Kapitel 4

1141 Words
4 Bevor ich die Treppe zum Untergeschoss hinunterging, legte ich noch schnell einen Stopp in der Krankenhauscafeteria ein. Meine Mutter hob die Augenbrauen, als sie mich mit der Ladung Süßigkeiten hereinkommen sah. »Du wirst mich gleich verstehen«, erklärte ich ihr wie zuvor schon Amanda. Aber in diesem Moment klingelte das Telefon und meine Mutter musste den Anruf entgegennehmen, denn ihre Kollegin Nancy sprach bereits auf dem anderen Apparat. Wortlos legte ich beiden je eine Tüte Doritos und ein paar Rolos hin, bevor ich mich mit dem restlichen Süßkram an meinem eigenen Schreibtisch niederließ. Meine Mutter war Pharmazeutin und arbeitete in der Giftnotrufzentrale des Krankenhauses. Dort rief man an, wenn man als Babysitter plötzlich merkte, dass das Kind, das man beaufsichtigen sollte, gerade Hundefutter gegessen hatte, oder wenn man wissen wollte, ob der Ausschlag vielleicht von der Selbstbräunungslotion kam, die man über die Aknesalbe aufgetragen hatte. Und sie sagten einem auch, was man tun sollte, wenn man von einer Klapperschlange oder einem Skorpion gebissen oder von Killerbienen angegriffen worden war. Es gab wirklich eine ganze Menge Katastrophen auf der Welt. Es war gut, wenn man wusste, wo man dann anrufen und einen Hilfeschrei ausstoßen konnte – »Mein Gesicht sieht aus wie ein Baseball!« – und eine ruhige Stimme einem sagte, was man tun konnte. Gerade empfahl Nancy jemanden mit ruhiger Stimme, sofort ins Krankenhaus zu kommen. Und meine Mutter erklärte einer Anruferin mit gleichfalls ruhiger Stimme, dass ihre Haare nicht schneller wuchsen, wenn sie sie mit Grapefruitsaft übergoss, auch wenn sie das auf irgendeiner Website gelesen hatte. Ein Beispiel, das den Rat meiner Mutter stützte, nicht automatisch alles zu glauben, was ich im Internet fand. Als die beiden aufgelegt hatten, lehnten sie sich zurück. Ich ging zu meiner Mutter und umarmte sie. »Hallo, Liebling. Wie war’s in der Schule?« »Ganz okay.« Wieder läutete das Telefon und sie hob ab. »Coole Klamotten hast du an«, sagte Nancy. »Neu?« »Ja.« »Die machen dich schlank.« »Danke.« Nancy und ich wussten beide, dass es gar nicht genug Schwarz auf der Welt geben konnte, um mich schlank wirken zu lassen, aber es war trotzdem nett von ihr, mir ein Kompliment zu machen. In der nächsten halben Stunde klingelten die Telefone dann ununterbrochen. Ich verwendete die Zeit dazu, die Post zu öffnen und zu sortieren, und machte mich danach an die Ablage. Endlich wurden die Anrufe weniger. Es war schon komisch: Irgendwie schienen Katastrophen immer in Wellen zu kommen. »Und?«, erkundigte sich Nancy. »Irgendwelchen Tratsch zum Schuljahresbeginn zu vermelden?« »Nein, eigentlich nicht.« »Keine Messerstechereien, keine Pärchen, die Schluss gemacht haben, oder irgendwelche Modesünden?« »Nee.« »Wer ist in deiner Klasse?«, erkundigte sich meine Mom. »Die Gleichen wie immer.« »Matt auch?«, wollte Nancy wissen. »Klar.« So war das nun mal, wenn man die anspruchvollen Kurse besuchte. Man war immer mit denselben Leuten zusammen. Auf meine High School gingen fast zweitausend Schüler, aber ich kannte eigentlich nur dreißig davon. Und wirkich zu tun hatte ich lediglich mit zwei. Ich stopfte mir schnell die letzten Chips in den Mund, die bei meiner Mutter auf dem Tisch lagen. »Irgendwann muss ich den Kerl mal kennenlernen«, sagte Nancy. »Ich stelle ihn mir immer mit Hörnern und einem Buckel vor.« »Nah dran«, erwiderte ich. »Cat, hör auf«, sagte meine Mom. »Ich weiß wirklich nicht, warum du immer so schlecht über ihn redest – ihr wart einmal so gute Freunde.« »Ja, ja, ich bin gemein.« »Auf mich machte er immer einen sehr netten Eindruck.« »Sicher.« In diesem Moment klingelten wieder beide Telefone und wir wandten uns alle drei erneut unserer Arbeit zu. Es war nicht das erste Mal, dass meine Mutter mich zurechtwies, weil ich über Matt lästerte. Ich hatte ihr nie erzählt, was er mir angetan hatte – Amanda war die Einzige, die davon wusste, und das auch nur, weil sie dabei gewesen war. Kein Wunder also, dass es für meine Mutter kaum nachvollziehbar war, was sich verändert hatte. Sie hatte nur mitbekommen, dass Matt bei mir auf einmal unten durch war und seither Amanda an seine Stelle getreten war. Und ich war, ehrlich gesagt, auch sehr froh darüber – ich war viel enger mit Amanda befreundet, als ich es mit Matt je hätte sein können. Was ich jedoch nicht mehr länger für mich behalten konnte, war meine Idee. In der nächsten Telefonpause zog ich das Bild aus meinem Rucksack und erzählte ihnen von meinem Forschungsprojekt. Meine Mutter und Nancy warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu. »Was denn?«, fragte ich. »Bist du dir da wirklich sicher?«, begann meine Mom vorsichtig. »Vielleicht solltest du dir ein einfacheres Thema suchen.« »Wieso?«, fragte ich. »Das ist doch ein super Projekt! Ich dachte, du wärst begeistert. Außerdem ist es jetzt eh zu spät. Ich habe Mr Fizer mein Vorhaben schon mitgeteilt. Sobald ich sein Okay zu meinem Konzept habe, fange ich an.« »Lass uns später noch einmal darüber sprechen«, meinte sie beschwichtigend. »Nimm’s mir nicht übel«, mischte sich Nancy nun vorsichtig ein. »Aber ich bezweifle, dass du das länger als eine Woche durchhältst.« »Warum?«, fragte ich. »Der Körper ist für eine solche Art von Missbrauch nicht gemacht.« »Das ist kein Missbrauch!«, entgegnete ich. »Im Gegenteil: Ich werde wieder so leben, wie wir das eigentlich alle tun sollten.« Nancy zeigte auf meine Dose Cola light. »Wie viele trinkst du jeden Tag davon?« »Keine Ahnung. Vielleicht vier oder fünf …« Sie pfiff nur durch die Zähne. Und meine Mutter schüttelte den Kopf. »Das wird richtig schwer werden, Liebling.« »Warum?« »Ich habe vor ein paar Jahren mal versucht, mir das Kaffeetrinken abzugewöhnen«, sagte Nancy jetzt. Sie hob zur Demonstration ihren Becher. »Du siehst, was daraus geworden ist.« »Die Entzugserscheinungen können etwas heftig sein«, pflichtete meine Mutter ihr bei. »Etwas?«, spottete Nancy. »Mein Mann drohte schließlich damit, ins Hotel zu ziehen, wenn ich nicht sofort mit ihm zu Starbucks fahre. Und, Cat, ich sag’s nicht gerne, aber für dich wird es noch schwieriger werden.« »Wieso das denn?« »Dieses Cola-light-Zeug ist voller Süßstoff – das ist noch eine zusätzliche Droge. Es ist echt schwer, davon runterzukommen. Bist du dir sicher, dass du dazu bereit bist?« »Ich muss«, erwiderte ich und mein Mund fühlte sich plötzlich ganz trocken an. »Es ist mein Projekt.« »Nun denn«, meinte Nancy und zuckte resigniert die Schultern, »dann kann ich dir wohl nur noch viel Glück wünschen.« »Wir reden nachher noch einmal darüber«, schloss meine Mutter und dann klingelten auch schon wieder die Telefone. Gott sei Dank gab es bei anderen Leuten wieder irgendwelche Katastrophen. Als wir nach der Arbeit zusammen nach Hause fuhren, bombardierte mich meine Mutter die ganze Zeit mit allen möglichen Fragen – genau wie Amanda: Was ist hiermit? Was ist damit? Und obwohl ich ein paar Mal passen musste, wusste ich genau: Sobald ich mich zu Hause hinsetzen und am Computer zu recherchieren beginnen würde, würden die Antworten schon von alleine kommen. Das war zumindest mein Plan. Nur dass zuerst einmal noch viel mehr Fragen auftauchten.
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