Kapitel 1

1945 Words
KAPITEL 1 Gegenwart: Cosmos Raines Industries (CRI) Houston, Texas Die Zwergin starrte missmutig aus dem Fenster und hinunter auf die Lichter der Stadt. Sie befand sich in dem Apartment, das Avery ihr zugewiesen hatte, als sie hergekommen war, um bei CRI zu arbeiten. Die geräumige Eleganz innerhalb des Cosmos Raines Towers war ihr noch immer fremd, doch das pulsierende Treiben der Stadt unter ihr war beruhigend. Sie schlang die Arme um ihre Taille und starrte auf die Stadt hinunter, die niemals zu schlafen schien. Ein plötzliches Kitzeln gab ihr das Gefühl, niesen zu müssen. Sie hob den Arm und rieb sich geistesabwesend die Nase an ihrem Ärmel. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie darüber nachdachte, was sie gleich tun würde. „Amelia …“, murmelte RITAs sanfte Stimme. „Ja, RITA“, antwortete die Zwergin leise. „Was ist mit dir, Liebes? Du starrst seit fast einer Stunde aus dem Fenster auf die Stadt“, meinte RITA. Die Lippen der Zwergin zuckten angesichts RITAs sorgenvoller Bemerkung. Der leichte Luftzug verriet ihr, dass RITA eine körperliche Form angenommen hatte. Sie drehte den Kopf und betrachtete das holografische Bild der künstlichen Intelligenz RITA. „Beobachtest du mich schon wieder? Du wirst immer besser darin, Dinge zu bewegen“, kommentierte die Zwergin. RITA wackelte mit ihrer Nase. „Ja, doch das beantwortet nicht meine Frage“, sagte RITA. Die Zwergin drehte sich um und sah wieder aus dem Fenster. Sie schwieg einige Sekunden. Sie war unsicher, ob sie ihre Gedanken und Gefühle mitteilen wollte – selbst wenn es nur gegenüber RITA war. Sie schlang die Arme um ihre Taille. „Es ist alles in Ordnung. Ich denke bloß nach“, antwortete sie schließlich. „Über Derik?“, wollte RITA neugierig wissen. Die Zwergin zog eine Grimasse. Sie würde auf keinen Fall zugeben, dass sie an Derik 'Tag Krell Manok gedacht hatte! Ein unbehaglicher Schauer lief ihr über den Rücken, gewöhnlich ein Zeichen dafür, dass es Zeit war, zu verschwinden. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass sie daran dachte. Es war bloß das erste Mal, dass sie wusste, dass sie es auch tatsächlich tun würde. Das Problem war nur, es zu tun, ohne dass RITA es mitbekam. Das KI-System von Cosmos Raines, RITA, das für Really Intelligent Technical Assistant stand, war für die Zwergin so etwas wie eine Familie – soweit die Zwergin eine derartige Bindung zuließ. Und angesichts dieser Verbundenheit zögerte sie, RITA zu verletzen, auch wenn es sich bei ihr lediglich um ein Computerprogramm handelte. Sie ist mehr als ein binärer Code, dachte die Zwergin und sah die Besorgnis in RITAs leuchtenden Augen. „Ich wünschte …“, begann sie, bevor sie den Kopf schüttelte und zu Boden sah. „Was wünschst du dir, Amelia?“, fragte RITA. Die Zwergin schüttelte erneut den Kopf. „Ich werde ein bisschen spazieren gehen. Jetzt, wo Avery gefunden wurde und wir wissen, dass Markham und Wright tot sind, muss ich nicht mehr so oft hier sein“, erklärte sie. Sie drehte sich um, nahm ihren Rucksack vom Boden und setzte ihn auf. „Amelia …“, begann RITA protestierend. Die Zwergin drehte sich um und sah die holografische Figur der Frau an, die sie inzwischen liebgewonnen hatte. Die KI glitt nach vorne und hob eine ihrer transparenten Hände, und streichelte ihre Wange. Die Zwergin wich zurück, als RITAs Finger durch ihr Fleisch glitten. Sie verspürte Traurigkeit und ein Gefühl von Einsamkeit. Es war so lange her, dass sie von einem anderen Menschen berührt worden war, dass sie fast vergessen hatte, wie sich das anfühlte. Die letzte Umarmung hatte sie von ihrer Mutter bekommen. „Oh, mein Schatz“, sagte RITA mit Bedauern. Die Zwergin schüttelte den Kopf. „Ich komme später wieder“, log sie. Sie wandte sich ab und ging auf die Tür zu ihrem Apartment zu. Dies war nicht ihre Welt. Sie gehörte in den Untergrund der Hacker, hinaus auf die Straßen, wo die Menschen redeten, und die Schatten lauschten. Sie gehörte zu denen, die sich in der Dunkelheit auskannten – nicht in ein Schloss im Himmel. * * * Baade: Heimatwelt der Prime Prime Palast „Derik“, rief Tresa und lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte seine Mutter aus dem Augenwinkel hereinkommen sehen, konnte aber nicht mit dem aufhören, was er tat. Er schlug auf mehrere fliegende Scheiben ein, bevor er seine Arme senkte und zurücktrat. Er griff nach dem Controller an seiner Hüfte, doch bevor er ihn herausziehen und das Programm beenden konnte, schoss eine weitere Angriffsscheibe auf ihn zu. Er drehte sich blitzschnell und trat zu. Die Scheibe zersplitterte unter der Wucht seines Tritts und winzige Partikel fielen zu Boden. Er ließ sein Bein sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Als er das besorgte Gesicht seiner Mutter sah, wurde sein ärgerlicher Gesichtsausdruck weicher. Ein reumütiges Lächeln trat auf seine Lippen. Er wusste, dass es in letzter Zeit schwierig gewesen war, mit ihm auszukommen. „Mutter“, sagte er mit einer respektvollen Neigung des Kopfes. Sie nahm ein Handtuch und reichte es ihm. Als er sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte, las er heimlich ihre gelassenen Gesichtszüge. Als jüngstes Geschwisterkind hatte er viel Übung darin, seine Mutter als das Leuchtfeuer zu erkennen, das allen den Weg wies – auch seinem Vater. Baade mochte als patriarchalische Zivilisation gelten, doch was seine Familie betraf, wusste er es besser. Sein Vater mochte das Gesicht der Prime sein, doch seine Mutter war das Herz des Volkes. „Ich sehe, dass du dich verbessert hast. Brock wird nicht erfreut sein, dass du seine neue Trainingsausrüstung zerstörst“, bemerkte sie und ging zu einer der zerbrochenen Scheiben. Deriks Lippen zuckten. „Er hat mich bereits gewarnt, dass er Lan gebeten hat, den Code für den Geräteraum zu ändern. Er sagte, ich sei viel schlimmer als meine Brüder, was die Zerstörung seiner Erfindungen angeht“, gestand er. Er sah, wie seine Mutter sich umdrehte und ihn neugierig musterte. Nach ein paar Sekunden wandte er den Blick ab. Wie konnte es sein, dass ihr Blick ihm das Gefühl gab, wieder ein kleiner Junge zu sein? „Komm, setz dich einen Moment zu mir“, sagte sie und ging zu einer Bank am Fenster des Trainingsraums. Er runzelte die Stirn und ging langsam zu ihr, sie hatte sich bereits anmutig niedergelassen. Er setzte sich neben sie, und beide blickten auf den Garten hinaus. Seit er das Haus betreten hatte, war es draußen dunkel geworden. Er hatte gar nicht bemerkt, wie lange er bereits trainiert hatte. „Erzähl mir von ihr“, bat seine Mutter leise. Er öffnete zunächst leugnend die Lippen, doch dann schloss er den Mund wieder, lehnte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Knie. Er knetete das Handtuch zwischen seinen Händen und dachte an die Frau, die in den letzten zwei Jahren in jedem wachen Moment seine Gedanken beherrscht hatte. „RITA2 hat mir erzählt, dass sie als Amelia Thomas geboren wurde, doch sie nennt sich die Zwergin“, begann er leise. „Zwergin. Das ist ein ausgesprochen ungewöhnlicher Name für eine Frau. Ich habe diesen Namen in keinem der Vidcoms, die ich gesehen habe, gehört“, bemerkte Tresa. Er setzte sich aufrecht hin und lehnte sich gegen die Bank. Ein leichtes Lächeln trat auf seine Lippen. Er hatte anfangs dasselbe gedacht. „Meine Gefährtin ist eine ungewöhnliche Frau. Zwergin ist ihr Hackername. Sie ist sehr geschickt in der Computersprache ihrer Spezies“, erklärte er. „Arbeitet sie mit Cosmos?“, fragte Tresa. Derik nickte. „Ja. Unter dem Schutz von Cosmos setzt Amelia ihre Fähigkeiten ein, um gegen diejenigen zu kämpfen, die unschuldigen Menschen Schaden zufügen. RITA2 sagte, dass Amelia viele mächtige Leute in ihrer Welt verärgert hat und dass ihr Leben in Gefahr wäre, wäre sie auf sich gestellt. Unter anderem deshalb hat das Team von Cosmos sie aufgenommen. Damit will man sie beschützen. Sie … nimmt nicht gern die Hilfe anderer in Anspruch“, fügte er zögerlich hinzu. Er drehte seine Hand und betrachtete das verschlungene Mal in seiner Handfläche. Das Mal war in den letzten Wochen immer deutlicher hervorgetreten und sein Wunsch, die Menschenfrau zu finden, die ihm vor zwei Jahren entkommen war, war immer stärker geworden. Es war an der Zeit, dass sie sich wieder trafen. Tresa schaute noch immer in den Garten und sagte beiläufig: „RITA2 erzählte mir, sie sei jung … und sehr unabhängig für ihr Alter. Das habt ihr beide gemeinsam.“ Er drehte sich um und sah seine Mutter misstrauisch an. Es war lange her, dass er die Zwergin getroffen hatte, und seither hatte er nicht mehr über seine Gefährtin sprechen wollen. Natürlich hatte seine Mutter selbst nach Informationen gesucht. Er fragte sich, wie viel sie wusste. In den letzten zwei Jahren hatte er alles ihm Mögliche getan, um mehr über Amelia zu erfahren. Er hatte auch viel Zeit damit verbracht, sich irgendwie zu beschäftigen, während er darauf wartete, dass sie beide ein wenig älter wurden. Seine Mutter hatte Recht: Amelia war sehr jung gewesen, als sie sich kennenlernten, laut RITA2 erst sechzehn Jahre. Er sah wieder auf seine Hand hinunter. Er war kaum zwei Jahre älter als Amelia. Wäre er in der Lage, ein guter Beschützer zu sein? Seine Brüder waren älter als er gewesen, als sie ihre Gefährtin gefunden hatten. Er wusste kaum, wie man ein guter Gefährte war, nur das, was er gelesen und in den verschiedenen Vidcoms gesehen hatte, die es gab. „Sie ist meine Gefährtin. Ich … verspüre das wachsende Bedürfnis in meinem Inneren, sie zu beanspruchen, aber … was ist, wenn sie mich nicht will? Was ist, wenn sie mich für ungeeignet hält, weil ich nicht …“, seine Stimme verklang und er sah seine Mutter frustriert an. Tresa lachte leise und schüttelte den Kopf. Derik sah sie verstimmt an, als sie sein Bein tätschelte. „Du bist deinem Vater viel zu ähnlich. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ob sie dich will, oder ob du mit der Verantwortung umgehen kannst, die ein guter Gefährte übernehmen muss“, sagte sie. Derik spürte, wie sich seine Wangen röteten, und wusste, dass nicht das Training die Ursache dafür war. Er schaute aus dem Fenster. Dies war kein Gespräch, das er wirklich mit seiner Mutter führen wollte. Ja, er wusste nicht, ob er dieses Gespräch überhaupt mit irgendjemandem führen wollte. Sie drehten sich beide um, als sich die Tür öffnete. Sein Vater betrat den Raum, schaute sich um und kam auf sie zu, während sie sich langsam erhoben. Derik runzelte verwirrt die Stirn, als der Blick seines Vaters auf ihm verweilte. „Derik, kleide dich angemessen und komm in zwanzig Minuten in den Ratssaal“, befahl Teriff. „Ja, Sir“, antwortete Derik sofort. „Was ist los, Teriff?“, fragte seine Mutter. Derik hielt inne, als er ein leichtes von Unbehagen auf dem Gesicht seines Vaters sah. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass sie schweigend miteinander kommunizierten. Derik runzelte noch stärker die Stirn, als seine Mutter nach seinem Arm griff. „Was ist geschehen?“, fragte er und blickte in das besorgte Gesicht seiner Mutter, bevor er sich wieder seinem Vater zuwandte. „Ein Mitglied von Cosmos' Team ist verschwunden. Sie befürchten, dass einer der Männer aus einer früheren Auseinandersetzung dafür verantwortlich sein könnte. Cosmos hat uns um Hilfe gebeten“, antwortete Teriff. „Wer …?“, fragte Derik und g**g an der Bank vorbei, während sich sein Magen vor Angst verkrampfte. „Eine Frau namens Amelia Thomas“, erklärte sein Vater.
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