«, wie Sula es gerne nannte.
Sie fing an sich wieder wie sie selbst zu fühlen, wieder mehr mit sich in Einklang. Doch plötzlich wurde sie von der Sehnsucht überwältigt, einfach loszulassen und für ein paar Minuten nur frei zu sein. Nicht nur, um sich von ihren bitteren Gedanken zu befreien, sondern von etwas Undefinierbarem. Zum Teufel mit der Überzeugung ihres Vaters, dass sie nicht in der Lage war, mit dem Stress umzugehen, den ein führendes Mitglied des usoleischen Rates oder der Allianz erfuhr. Sie wusste, dass sie es könnte, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekommen würde.
Sie schloss die Augen, drehte sich auf den Rücken und ließ ihren Körper langsam auf den Grund sinken. Sie entspannte ihre Arme und ein seliges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Vielleicht sollte sie die Zeremonie einfach vergessen und den ganzen Tag hierbleiben. Es war ja nicht so, dass ihre Anwesenheit wichtig gewesen wäre. Niemand, schon gar nicht der Trivator und seine menschliche Gefährtin, würde sie vermissen.
Endlich konnte Sula den Frieden, nach dem sie gesucht hatte, spüren, als ihr Körper dicht über dem weichen, weißen Sand schwebte. Das Licht der aufgehenden Sonne erzeugte funkelnde Strahlen, die von den silbernen Fäden in ihrem Anzug reflektiert wurden und sie wie Diamanten funkeln ließen. Sie hatte keine Ahnung, wie überirdisch sie auf dem weichen Grund des Ozeans aussah, oder dass sie nicht allein war.