Kapitel 2

1379 Words
2 »Wie war’s?« Amanda hatte nach der Stunde auf mich gewartet. »Super. Ich brauche jetzt auf der Stelle ein Snickers.« »Ach, echt?«, fragte sie erstaunt. »Heißt das, du bist nicht mehr auf Diät?« »Ja, so ungefähr.« Ich wusste, dass ich sie mit der Wahrheit schockieren würde. »Gott sei Dank«, erwiderte Amanda. »Ich will dir ja nicht zu nahe treten, Kit Cat, aber du warst die letzten Tage echt schlecht gelaunt. Weißt du, manche Leute brauchen einfach Zucker und Kohlenhydrate.« In dem Moment kam Matt aus dem Klassenzimmer und nickte uns zu. »Hallo, Amanda. Bis dann, Cat.« Natürlich reagierte keine von uns. Normalerweise war Matt nur dann nett zu uns, wenn Amandas Freund Jordan in der Nähe war. Die beiden waren in derselben Schwimmmannschaft, und Jordan erzählte uns andauernd, wie zuverlässig und »klasse« Matt war, was auch immer das heißen sollte. Was es auf jeden Fall hieß, war, dass Matt nach wie vor den meisten Leuten weismachen konnte, ein süßer, charmanter Typ zu sein, der zufälligerweise auch gleich noch ein brillanter Wissenschaftler war. Aber Amanda und ich kannten die Wahrheit. Nur konnten wir die leider nicht mit Jordan oder sonst irgendjemandem teilen. Sollten die anderen doch von Matt halten, was sie wollten. »Ich finde, dass er sich ein kleines bisschen gemacht hat«, meinte Amanda und sah Matt nach, wie er den Korridor hinunterschlenderte. »Vielleicht hat er entdeckt, dass es Kämme gibt.« »Können wir bitte das Thema wechseln?« »Na klar«, erwiderte sie. »Ich habe in der letzten Stunde ein Gedicht geschrieben. Willst du’s hören?« Sie trug es vor, während wir zum Süßigkeitenautomaten gingen. Es gehörte zu einer Serie von Gedichten, in denen sie die geheimen Gedanken von Gegenständen beschrieb. Dieses Mal ging es um einen Saftmixer. Nicht lachen. Oder vielleicht doch. Ihre Gedichte waren witzig gemeint, aber sie waren auch liebenswert und manchmal auf eine gewisse Weise ein bisschen traurig. So wie das vom Mixer. In dem Gedicht hieß es, dass er die Lebensmittel zwar berühren, sie aber nie probieren konnte. Wenn er alles soweit zerkleinert hatte, dass es flüssig war, goss jemand den Inhalt einfach aus. »Immer am Kauen«, schloss Amanda ihren Vortrag, »und wird trotzdem nie satt.« Wir nickten beide in stiller Zustimmung. »Ich find’s super«, sagte ich schließlich. »Fast so gut wie das über den Fernsehsessel.« »Ja«, stimmte Amanda zu, »das war ziemlich gut.« Wir waren am Automaten angekommen, und ich ließ mir nicht nur ein Snickers heraus, sondern auch noch einen Butterfinger und M&Ms. »Wow!«, meinte Amanda. »Das war also kein Scherz.« Ich biss ungefähr die Hälfte von meinem Snickers ab. »Du wirst mich gleich verstehen«, sagte ich mit vollem Mund Ich wartete, bis wir in ihrem Auto saßen, mit dem sie mich zu meinem Nachmittagsjob im Krankenhaus bringen wollte. Ich durfte auf keinen Fall riskieren, dass Mr Fizer oder sonst irgendjemand sah, wie ich ihr das Bild zeigte. Seine Geheimhaltungsregel war ja schön und gut, ich war sogar ziemlich froh darüber, denn das hieß auch, dass niemand mitkriegen würde, was ich machte, bis ich das Ganze im März vorstellte. Doch Amanda musste ich auf jeden Fall in meine Pläne einweihen. »Oh«, sagte Amanda, kaum hatte ich das Bild aus meinem Rucksack gezogen. »Genau«, erwiderte ich. Amanda zeigte auf den Typen gleich neben dem toten Hirsch. »Der da sieht echt geil aus.« »Spinnst du?« »Wieso?«, meinte sie. »Knackiger Hintern, muskulöse Beine – auf so was steh ich.« »Gut zu wissen.« »Wehe, du sagst es Jordan.« Die zweite Hälfte des Snickers hatte ich noch auf dem Parkplatz aufgegessen. Jetzt wickelte ich den Butterfinger aus dem Papier, während ich Amanda alles haarklein erzählte – auch dass ich erst kurz vor Ende der Stunde die rettende Idee gehabt hatte, was ich tun konnte. Die Leute wollen immer gerne wissen, wie wissenschaftliche Entdeckungen gemacht werden. Alle lieben die Geschichte vom Apfel, der auf Newtons Kopf fiel (ein Mythos), oder die von Archimedes, der aus der Badewanne sprang und nackt auf die Straße lief, um »Heureka! Ich hab’s!« zu schreien. (Stimmt.) (Die armen Nachbarn.) Bei mir war der Auslöser der tolle Hintern eines Frühmenschen gewesen. Nicht der des Mannes, der Amanda so entzückt hatte, sondern der der Frau. Als Mr Fizer »Noch zehn Minuten« gerufen hatte, war ich von extremer Panik ergriffen worden. Ich hatte bis dahin nicht einen einzigen guten Gedanken gehabt. Alle anderen dagegen kritzelten hektisch Notizen in ihre Hefte. Alle außer Matt natürlich, der schon fertig war und in aller Ruhe durchlas, was er geschrieben hatte. Es war schrecklich. Ich kniff die Augen zusammen und flehte lautlos meine neuen nackten Freunde an, mir eine Idee zu liefern – irgendeine, was auch immer. Als ich meine Augen wieder aufmachte, fiel mein Blick auf den Frauenhintern. Und dann auf die ganze Frau. Und aus irgendeinem Grund ging mir in diesem Moment durch den Sinn, dass sie eigentlich ganz cool war – sie wirkte stark und entschlossen, den Stein zu schleudern, während die Männer nur herumbrüllten und eine besorgte Miene machten. Und sie war schlank. Nicht mager. Und auch nicht so dürr wie ein Model. Nein, sie war sportlich schlank, wie man es von Athletinnen kannte, und sah so aus, als könnte sie mindestens genau so gut laufen und jagen und kämpfen wie ihre männlichen Gefährten – wenn nicht sogar noch besser. Und in diesem Moment kam mir die zündende Idee: Ich wollte so sein wie sie! Nicht dass ich mir wünschte, mich mit geifernden Hyänen um eine anständige Mahlzeit balgen zu müssen. Nein, ich wollte so aussehen wie sie. Ich wollte – ich weiß, dass das jetzt unglaublich platt klingt, aber die Wissenschaft verlangt nun mal nach der Wahrheit – ich wollte nur einmal in meinem Leben erfahren, wie es sich anfühlte, wenn man wirklich … gut aussah. Oder zumindest besser als jetzt. Vielleicht ja sogar hübsch, falls das möglich war. Es war ja nicht so, dass ich hässlich war, aber ich war auch nicht dumm. Ich wusste, was die Leute dachten, wenn sie mich sahen. Ich konnte jeden Tag eine Stunde damit zubringen, meine Haare zu glätten, mich zu schminken und Klamotten auszuwählen, die zumindest einige meiner Speckrollen überdeckten, doch änderte das alles nichts an der Tatsache, dass ich d**k war und dass alle das wussten. Wenn ich morgens aufwachte, dann kam es mir manchmal so vor, als würde ich in einem riesigen Pyjama aus Fett stecken. Wenn ich nur den Reißverschluss finden würde, dann könnte ich herausschlüpfen und endlich zu leben beginnen. Das war mein »Heureka!«. Als ich diese prähistorische Frau in ihrer ganzen Schönheit ansah, mit den nackten Brüsten und dem Hintern und dem Bauch und allem, und feststellte, wie schlank und fit und stark sie war, hatte ich den genialen Geistesblitz. Wenn Paläoanthropologen ein Skelett finden, dann können sie damit im Labor einen prähistorischen Menschen aus Lehm rekonstruieren. Sie überlegen sich, wie viel Muskelmasse und Fleisch sie draufpacken müssen, damit er echt wirkt, aber eins ist klar: Ein dicker Mensch kommt nie dabei heraus. Aus einem einfachen Grund: Das Skelett eines jeden Menschen ist nämlich für ein ganz bestimmtes Körpergewicht gemacht. Ein schmaler Knochenbau ist für wenige Kilos geschaffen, ein kräftiger hingegen für viel mehr. Und das brachte mich auf den Gedanken, was eine Wissenschaftlerin wohl mit meinem Skelett anfangen würde, wenn sie es in tausend Jahren fände. Sie würde natürlich einen Körper formen, der zu meinen Knochen passte, und glauben, dass ich so ausgesehen hätte. Was nicht stimmte. Denn sie hätte all die Pizzen und die Eiscreme und Schokolade vergessen und was ich sonst all die Jahre noch als Material verwendet hatte, um diese spezielle Version von mir zu modellieren. Da wusste ich, was ich tun konnte. Wenn ich das Thema allerdings zu meiner Forschungsarbeit machen wollte, dann musste ich das Ganze wirklich ernst nehmen. Dann durfte es keinen Rückzieher und kein Mogeln geben. Sobald ich meine Idee an diesem Nachmittag auf einen Zettel geschrieben und diesen zu den Themen der anderen gelegt hatte, hatte ich keine Wahl mehr: Ich musste durchhalten. Schließlich wollte ich eine gute Note bekommen und den Schulwettbewerb gewinnen. Mr Fizer hatte erklärt, er wolle großartige Ideen sehen. Wir sollten kreativ sein, uns wirklich anstrengen und uns mit Leib und Seele unserem Projekt verschreiben. Nun, mit mehr Leib und Seele konnte sich keiner der Forschung widmen. »Ich tu’s«, sagte ich entschlossen zu Amanda. »Ich werde mich in eine Hominini-Frau verwandeln.«
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