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»Und … was heißt das genau?«, fragte Amanda.
»Keine Süßigkeiten mehr, zum einen«, antwortete ich und verdrückte den letzten Rest meines Butterfingers. Die M&Ms stopfte ich mir für später in meinen Rucksack. »Und kein Essen, wie wir es heutzutage gewohnt sind – nur Lebensmittel, die sie damals in der Natur gefunden haben, so wie Nüsse oder Beeren -«
»Du willst dich sieben Monate lang nur von Nüssen und Beeren ernähren?«, fragte Amanda. »Bist du wahnsinnig?«
»Ich bin mir sicher, dass sie auch noch was anderes gegessen haben«, sagte ich. »Auf dem Bild war doch noch der tote Hirsch.«
Amanda verzog das Gesicht. »Na toll.«
»Und wahrscheinlich Gemüse und anderes gesundes Zeug.«
»Dann machst du also wieder eine Diät«, folgerte Amanda.
»Nein, überhaupt nicht! Ich meine … nicht direkt. Es handelt sich um ein wissenschaftliches Experiment. An mir selbst. Es geht nicht nur ums Essen – ich werde auch auf alles verzichten, was unser modernes Leben prägt. Computer, Telefon, Auto, Fernse…«
»Und was soll das beweisen?«, unterbrach Amanda mich. »Außer, dass du verrückt geworden bist?«
»Dass wir Mist gebaut haben«, erklärte ich. »Dass wir an irgendeinem Punkt der Evolution den Bogen überspannt haben und deshalb viel zu faul und behäbig geworden sind.«
»Entschuldige mal«, protestierte Amanda, »aber ich finde, mein iPod ist durchaus ein toller Fortschritt.«
»Ja, schon, aber sieh dir nur unsere Körper an«, sagte ich und meinte damit natürlich vor allem meinen. »Und dann all die Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Diabetes und Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen …«
»Früher haben die Leute einfach nicht lange genug gelebt, um solche Krankheiten zu bekommen«, argumentierte Amanda. »Sie sind vorher von den wilden Tieren gefressen worden.«
»Stimmt, aber ich glaube, wenn wir wieder ein einfacheres Leben führen würden, könnte es uns um einiges besser gehen.«
»Tut mir leid, dir das sagen zu müssen«, sagte Amanda aufgebracht, »aber ich als deine Freundin sehe es als meine Pflicht an. Ich finde, du gehst da wirklich zu weit!«
Ich lächelte nur. Je länger wir darüber sprachen, umso imponierender hörte sich mein Vorhaben an, und genau so was brauchte ich. Ein gewöhnliches Projekt würde Mr Fizer oder die Jury des Wettbewerbs nicht beeindrucken – erst recht nicht, wenn Matt dabei war. Alles sprach dafür: Ich sollte es wirklich angehen.
»Außerdem«, fuhr Amanda fort, während sie den Motor ihres alten gelben Mazda startete, »kannst du nicht auf alles verzichten. Ein paar Neuerungen sind ziemlich wichtig.«
»Zum Beispiel?«, fragte ich.
»Hallo? Fließendes Wasser? Strom? Seife? Willst du nachts im Dunkeln sitzen und dich wie die Schweine im Dreck suhlen? Und schläfst du in einem Bett oder auf dem Boden? Ist ein Teppich erlaubt?«
»Super«, sagte ich und kramte nach meinem Notizblock, während Amanda vom Schulparkplatz fuhr. »Ich muss eine Liste machen. Red weiter.« Mir blieben noch ungefähr siebenundvierzig Stunden bis zur nächsten Unterrichtsstunde bei Mr Fizer und ich musste die Zeit bis dahin nutzen, so viele Dinge wie möglich zu bedenken, bevor ich mein Forschungsvorhaben einreichte.
»Nun denn«, sagte Amanda resigniert. »Du hast also gesagt, kein Auto – aber vielleicht kannst du ja mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Das Rad gab’s doch damals schon, oder? Und selbst wenn, so eng brauchst du’s ja nicht sehen.«
»Und mich von Mr Fizer erwischen lassen? Ich hör ihn schon: ‚Mir war nicht bewusst, Catherine, dass der Homo erectus bereits ein Fahrrad hatte.’ Vergiss es – ich muss überallhin zu Fuß gehen.«
»Überallhin?«, fragte Amanda. »Und wenn es draußen Nacht ist? Oder dein Date dreißig Kilometer entfernt ist und es schüttet und blitzt und donnert? Das ist gefährlich!«
»Okay, da hast du recht. Vielleicht muss ich ein paar Ausnahmen machen.«
»Ja, zum Beispiel bei deinem Handy«, sagte sie. »Ich sehe ein, dass du es nicht benutzen willst, aber für den Notfall solltest du es immer dabeihaben, finde ich.«
»In Ordnung.« Ich nickte zustimmend und machte mir schnell eine Notiz. Handy. »Warte kurz …« Mir kamen nun immer mehr Ideen. Die Sache war komplizierter, als ich gedacht hatte. Ich durfte mich nicht in Gefahr bringen, musste aber auch praktische Dinge erwägen, solche Annehmlichkeiten wie zum Beispiel duschen …
»Und wann willst du mit dem Wahnsinn anfangen?«, wollte Amanda nun wissen. »Ich meine, Blätter und Beeren essen und dem ganzen Kram?«
»Ich weiß noch nicht genau. Vielleicht am Mittwochabend. Vielleicht auch erst Donnerstag.« Seife, Shampoo, Zahnpasta. »Mr Fizer muss mein Projekt ja erst mal absegnen.«
»Das ist gut«, meinte Amanda. »Jordan und ich haben nämlich in der letzten Stunde noch über dich gesprochen.«
Ihre Stimme klang dabei so fröhlich und unschuldig, dass ich normalerweise stutzig geworden wäre, aber ich war ja durch mein Projekt abgelenkt. Ich wusste, dass sie und Jordan zusammen »Kreatives Schreiben« hatten, während ich bei Mr Fizer war, und dachte mir deshalb nichts dabei.
»Hast du morgen Abend schon was vor?«, fragte Amanda nun geradeheraus.
Dunkelheit, Wetter – »Ich werde bestimmt über meinem Projekt brüten. Warum?« Kühlschrank, ein weiches Bett, Kleidung, Schuhe –
»Na ja … ich dachte, du könntest ja vielleicht auch mal eine Pause brauchen«, meinte sie. »Bloß für ’ne Stunde oder so. Um was zu essen.«
Da endlich machte sich mein angeborener Selbsterhaltungstrieb bemerkbar und ich horchte auf. Amandas Stimme war etwa eine halbe Oktave höher als sonst – ein untrügliches Zeichen. Meine beste Freundin konnte schrecklich schlecht lügen. Ich ließ den Stift sinken und schenkte ihr meine ganze Aufmerksamkeit.
»Also, was ist los?«
»Nichts«, antwortete sie, ein bisschen zu harmlos. Angestrengt starrte sie durch die Windschutzscheibe auf den Verkehr vor uns, so als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. »Es ist nur so, dass Jordan und ich morgen Jahrestag haben.«
Wir hatten in den vergangenen Tagen nur etwa ein Dutzend Mal darüber gesprochen, sie wusste genau, dass ich das wusste.
»Und weiter?«
»Nichts weiter, wir wollten nur morgen Abend essen gehen und dachten, du hättest vielleicht Lust, mitzukommen.«
»Äh, sorry«, wandte ich ein, »aber findest du das nicht ein bisschen seltsam? An eurem Jahrestag möchte Jordan doch bestimmt allein mit dir ausgehen. Vermute ich mal.«
»Es war sogar Jordans Idee.« Amanda warf mir einen nervösen Blick zu. »Echt. Er mag dich sehr.«
»Ich mag ihn ja auch, aber trotzdem finde ich, dass ihr beide an dem Abend zu zweit bleiben solltet.«
Sie bog nach links ab. »Oh, wir … wir würden uns nach dem Essen auch sofort verabschieden. Wir dachten nur …«
Amanda linste zu mir herüber und merkte, dass ich ihr das nicht abnahm. Sie seufzte ergeben. »Also gut, hör zu. Jordan hat da einen Freund …«
»O nein! Hör sofort auf.«
Doch Amanda redete nun nur noch schneller. »Jordan sagt, dass er ein wirklich netter Typ ist, er ist mit ihm in der Schwimmmannschaft. Ihr würdet euch sicher prima verstehen –«
»Nein, nein und nochmals nein!«, rief ich entschieden.
»Bitte, Cat, nur dieses eine Mal.«
Amanda war der felsenfesten Überzeugung, dass sich irgendwelche Jungs für mich interessieren könnten, dass es auf dieser Welt tatsächlich jemanden geben könnte, der sich mit einem dicken Mädchen verabreden mochte. Aber bevor ich mich wieder einmal auf dieser unsinnige Diskussion einließ, gebrauchte ich lieber eine Ausrede.
»Hast du mir nicht zugehört? Ich habe wahnsinnig viel zu tun! Das Thema zu formulieren ist echt schwer – und es muss einfach perfekt sein.«
»Das wird es auch! Komm schon, Kit Cat, es ist doch nur für ein, zwei Stunden.«
»Ich kann nicht«, erwiderte ich. »Das nächste Halbjahr wird ein wahrer Albtraum für mich, wenn ich nicht ackere. Ich habe den Unterricht bei Mr Fizer, Mathe, Chemie …«
»Ich weiß«, sagte Amanda, »und gerade deshalb mache ich mir ja auch Sorgen um dich. Wann hast du denn mal Zeit für etwas anderes als Schule, Job und Hausaufgaben?«
»Keine Bange, ich krieg das alles auf die Reihe.«
»Da bin ich mir sicher«, sagte sie, »aber es gibt auch noch etwas, das du völlig zu vergessen scheinst – ein Privatleben.«
»Das ist mir egal.«
»Und genau das bereitet mir Sorgen«, fuhr sie fort. »Du siehst doch, wie glücklich ich mit Jordan bin, oder?«
»Ja, und das freut mich auch für dich. Er ist ein echt netter Typ.«
»Und da draußen gibt es noch mehr nette Typen«, sagte sie, als sie vor dem Krankenhaus anhielt. »Cat, ich habe einfach Angst, dass du eines Tages als verbitterte alte Hexe aufwachst, die zwar eine Menge wissenschaftliche Auszeichnungen eingeheimst, aber überhaupt keine sozialen Kontakte mehr hat. Und dann wirst du dasitzen und Rotz und Wasser heulen, weil du dein Leben so vergeudet hast.«
»Danke«, sagte ich. »Das ist ’ne echt gute Horrorgeschichte.«
»Schön, dass du das auch findest. Sie heißt ‚Sie hat nicht auf ihre Freundin gehört’.«
Ich bedankte mich bei Amanda fürs Bringen und stieg aus. Aber sie gab nicht so schnell auf. Als ich schon die Stufen hinaufging, ließ sie das Seitenfenster herunter und rief mir nach: »Überleg dir’s wenigstens noch, okay?«
»Nein.«
»Cat! Wie sollen unsere Kinder denn gemeinsam groß werden, wenn du dich nie verabredest?«
Wortlos winkte ich ihr nur noch mal über die Schulter zu und verschwand dann im Foyer.
Amanda träumte davon, dass wir beide aufs selbe College gehen, dort unsere Ehemänner kennenlernen – »Jordan kann sich ja für den Posten bewerben, wenn er will«, meinte sie, »ich hätte nichts dagegen« – und danach in dieselbe Stadt ziehen würden, wo wir ein glückliches Leben führen würden und beide supererfolgreich wären: ich als Wissenschaftlerin oder Ärztin und sie als Schriftstellerin oder Englischprofessorin. In ihrer Vorstellung würden wir Tür an Tür wohnen, unsere Kinder würden zusammen spielen und unsere Ehemänner sich am Grill abwechseln, während Amanda und ich in der Küche wunderbare Desserts zubereiteten und bis spät in die Nacht über Gott und die Welt plauderten.
Es machte Spaß, Amanda zuzuhören, wenn sie sich unser künftiges Leben ausmalte. Ich mochte es, wie sie sich mich in der Zukunft vorstellte. Ich mochte es nur nicht, wenn ich in der Geschichte als alte verrunzelte Hexe vorkam.
Folglich war es sicher nicht das Schlimmste auf der Welt, wenn sie, und offenbar jetzt auch Jordan, einen Mann für mich finden wollte. Aber selbst wenn ich es wirklich gewollt hätte – und dem war definitiv nicht so –, übersahen die beiden doch eine eindeutige Tatsache: Noch nie hatte auch nur ein einziger Junge mich wirklich gemocht. Klar, es gab schon Jungs, die nett zu mir waren, Freunde eben, aber noch nie einen, der wirklich für mich geschwärmt hätte.
Vielleicht hatten sich Amanda und Jordan ja schon so an meinen Anblick gewöhnt, dass sie mich nicht mehr so wie all die anderen Leute sahen. Wahrscheinlich sollte ich das auch als Kompliment auffassen. Ich denke, den beiden war aber auch noch nie in den Sinn gekommen, dass es einfacher für mich war, mir erst gar keine Hoffnungen zu machen. Weil ich so nicht mehr enttäuscht werden konnte. Oder schlimmer noch, wirklich verletzt.
Ein gebrochenes Herz reichte völlig.