Die Zwergin kämpfte sich auf die Beine und drückte sich mit dem Rücken gegen die kalte Metallwand. Die Schreie und Schüsse, die von drinnen kamen, übertönten das, was hier draußen geschah. Es hörte sich an, als ob in der Lagerhalle Krieg herrschte.
Entsetzen erfasste sie, als der Mann, der sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, sich umdrehte und Ricks Körper wie eine schlaffe Puppe vor sich baumeln hielt, als Manny mehrere Schüsse abfeuerte. Rick zuckte zusammen, als jeder Schuss seinen Körper durchbohrte.
Die Zwergin wartete darauf, dass ihr Retter zusammenbrach. Sie war sicher, dass die Kugeln Ricks Körper regelrecht durchsiebt haben mussten. Sie wurde stockstarr, als der Mann Ricks Körper zur Seite warf, als wäre er eine Schaufensterpuppe.
Sie sah zu den anderen Schützen. Mannys Waffe klemmte, und er griff nach einer anderen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ihr Retter Manny die Waffe abgenommen; dann nahm er Mannys Kopf zwischen beide Hände und riss ihn mit großer Kraft zur Seite. Die Zwergin hörte trotz des Chaos, das in dem Gebäude hinter ihr herrschte, das unangenehme Knacken.
Angst ergriff die Zwergin, als der Mann in Schwarz sich zu ihr drehte und dabei ein Schwert aus seiner Hüfte zog. Im flackernden Licht, das durch das Fenster fiel, konnte sie seine Gesichtszüge erkennen. Seine silbernen Augen glühten, und sein Mund …
Sie schluckte. Er sah aus wie die außerirdischen Vampire aus einer Comicserie, die sie gern las. Der Kerl sah jung aus, nicht viel älter als sie, doch damit endeten die Gemeinsamkeiten auch schon.
Die Instinkte von Kampf oder Flucht machten sich bemerkbar, und da sie wirklich keine Todessehnsucht hatte, beschloss sie, davonzulaufen. Sie schnappte sich ihren Rucksack und rannte los. Das leise, animalische Knurren hinter ihr ließ ihre Füße regelrecht fliegen, und sie rannte, als ob ihr die Höllenhunde auf den Fersen wären.
Als sie um die Ecke bog, streckte sie die Hand aus und riss einen Stapel Metallstangen herunter, die an das Gebäude gelehnt waren. Das laute Klirren von Metall auf Beton übertönte alle anderen Geräusche, zumindest so lange, bis der Typ, der ihr folgte, sich durch die Gitterstäbe kämpfen musste.
Sie rannte über den Parkplatz zum nächsten Lagerhaus. Dieses Gebäude hatte Löcher in den Zäunen, durch die sie entkommen konnte und die so klein waren, dass er auf keinen Fall hindurchpassen würde. Zudem gab es Bereiche unter den Lagerhallen, die nur sie und die Ratten kannten. Das Schöne, dass sie kleiner als der Durchschnitt war, bestand darin, dass sie dorthin gelangen konnte, woran die meisten Menschen nicht einmal im Traum dachten.
Die Zwergin spürte, dass er langsam zu ihr aufschloss. Die große Schwingtür war einen Spalt offen, so weit es die Kette zuließ. Adrenalin strömte durch ihre Adern. Sie hielt ihren Rucksack in einer Hand, drehte sich zur Seite und duckte sich unter der Kette hindurch. Sie schlüpfte rasch durch die schmale Öffnung und murmelte dann einen Fluch, als ihre Strickmütze an der Kette hängenblieb und ihr vom Kopf rutschte.
Sie drehte sich um und schnappte sich die Mütze, Sekunden bevor der Mann die Tür erreichte. Sie zog sich die Mütze wieder über den Kopf, stolperte rückwärts und sah ihn mit großen, trotzigen Augen an. Er starrte sie durch die Öffnung ebenfalls an.
„Du wirst mir nicht entkommen“, schwor er.
Die Zwergin schnaubte. Das hatte sie schon oft gehört – sehr oft. Bis jetzt hatte sie allen das Gegenteil bewiesen. Sie beobachtete, wie er die Türen griff. Die Kette war d**k. Es gab keine Möglichkeit, hindurchzukommen, es sei denn, er zerbrach entweder die Kette oder die Tür. Da beides unwahrscheinlich war, nahm sie sich ein paar Sekunden Zeit, um Luft zu holen und ihn anzusehen.
Seine Lippen waren leicht geöffnet, und aus der Nähe konnte sie erkennen, dass seine Eckzähne länger waren als normal. Entweder stand der Typ auf Gothic-Outfits und hatte sich Implantate machen lassen, oder er war der Ansicht, sich wie ein Vampir zu kleiden würde ihm übernatürliche Kräfte verleihen. Sie beschloss, dass es entweder das eine oder das andere sein musste, denn ihr erster Gedanke war zu weit hergeholt, und zwar buchstäblich!
Sie schüttelte den Kopf. Jetzt reichte es! Dieser Kerl hatte gerade zwei Menschen getötet.
Nun, eigentlich hat er nur einen getötet, doch das war einer mehr, als ich miterleben wollte, entschied sie.
Es war Zeit, zu verschwinden. Es würde nicht lange dauern, bis dieser Kerl einen anderen Weg in das Gebäude fand. Die Schwingtüren mit der Kette würden ihn vielleicht aufhalten, doch es gab mindestens ein Dutzend andere Möglichkeiten hineinzugelangen, wenn es einem nichts ausmachte, die ein oder andere Tür einzutreten oder durch ein Fenster zu klettern.
Sie behielt ihn im Auge und ging langsam von der Tür weg. Als sie einige Meter von ihm entfernt war, drehte sie sich um und begann wieder zu laufen. Sie war bereits auf halbem Weg zur anderen Seite, als ein lautes Kreischen von Metall auf Metall sie über ihre Schulter schauen ließ. Fassungslos riss sie die Augen auf, als sie sah, wie sein Schwert die dicke Eisenkette durchschlug. Er lächelte sie bedrohlich an, während er eine der schweren Metalltüren beiseiteschob.
Er drehte die lange Klinge in seiner Hand. Die Zwergin stieß einen leisen Fluch aus, dann drehte sie sich um und floh auf die andere Seite des Lagerhauses. Sein Gebrüll hallte durch den großen, leeren Raum, und zahlreiche saftige Flüche, die sie von ihrem Vater gelernt hatte, schossen ihr durch den Kopf, als sich die Verfolgung fortsetzte.
Die Zwergin überlegte, wo sie sich in diesem Lagerhaus und auf dem Hinterhof verstecken könnte. Es gab ein klaffendes Loch in der Wand des Bürobereichs, durch das sie schlüpfen konnte. Die untere Wand war aus Beton und hatte ein Loch, in dem früher ein Safe stand, der irgendwann herausgerissen wurde.
Sie schlug mit der Schulter gegen die Tür. Die Metalltür schwang heftig nach innen, knallte an die Wand und schlug schließlich wieder zu. Sie stürzte und rutschte über die Oberseite des Metalltisches und landete auf der anderen Seite. Ein klaffendes, etwa einen Meter breites Loch führte nach draußen.
Sie ließ sich auf die Knie fallen, schob ihren Rucksack durch die Öffnung und begann verzweifelt, hindurchzukriechen. Sie schrie erschrocken auf, als ihr Verfolger ihren Fußknöchel packte und daran zerrte. Sie spürte seine warmen Finger sogar durch ihre Socken und Jeans hindurch. Sie wälzte sich herum und trat den Mann so fest sie nur konnte.
Er stieß einen Schmerzensschrei aus und ließ ihren Knöchel los, um sich an die Nase zu fassen. Sie schlüpfte durch die Öffnung und hatte gerade ihre Lippen geöffnet, um dem Bastard zu sagen, wo er sich hin scheren könne, als sie einen silbernen Schimmer an einem dünnen Stückchen Stromkabel sah, das aus dem rauen Beton ragte, über den sie gerade gegangen war. Sie zog ihren Handschuh aus, griff sich an den Hals und suchte verzweifelt nach der Halskette, die sie getragen hatte. Sie war nicht mehr da. Sie konnte sie nicht zurücklassen! Die Kette war das letzte Geschenk ihrer Mutter. In dem Medaillon befand sich ein Bild, dass sie und ihre Mutter zeigte.
Sie stürzte nach vorne und griff nach der feinen Kette, doch bevor sie die Hand wieder zurückziehen konnte, umklammerten seine starken Finger ihr Handgelenk und zogen sie nach vorne. Sie stützte sich mit der freien Hand an der Wand ab und versuchte, sich zu befreien.
„Lass mich los!“, zischte sie wütend.
Stattdessen umklammerte er ihr Handgelenk noch etwas fester, und sie sahen einander in die Augen. Für einen Moment war die Zwergin von den silbernen Augen des Mannes fasziniert.
„Du bist ja eine Frau!“, stellte er sichtlich schockiert fest.
Einen Moment lang starrten sie sich durch das Loch in der Wand an. Sie zerrte an ihrem Arm, und er lockerte seine Finger gerade so weit, dass sie über den groben Stoff ihres Mantels glitten und ihre nackte Handfläche berührten. Ein erschrockener Schrei entwich ihren Lippen.
Es fühlte sich an, als hätte er ihr einen Stromschlag verpasst! Er muss es auch gespürt haben, denn er zog schnell seine Hand zurück. Sie entfernte sich aus seiner Reichweite, starrte ihn jedoch weiterhin an.
„Was bist du?“, fragte sie, ihre Worte klangen eher neugierig als ängstlich.
Er blickte auf seine Handfläche hinunter, bevor er sie mit Augen ansah, in denen silberne Flammen glühten. Er lächelte sie an, und sie konnte seine spitzen scharfen Zähne sehen. Das war nicht irgendein Kerl, der sich als seine Lieblingsfigur verkleidet hatte. Nein dieser Kerl hier war echt – und er war kein Mensch.
„Ich bin Derik 'Tag Krell Manok, und du, kleines Menschenkind, bist meine Gefährtin“, erklärte er.
Seine leise, akzentuierte Stimme war warm und ehrfürchtig und jagte ihr einen warnende Schauer über den Rücken, der sie stinksauer machte. Sie kniff ihre Lippen missbilligend zusammen, angesichts seiner Behauptung und seines besitzergreifenden Tons. Sie bückte sich, zog ihren Rucksack näher zu sich, dann stand sie auf und trat den Rückzug an.
Sie blieb jedoch abrupt stehen, als er seine Hand umdrehte und sie etwas Zartes an seinen Fingern baumeln sah. Sie blickte auf ihre eigene Hand hinunter. Die Halskette, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, war verschwunden. Stattdessen befand sich in ihrer Handfläche ein juckendes Symbol, das vorher nicht da gewesen war. Als sie kurz die Augen schloss, wurde ihr klar, dass sie die Kette in seine Hand fallengelassen haben musste, als er sie erschreckt hatte.
Wut ergriff sie angesichts des Verlustes. Es gab keine Möglichkeit, die Kette zurückzuholen, ohne dass er sie schnappte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und tat, was ihre Mutter ihr beigebracht hatte – sie floh in die Dunkelheit, sobald sie in Gefahr war.
'Ein Rückzug ist keine Niederlage, Amelia. Solange du am Leben bist, wirst du noch einen Tag schaffen. Die Hoffnung wird dich am Leben halten.'
Die Erinnerung an die sanfte Stimme ihrer Mutter beruhigte ihre aufgewühlten Gedanken. Sie würde schon zurechtkommen. Die Sirenen wurden immer lauter, was ihr sagte, dass die Explosionen gemeldet worden waren und die Polizei bald da war. Morgen würde sie wissen, auf wen sie sich würde konzentrieren müssen. Und sie hoffte inständig, dass einer der Kerle silberne Augen mit Flammen darin haben würde.
Derik 'Tag Krell Manok. Du wirst mit wehenden Fahnen untergehen, das verspreche ich, dachte sie, als sie durch den Maschendrahtzaun schlüpfte und in den dunklen Gassen der Stadt verschwand.
* * *
Derik stieß die Tür des Lagerhauses auf und rannte hinaus, dann blieb er kurz stehen und schaute in beide Richtungen, bevor er in die gleiche Richtung lief, in der die Frau verschwunden war. Er bog um die Ecke, blieb erneut stehen und suchte die Gegend nach Anzeichen von Bewegung ab.
Eine schwache Brise strich über seine heiße Haut, und er hob den Kopf, um zu schnuppern. Er hoffte, einen Geruch aufzufangen, der ihm eine Richtung wies. Er drehte sich einmal um sich selbst und hob dann frustriert die Hände, bevor er sie wieder fallen ließ. Es war nichts zu hören, außer den entfernten Kampfgeräuschen, die aus der anderen Lagerhalle drangen.
Er ballte die Fäuste. Er hatte mehrere Minuten gebraucht, um eine Tür zu finden, die nicht durch Trümmer blockiert war.
Er sah zum Zaun, der entlang der Lagerhallen verlief, und ging auf ein Loch zu, das jemand in den Draht geschnitten hatte. Als er nahe genug war, um den Zaun zu berühren, bemerkte er ein dunkles Etwas, das nahe dem Loch auf dem Boden lag. Er kniete sich hin und hob den schwarzen, fingerlosen Strickhandschuh auf. Die Frau hatte Handschuhe wie diesen getragen.
Er hielt den Handschuh an seine Nase, schnupperte daran und dann durchflutete ihn eine Welle der Wärme – es war ihr Duft. Seine Finger umklammerten besitzergreifend den Handschuh, er sah auf und suchte die Umgebung erneut ab. Er hatte jetzt zwei Dinge, die ihr gehörten.
Derik zögerte noch einen Moment am Loch im Zaun. Sie war in die Stadt geflohen. Sein Blick schweifte umher, bevor er erneut seine kribbelnde Handfläche musterte.
Er empfand Verwirrung, als er das markante Zeichen sah, das vorher nicht da gewesen war. Er richtete sich auf und machte eine Faust. Er war hin- und hergerissen zwischen der Pflicht gegenüber seinem Volk und seinem Bedürfnis, die Frau zu finden, die seine Gefährtin war.
Schließlich siegte das primitive Bedürfnis, seine Gefährtin zu finden und sie zu beschützen. Er griff nach dem Draht und wollte ihn gerade zurückziehen, als der Klang weiterer Sirenen die Luft erfüllte. Ein saftiger Fluch kam über seine Lippen. Er ließ den Draht los und trat von dem Zaun zurück. Er wäre für seine Gefährtin nutzlos, wenn er von ihrem Volk gefangen genommen wurde.
„Ich werde dich finden, kleine Kriegerin. Du kannst dich nicht ewig vor mir verstecken, ganz gleich, wie sehr du es auch versuchst“, murmelte er und rieb seine geschwollene Lippe dort, wo sie ihn getroffen hatte.