Prolog-1

2038 Words
PROLOG Zwei Jahre zuvor: Washington, D.C., nahe der alten Marinewerft: Amelia „die Zwergin“ Thomas spürte, wie ihre schwarze Strickmütze an einem zackigen Stück Draht hängen blieb, als sie durch die Öffnung schlüpfte, die jemand in den hohen Maschendrahtzaun geschnitten hatte. Auf der anderen Seite blieb sie stehen, zog sich die Mütze wieder über die Ohren, und steckte dann ihre Hände samt Handschuhen in die Taschen, um sie warm zu halten. Auf dem Rücken trug sie einen schwarzen Rucksack, der all ihre weltlichen Besitztümer enthielt. Sie nahm sich einen Moment Zeit, die dunkle Silhouette der Gebäude vor dem Kapitol und dem bekannten Fluss zu betrachten. Diese verlassenen Lagerhäuser entlang des Potomac River waren in den letzten Monaten regelmäßig ihr Zuhause gewesen. Es schien ein sicherer Ort zu sein, an dem sie sich für längere Zeit aufhalten konnte. Trotzdem verschwand sie immer mal wieder für eine Weile. Die wenigen Leute, mit denen sie auf der Straße gesprochen hatte, hatten sie gewarnt, dass es unklug sei, zu lange an einem Ort zu bleiben, und sie hatte sich diese Warnung zu Herzen genommen. Es war gefährlich, sich zu sicher zu fühlen. Sie war nicht die Einzige, die in diesem vergessenen Teil der Hauptstadt lebte. Bereiche der ehemaligen Marinewerft wurden renoviert, doch dieser Teil stand immer noch auf der To-Do-Liste der Stadt. Die Zwergin hatte persönlich nichts dagegen, wenn dieser Teil noch ein bisschen länger auf der Liste blieb. Viele der dauerhaft Obdachlose wohnten gelegentlich in den Gebäuden, vor allem im Winter. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Bereich für sich beansprucht, jedenfalls so lange, bis jemand einzog der größer und gemeiner war. Im Grunde waren die meisten von ihnen harmlos und zogen es vor, nur gelegentliche Interaktion mit dem Rest der Welt zu haben. Sie mochte die Tatsache, dass sie alle verschieden waren. Einige lebten auf der Straße, weil sie es nicht ertragen konnten, auf engem Raum eingesperrt zu sein. Andere konnten sich einfach keine Wohnung leisten, und lebten deshalb auf der Straße. Diese Gründe kamen von den wenigen, die freiwillig so lebten, weil sie nirgendwo anders hinkonnten. Sie fragte nie näher danach, da es sie nichts anging. Zudem könnte es zur Folge haben, dass jemand beschloss, ihr Fragen zu stellen, und sie würde nicht antworten. Mit sechzehn lebte sie seit fast zwei Jahren auf der Straße. Es störte sie nicht, wie es die meisten Leute das wohl vermuten würden. Sie war ihr eigener Chef und das gefiel ihr. Sie richtete den Gurt an ihrer Schulter, während sie darauf wartete, dass ein Auto an ihr vorbeifuhr. Sie bewegte sich nicht, damit sie nicht auffiel. Ihre Hand umschloss den Gurt fester, als das Auto langsamer wurde. Als es wendete und sich schließlich von ihr entfernte, atmete sie erleichtert auf. Das Leben auf der Straße konnte hart sein, allerdings nur dann, wenn man viel zum Leben brauchte. Sie brauchte nichts – zumindest keine materiellen Dinge. Nun, außer meinem Laptop. Ohne den kann ich nicht leben, dachte sie mit ironischer Belustigung. Sie war in ärmlichen Verhältnissen geboren worden, daher hatte sie nie erfahren, wie es war, viel zu besitzen. Dank ihres Vaters war ihr sogar dieses Leben genommen worden. Das Geld und die Gier nach mehr riefen Ungeheuer hervor, und sie hatte schon in jungen Jahren viel davon mitgekommen. Sie mochte nicht daran denken, wie leicht es war, alles, was ihr etwas bedeutet, wegen eines anderen Menschen zu verlieren. Sie hasste es, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die sie nicht ändern konnte, also versuchte sie, es zu unterlassen. Es war eine Verschwendung von Zeit und Kraft, zudem kam sie bestens allein zurecht. Die Zwergin beobachtete noch einmal gründlich die Gegend, um sich zu vergewissern, dass sie allein war, und ging dann in einem gemächliche Tempo, bis die Schatten der Gebäude sie einfingen. Seit der Ermordung ihres Vaters hatte sie im Verlauf der Jahre sehr viel gelernt. Auch das bedauerte sie nicht. Manchmal fragte sie sich, ob die Betreuer Recht mit ihrer Einschätzung hatten, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Arschlöcher, dachte sie leidenschaftslos. Ihre Intelligenz war das Einzige, was mit ihr nicht stimmte. Sie war zu intelligent für ihren Vater und zu gefährlich für ihre Mutter. Ein Schulpsychologe vermutete, dass sie das Savant-Syndrom hatte und hochbegabt war. Sie war einer dieser seltsamen und ungewöhnlichen Menschen, die eine Fähigkeit besaßen, die nicht von dieser Welt schein. Ihr Vater sah in ihr nur eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, und es war ihm egal, wie. Ihre Mutter war anders gewesen, sie hatte sie als das verstanden und akzeptiert, was sie war: ein kleines Mädchen, das Nullen und Einsen sehen und verstehen konnte, als wäre es ihre Muttersprache. Ihre Mutter hatte versucht sie davor zu beschützen, dass der Vater sie ausbeutete. Doch zwischen dem Spiel mit den Zahlen, der Entwicklung illegaler Software und dem Hacken von Bankkonten waren die Verbrechen schneller mehr geworden als die Zwergin gewachsen war. Sie war schon immer zierlich gewesen. Ihre Mutter war kaum im siebten Monat, als sie sie zur Welt brachte. Ihr Vater hatte eines Nachts betrunken damit geprahlt, wie er das Baby in Rekordzeit aus ihr herausgeprügelt hatte – und dass es schwer zu glauben war, dass sich dieses Fiasko als etwas Gutes herausgestellt hatte, weil Amelia so intelligent war. Die Zwergin hielt inne und lehnte sich mit dem Rücken gegen den kalten Stahl der Lagerhalle. Sie blieb regungslos, als ein weiteres Auto die Straße entlangfuhr und an der Ecke abbog. Wer auch immer darin saß, war wahrscheinlich auf der Suche nach Drogen oder einer Prostituierte. Sie sah zu, wie die Lichter verschwanden, rührte sich aber nicht. Es gab keinen Grund, sich zu beeilen um, den kleinen, abgelegenen Teil von Lagerhaus B11 zu erreichen. Die Nacht gehörte ihr, so wie jede Nacht ihr gehörte. Stattdessen ließ sie die allzu bildlichen Erinnerungen zu. Es hatte keinen Sinn, sie zu bekämpfen, das hatte sie in ihrem ersten Jahr auf der Straße gelernt. Sie würden nur in Form von Alpträumen wiederkehren, sobald sie in den Schlaf fiel. „Lass die Erinnerungen kommen, dann stecke sie zurück in ihre Kiste“, flüsterte sie sich selbst zu. Er hat nicht abgedrückt, doch er war dafür verantwortlich, dachte sie zum tausendsten Mal außer sich vor Wut. Sie wusste nicht, ob sie jemals in der Lage sein würde, das hinter sich zu lassen. Ihre schlimmsten Momente waren inzwischen wie ein mentales Tattoo. Jedes Mal, wenn die Erinnerungen wie aus dem Nichts auftauchten und sie wieder über alles Geschehene nachdachte, brandmarkten sie sie nur noch tiefer. Ihr Vater wurde von der gleichen Art von Kriminellen ermordet, die auch ihre Mutter getötet hatten. Der Tod ihrer Mutter sollte eine Warnung sein. Sie dachten, sie könnten die Zwergin so erschrecken, dass sie sich von ihnen kontrollieren ließ. Leider hatten die Bastarde den falschen Elternteil getötet. Sie dachten tatsächlich, dass es sie einen Scheiß kümmerte, was mit dem brutalen Bastard geschah, der der Zwergin und ihrer Mutter das Leben zur Hölle gemacht hatte. Hätten sie ihn getötet und ihre Mutter am Leben gelassen, wäre alles anders gewesen – jedenfalls so lange, bis sie genug Geld verdiente, um an einem Ort zu leben, an dem niemand sie und ihre Mutter aufspüren und niemand sie jemals wieder benutzen konnte. Amelia sah auf, als eine Kolonne von Scheinwerfern an ihr vorbeifuhr und die Autos vor dem Tor anhielten. Heimlich näherte sie sich und versteckte sich hinter einem Müllcontainer, der umgestoßen worden war und auf der Seite lag. Sie hockte sich hin und spähte durch ein Loch in dem verrosteten Container. Eine Reihe von Luxus-SUVs und eine Limousine fuhren durch das Tor. Die Türen einer nahe gelegenen Lagerhalle öffneten sich und mehrere schwer bewaffnete Männer waren zu sehen, die auf die Wagenkolonne gewartet haben mussten. Die Limousine fuhr direkt in das Lagerhaus, während die Geländewagen vor dem Eingang anhielten. Drei Männer sprangen aus dem ersten Geländewagen. Die Zwergin schürzte verächtlich die Lippen, als sie die teuren Anzüge und ihre Waffen sah. Sie sahen nicht wie Regierungsmitglieder aus, also musste es sich um AHWs handeln – die Arschlöcher dieser Welt. Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, dass sie ihre Gabe vielleicht deshalb bekommen hatte, um gegen diejenigen zu kämpfen, die andere Menschen verletzten, selbst aber unantastbar waren. Amelia hatte einen Weg gefunden, diese schlimmen Verbrecher antastbar zu machen. Geld bedeutete ihnen alles, selbst die Familie war ihnen nicht heilig, jedes Mitglied war nur ein Spielball für den, der das Sagen hatte. Und wenn das Mitglied nicht mehr nützlich, verlässlich oder loyal war, wurde es wie Abfall entsorgt. Freunde waren ein Mythos. Verbrecher wie diese hatten keine Freunde. Diese Lektion hatte die Zwergin auf die harte Tour gelernt. Besonders bedauerlich war, dass Geld auf jeden unterschiedlich wirkte. Sie hatte erlebt, dass Menschen mit weniger als einem Dollar in der Tasche andere besser behandelten als diejenigen, die Millionen Dollar besaßen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange sie die Leute schon auf diese Weise bestohlen hatte. Mit der Zeit war Amelia Thomas verschwunden und die als Zwergin bekannte Hackerin, war an ihre Stelle getreten. Ihre Mutter hatte Recht gehabt. Ihr Sinn des Lebens bestand darin war es, die Arschlöcher dieser Welt zu Fall zu bringen, und das tat sie mit einer Geschicklichkeit, die den raffiniertesten Mitgliedern der technischen Welt gleichkam. Nur besser, dachte sie mit Genugtuung. Leise erhob sie sich und begann, auf die Gruppe von Autos zuzugehen. Um herauszufinden, wer sie waren, musste sie näher herankommen. Als sie sich dem Lagerhaus näherte, hörte sie aufgebrachte Stimmen. An der Wand des Gebäudes entdeckte sie ein zerbrochenes Fenster, durch das sie hindurchspähen konnte. Unter dem Fenster standen alte Stahlfässer und ein paar Holzpaletten. Sie ging hinüber und kletterte so leise wie möglich darauf. Glücklicherweise war derjenige, der gerade sprach, so wütend, dass er die wenigen Geräusche, die sie machte, nicht mitbekam. Sie hielt sich am Fensterrahmen fest und beobachtete, wie sich eine große Gruppe Männer um die Limousine herum verteilte, die hineingefahren war. Sie riss überrascht die Augen auf, als sie sah, wie erst ein Mann und dann eine bezaubernde Frau in einem Abendkleid aus dem Fahrzeug stiegen, gefolgt von einem zweiten Mann, aus dessen Nase Blut tropfte. Der selbstgefällige Ausdruck auf dem Gesicht der Frau verriet der Zwergin, wer verantwortlich dafür war. Sie umklammerte den Fensterrahmen fester und zog sich ein wenig hoch, um besser sehen zu können. Sie wollte gerade das Fenster etwas weiter öffnen, als jemand sie grob von hinten packte und zurückriss. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus. Sie drehte sich im Fallen, und landete schwer auf der Seite, um so ihren Laptop zu schützen. „Sieht so aus, als hätten wir hier eine Hafenratte, die im Dunkeln herumschleicht, Manny“, kicherte der Mann, der sie gepackt hatte. „Erschieß ihn, Rick. Wir haben keine Zeit für so etwas“, befahl Manny. „Verpiss dich“, knurrte die Zwergin. Sie stieß ihr Bein in Richtung des Mannes namens Rick, und ihr Schuh traf seine Leistengegend. Sie war bereits in Bewegung, noch bevor er den Schmerz richtig wahrnahm und ein lauter Fluch über seine Lippen kam. Sie sprang auf und war erst ein paar Schritte weit gekommen, als sie ruckartig angehalten wurde. Mühsam riss sie sich den Riemen ihres Rucksacks herunter. Durch das plötzliche Loslassen stolperte den Mann, der ihren Rucksack gepackt hatte, ein paar Schritte rückwärts. Leider erholte sich Rick schneller, als sie erwartet hatte. Der Schmerz explodierte in ihrem Gesicht, als er ihr einen Schlag gegen den Kiefer versetzte. Der Schlag warf sie zu Boden und, einer der Männer, sie wusste nicht, welcher, trat ihr in die Rippen. Sie rollte sich herum, um den kräftigen Tritten der beiden auszuweichen, und zischte, als der Boden durch eine Explosion in der Lagerhalle bebte. Das reichte, um die beiden Männer abzulenken, wenn auch nur für eine Sekunde. Sie schaffte es auf die Knie, bevor sie aufblickte und sah, wie Rick seine Pistole auf ihren Kopf richtete. „Arschloch“, sagte sie spöttisch. Die Zwergin machte sich auf den sicheren Tod gefasst, nachdem sie gesprochen hatte und dann wurde Rick von den Füßen gehoben und in die Fässer geschleudert, auf denen sie zuvor gestanden hatte. Manny richtete seine Waffe auf denjenigen, der aufgetaucht war. Sie zuckte zusammen, als sie das unverkennbare Knacken brechender Knochen hörte, gefolgt von einem schmerzerfüllten Schrei.
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