Kapitel 1

1672 Words
1 »Sie sind alle gut funktionierende kleine Maschinen«, erklärte Mr Fizer eines Nachmittags. Er saß in seinem Tweedjackett, seinem weißen Hemd und der karierten Fliege vor uns und starrte uns über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. Ein echt furchterregender Anblick. »Sie wissen, wie man Klausuren schreibt«, sagte er. »Sie wissen, wie man Stoff auswendig lernt, und Sie machen alles so, wie wir Lehrer es Ihnen beigebracht haben – aber hat irgendjemand von Ihnen eine Ahnung, wie man wirklich denkt? Genau das wollen wir herausfinden.« Ich weiß, dass ich mich hätte konzentrieren sollen. Ich hätte meinen Blick fest auf Mr Fizer richten sollen, damit mir auch ja kein Wort entging. Sein Unterricht würde eine der größten Herausforderungen werden, denen ich mich in meinem Leben je gestellt hatte. Aber manchmal gehorchte mein Körper einfach nicht. Und dann wanderten meine Augen nach rechts und suchten nach dem einen Gesicht in der Menge – auch wenn ich ihnen schon ein paarmal gesagt hatte, das gefälligst bleiben zu lassen. Und weil die fragliche Menge aus nur neun Schülern bestand, war dieses Gesicht dummerweise leicht aufzuspüren. Leider sah Matt McKinney genau in dem Moment zu mir herüber und unsere Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Und obwohl ich sofort wieder wegsah, war es schon zu spät. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich noch sein blödes Grinsen, und am liebsten hätte ich ihm etwas Spitzes, Schweres an den Kopf geworfen. »Kommen wir nun zu den Regeln«, sagte Mr Fizer. Als ob er uns die Regeln noch hätte erklären müssen. Jeder von uns kannte sie längst – Fizers Projektaufgaben im Fach Wissenschaft und Forschung waren legendär, nicht zuletzt deshalb, weil alle paar Jahre mal jemand gleich am ersten Tag aus dem Klassenzimmer rannte und sich wegen dem ganzen Stress übergab. In weiser Voraussicht hatte ich also kaum etwas zu Mittag gegessen. »Wenn ich Sie gleich aufrufe«, erklärte Mr Fizer, »kommen Sie nach vorne und ziehen mit geschlossenen Augen ein Bild. Dann gebe ich Ihnen eine Stunde Zeit, um eine Fragestellung zu formulieren. Internet oder andere Quellen sind verboten. Sie dürfen sich auch nicht mit Ihren Klassenkameraden besprechen. Einzig Ihre Fantasie steht Ihnen zur Verfügung.« Er machte eine Pause. »Echte wissenschaftliche Ergebnisse«, fuhr er dann fort, »erzielt man nämlich durch intensives Nachdenken, nicht durch bloßes Wiederkäuen dessen, was andere Wissenschaftler vor uns herausgefunden haben. Oder, wie Albert Einstein einmal ganz richtig gesagt hat: Die Fantasie ist wichtiger als Wissen. Unser ganzes Streben sollte darauf ausgerichtet sein, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, um zu wirklich neuen Erkenntnissen zu gelangen. Verstanden?« Wir blieben ihm die Antwort schuldig, denn wir waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, auf die Mappe zu starren, die er in diesem Moment aufschlug und die die Karten für dieses Schuljahr preisgab. Die Karten. Unsere ganze Zukunft lag in der richtigen Wahl. Nur dass in Mr Fizers Fall die Karten kein Satz Spielkarten waren, sondern ein Stapel mit Abbildungen und Fotos, die er im Lauf des Jahres gesammelt hatte – herausgerissene Seiten aus Fachzeitschriften wie ›National Geographic‹, ›Nature‹ oder ›Science‹. Wer Glück hatte, der zog ein Thema, das ihn ohnehin schon interessierte – in meinem Fall, Insekten und Pflanzen und ihre wechselseitige Anpassung im Lauf der Evolution. Ich hatte in den Sommerferien ein Praktikum in einem College-Labor gemacht, und wenn ich ein Foto ziehen würde, auf dem irgendwelche Pflanzen oder Käfer zu sehen waren, würde ich alles verwenden können, was ich dort über Feigenwespen gelernt hatte. Aber man konnte natürlich auch mit irgendetwas zu tun kriegen, was vollkommen jenseits von dem lag, was einen interessierte. Und das war der Grund dafür, dass Leute wie George Garmine im vergangenen Jahr aus dem Klassenzimmer rannten, um erst einmal zu kotzen. Wer das Projekt nämlich vermasselte, der konnte sich gleich auf eine Karriere als kleiner Angestellter an einem unbedeutenden Labor irgendwo in der Provinz einstellen. Einen Spitzenposten würde er garantiert nie ergattern. Wer seine Sache aber gut machte – ich meine, richtig gut –, der bekam nicht nur eine Empfehlung von Mr Fizer für die renommierten Colleges, sondern er gewann möglicherweise sogar den Schulwettbewerb und konnte danach auf nationaler Ebene antreten. Damit hatte man gute Chancen, ein Stipendium zu bekommen und die Professoren zu beeindrucken, die für die Studienplatzvergabe an den richtig guten Colleges verantwortlich waren. Und so konnten sogar Schülerinnen wie ich an der Duke oder Harvard University landen. Einige von Mr Fizers Schülern hatten das jedenfalls geschafft. Das Projekt war also echt wichtig. Wir wollten, dass es endlich losging, aber Mr Fizer hatte noch eine letzte Regel zu verkünden. »Hier ist keine Teamarbeit gefragt«, sagte er. »Sie treten gegeneinander an. Das ist Ihre Chance zu zeigen, dass Sie klar denken und wirklich an Ihrem Thema arbeiten können. In den nächsten sieben Monaten werden Sie also für sich allein arbeiten und ohne darüber zu sprechen. Ich bin der Einzige, mit dem Sie sich über irgendwelche Einzelheiten austauschen können, bis Sie Ihr Projekt beim Wettbewerb im März vorstellen. Alles klar?« Mr Fizer blickte in die Runde. »Gut. Lindsay, wir fangen bei Ihnen an.« Lindsay wischte sich ihre feuchten Hände an der Hose ab und ging langsam nach vorne, gerade so als hätte man ihr gerade gesagt, sie müsse dort einen Giftbecher leeren. Vor Mr Fizers Pult wischte sie sich die Hände noch einmal ab und griff dann in die Karten. Mr Fizer beobachtete sie genau, damit sie auch ja die Augen geschlossen hielt. Nachdem Lindsay ein Bild gezogen hatte, drückte sie es unbesehen gegen ihre Brust und ging zu ihrem Platz zurück. Das schien eine gute Strategie zu sein – man musste ja nicht gerade vor allen ausflippen, wenn man ein schlechtes Los gezogen hatte. Als Nächstes rief Mr Fizer Farah, Alexandra, Margo und Nick auf. Und dann mich. So cool wie möglich ging ich zwischen den Tischen hindurch nach vorne. Und genau in diesem Moment fing ich an über meinen Hintern nachzudenken. Ganz bestimmt starrt Matt McKinney genau jetzt darauf und stellt fest, dass mein Allerwertester um einiges fetter geworden war, seit er ihn sich das letzte Mal angeschaut hatte. Drei Kilo mehr über den Sommer, wirklich Klasse, Cat. Wer hart in einem Labor arbeitete, wie ich das in den Ferien getan hatte, dem blieb am Abend nur noch Zeit für irgendwelches Junkfood. Alle dort waren ganz schön gepolstert. Ich stand also vor Mr Fizers Pult. Meine Hände zitterten. Ich dachte an meine Zukunft, die sich jetzt gleich entscheiden würde. Aber dann dachte ich wieder an meine Schenkel und an meinen Riesenhintern und versuchte, meine Bluse ein bisschen runterzuziehen, um ihn zu kaschieren. Und schließlich schloss ich die Augen und griff nach dem Stapel mit Karten. In diesem Moment hörte ich, wie Matt sich räusperte, so als würde er ein Lachen unterdrücken, und meine Hand zuckte zurück. Und mit dem Bild, das ich dann zog, war mein Schicksal besiegelt. Ich konnte nicht hinsehen. Ich drückte die Karte fest gegen meine Brust und ging zu meinem Platz zurück, während ich versuchte, gleichmäßig zu atmen. Matt war als Nächster an der Reihe. Mr Großmaul, Mr Lässig, Mr Ich-hab-schon-viel-mehr-Forschungswettbewerbe-gewonnen-als-jeder-von-euch. Er zog ein Bild, sah es sich an und grinste. Er grinste tatsächlich. Kein gutes Zeichen. Schnell linste ich nach meinem eigenen Bild. Ach du heilige Scheiße. Das ging ja gar nicht. Ich klatschte das Bild verdeckt auf den Tisch. Das Blut sauste mir in den Ohren. Matt McKinney durfte in diesem Jahr einfach nicht besser sein als ich. Bitte! Es musste doch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit geben, schließlich hatte ich ihn bislang nur einmal geschlagen, und zudem war das der schrecklichste Tag meines ganzen Lebens gewesen. Es wäre wirklich nur fair, noch einmal zu gewinnen und den Sieg dieses Mal länger als fünf Minuten zu genießen. Kiona und Alyssa mussten als Letzte nach vorne. Sie sahen genauso miserabel aus, wie ich mich fühlte. Und dann ging es los. »Jeder sucht sich ein Plätzchen«, wies Mr Fizer uns an und sah auf die Uhr. »Die Zeit läuft.« Alle stieben auseinander, um einen Platz zu finden, an dem sie ungestört nachdenken konnten. Ich entschied mich für eine kleine Nische zwischen der Wand und einem Aktenschrank und ließ mich die Wand hinunter zu Boden gleiten. Dann drehte ich die Karte um und stellte mich der Realität. Das Bild war schrecklicher, als ich befürchtet hatte. Nackte Neandertaler. Nein, stopp. Keine Neandertaler, sondern etwas noch Älteres – Homo erectus, um genau zu sein. »Hominini vor 1,8 Millionen Jahren« lautete die Bildunterschrift. Na super. Extrem wichtig für mein Leben und ganz nah dran an den Feigenwespen. Ich blickte verstohlen zu Matt hinüber. Seinem selbstgefälligen Grinsen nach zu schließen, hatte er wohl etwas gezogen, was genau zu seinem Hobby passte – Astronomie. Wahrscheinlich ein Foto vom Hubble-Teleskop oder eines von der Marsexpedition oder vielleicht der Computersimulation eines schwarzen Lochs. Eine einfache, passende Aufgabe, für die er sich nicht besonders anstrengen musste. So war das immer bei Matt. Aber ich durfte jetzt keine Zeit an Matt verschwenden, sondern musste an mich denken. Ich starrte wieder auf mein Bild. Irgendein Künstler hatte dargestellt, wie diese Frühmenschen wohl gelebt haben. Auf dem Gemälde waren drei Männer und eine Frau auf einer Art Wiese. Sie waren alle hager und muskulös und von der Sonne gegerbt – sagte ich schon, dass sie nackt waren? - und standen um einen toten Hirsch herum, den sie vor ein paar Hyänen bewachten, die danach schnappen wollten. Einer der Männer schrie und die Frau hatte als Einzige eine Waffe – einen Stein – , den sie gleich auf die Hyänen werfen wollte. Eine super Action-Szene, wenn man sich für die Entwicklungsgeschichte des Menschen interessierte, bei der es mehr um die Toten als um die Lebenden ging. Mein Thema war es allerdings nicht und würde es auch nicht werden. Nackte Frühmenschen und Hyänen. Wirklich super. Darum würde sich also mein Leben in den nächsten sieben Monaten drehen, dachte ich. Matt würde einen weiteren Erfolg für sich verbuchen und ich die nächste Niederlage. Zu dem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, wie genial sich die Sache tatsächlich entwickeln würde.
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