KAPITEL VIER
Ungefähr eine halbe Stunde später fuhr Riley auf den Parkplatz in Quantico ein. Als sie Meredith gefragt hatte, wie bald er sie sehen wollte, hatte sie eine ernstliche Dringlichkeit in seiner Stimme gespürt…
„Vor einer Stunde. Noch eher, wenn’s geht.“
Natürlich war es fast immer so, dass die Zeit davonlief, wenn Meredith sie zuhause anrief. Manchmal ganz wörtlich, wie in ihrem letzten Fall. Der sogenannte Sandmann hatte Sanduhren benutzt um die Stunde zu bestimmen, zu der sein nächster brutaler Mord verrichtet werden würde.
Etwas in Merediths Ton verriet aber, dass die Situation heute auf irgendeine Weise einzigartig war.
Als sie parkte bemerkte sie Bill und Jenn, die auch gerade in ihren Autos auffuhren. Sie stieg aus und wartete auf sie.
Ohne viele Worte machten sich die drei auf den Weg zum Gebäude. Riley sah, dass Bill und Jenn genau wie sie ihre Reisetaschen mitgenommen hatten. Sie wussten alle, dass sie höchstwahrscheinlich kurzerhand Quantico verlassen würden.
Sie identifizierten sich am Eingang und betraten das Gebäude um Chief Merediths Büro aufzusuchen. Sobald sie zu seiner Tür gelangt waren sprang der kräftige und imposante Afro-Amerikaner hinaus zu ihnen auf den Flur. Er war offensichtlich über ihre Ankunft in Kenntnis gesetzt worden.
„Keine Zeit eine Konferenz abzuhalten“, grummelte er die drei Agenten an. „Wir müssen im Gehen sprechen.“
Als sie Meredith nacheilten bemerkte Riley, dass sie direkt auf Quanticos Landebahn zusteuerten.
Wir haben es ja wirklich eilig, dachte Riley. Es war ungewöhnlich, nicht einmal ein kurzes Treffen abzuhalten, um sie über den neuen Fall aufzuklären.
In großen Schritten neben Meredith schreitend fragte Bill ihn: „Worum geht’s denn, Chief?“
Meredith antwortete: „In diesem Moment liegt ein enthaupteter toter Körper auf den Eisenbahnschienen in der Nähe von Barnwell, Illinois. Es ist eine Linie, die von Chicago ausgeht. Eine Frau wurde vor nur wenigen Stunden an die Gleise gebunden und von einem Güterzug überfahren. Es ist der zweite solche Mord in vier Tagen und scheinbar gibt es überwältigende Ähnlichkeiten zwischen den Fällen. Es sieht ganz nach einer Serie aus.“
Meredith legte in seinem Schritt zu und die drei Agenten hasteten ihm nach, um nicht zurückzubleiben.
Riley fragte: „Und wer hat das FBI angerufen?“
Meredith antwortete: „Ich habe den Anruf von Jude Cullen bekommen, dem Deputy Chief der Eisenbahnpolizei des Raums Chicago. Er meinte, er brauche sofort Fallanalysten vor Ort. Ich habe ihm aufgetragen, den Körper zu lassen, wo er ist, bis ihn sich meine Agenten angeschaut haben.
Meredith schnaubte.
„Das ist ziemlich viel verlangt. Drei weitere Güterzüge und ein Passagierzug sollen heute noch die Strecke fahren. Die Verzögerungen richten jetzt schon richtiges Chaos an, deshalb müssen Sie sobald wie möglich zum Tatort um den Körper inspizieren zu können. Erst danach kann er bewegt werden und die Züge können wieder fahren. Naja und dann…“
Meredith schnaubte wieder.
„Dann müssen Sie den Killer aufhalten. Und ich bin mir sicher, dass wir uns alle darüber einig sein können: er wird wieder morden. Abgesehen davon wissen sie jetzt genau so viel über den Fall wie ich. Cullen wird Ihnen alle anderen Einzelheiten selbst erzählen müssen.“
Die Gruppe betrat das Rollfeld der Landebahn, wo ein kleiner Jet mit laufenden Motoren bereits auf sie wartete.
Gegen den Lärm anbrüllend, rief Meredith ihnen zu: „Sie werden am O’Hare Airport von ein paar Eisenbahnpolizisten empfangen. Die fahren Sie dann direkt zum Tatort.“
Meredith machte kehrt und begab sich auf den Weg zurück zum Gebäude. Riley und ihre Kollegen stiegen die Treppe hinauf und gingen an Bord. Die Hastigkeit ihrer Abreise hinterließ ein Gefühl des Schwindels bei Riley. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Meredith sie jemals so hinausgehetzt hatte.
Aber es überraschte nicht, wenn man bedachte, dass der Zugverkehr durch den Vorfall behindert war. Riley konnte sich nur ausmalen, welch enorme Schwierigkeiten dies gerade bereitete.
Sobald das Flugzeug in der Luft war holten die drei Agenten ihre Laptops heraus um zu versuchen die wenigen Informationen, die zu diesem Zeitpunkt womöglich bereits vorlagen, zu recherchieren.
Riley stellte schnell fest, dass die Neuigkeiten bezüglich des letzten Mordes sich bereits verbreitet hatten, obwohl der Name des Opfers noch nicht vorlag. Sie fand aber heraus, dass der Name des vorherigen Opfers Fern Bruder war. Es handelte sich um eine 25-jährige Frau, dessen enthaupteter Körper auf den Zuggleisen in der Nähe von Allardt, Indiana aufgefunden wurde.
Riley fand nicht sehr viel mehr über die Morde. Sollte die Eisenbahnpolizei bereits Verdächtige haben oder ein Motiv vermuten, so hatte diese Information die Öffentlichkeit noch nicht erreicht –– und das war gut so, wie Riley wusste.
Trotzdem war es frustrierend gerade nicht mehr herausfinden zu können.
Da sie sich gegenwärtig nicht mit dem Fall beschäftigen konnte, versank Riley in Gedanken darüber, was soweit heute geschehen war. Sie fühlte immer noch den Schmerz, den der Verlust von Liam hinterlassen hatte –– allerdings erkannte sie auch…
„Verlust“ ist nicht wirklich das treffende Wort.
Nein, sie und ihre Familie hatten ihr Bestes für den Jungen gegeben. Und nun ergab es sich noch besser für Liam, dass er in der Obhut von Menschen war, die ihn liebten und sich gut um ihn sorgen würden.
Gleichzeitig fragte Riley sich…
Wieso fühlt es sich dann wie ein Verlust an?
Riley war auch zwiegespalten was Aprils Pistole und ihr Schießtraining anging. Die Reife, die April gezeigt hatte, machte Riley auf jeden Fall stolz, genauso wie ihre zunehmende Treffsicherheit. Auch war Riley zutiefst berührt, dass April in ihre Fußstapfen folgen wollte.
Und doch… Riley konnte nicht anders, als sich vor Augen zu führen…
Ich bin auf dem Weg zu einem enthaupteten Körper.
Ihre gesamte Karriere war eine lange Aneinanderreihung von Grausamkeiten. War das wirklich das Leben, dass sie sich für April wünschte?
Es ist nicht meine Entscheidung, dachte Riley. Es ist ihre.
Riley fühlte sich auch komisch wegen des schwierigen Gesprächs, dass sie vorhin mit Jenn gehalten hatte. So vieles war unausgesprochen geblieben und Riley hatte keine Ahnung, was gerade möglicherweise zwischen Jenn und Tante Cora vorgehen könnte. Jetzt war aber natürlich auch nicht der richtige Zeitpunkt das alles anzusprechen –– nicht jetzt in Bills Gegenwart.
Riley konnte nicht anders, als sich zu fragen…
Hat Jenn Recht? Sollte sie vielleicht doch ihre Dienstmarke ablegen?
Machte Riley alles vielleicht schlimmer für die junge Agentin, indem sie sie ermutigte weiterhin beim FBI zu bleiben?
Und war Jenn gerade in der richtigen Verfassung um einen neuen Fall anzufangen?
Riley schaute zu Jenn hinüber, die in ihrem Sitz versunken angestrengt auf ihren Computer starrte.
Jenn schien gerade voll und ganz bei der Sache zu sein –– sehr viel mehr als Riley, jedenfalls.
Rileys Gedanken wurden von Bills Stimme unterbrochen.
„An die Bahngleise gefesselt. Das klingt fast wie…“
Riley sah, dass auch Bill auf seinen Bildschirm schaute.
Er hielt inne, aber Jenn führte seinen Satz zu Ende.
„Wie einer dieser alten Stummfilme, oder? Ja, das dachte ich mir auch.“
Bill schüttelte den Kopf.
„Ich will mich natürlich nicht darüber lustig machen, aber… ich muss andauernd an einen schnurrbärtigen Bösewicht im Zylinderhut denken, der ein junges Fräulein an die Gleise fesselt bis irgendein flotter Held eintrifft um sie zu retten. War das nicht das Standardszenario all dieser Stummfilme?“
Jenn zeigte auf ihren Bildschirm.
„Naja, eigentlich nicht wirklich. Ich habe das mal recherchiert. Es ist ein Motiv, ein Klischee. Und jeder meint es irgendwann mal so gesehen zu haben. Aber es ist nie tatsächlich so in irgendeinem Stummfilm verfilmt worden. Jedenfalls nicht als ernsthafte Geschichte.“
Jenn drehte ihren Bildschirm zu Bill und Riley, sodass sie ihn sehen konnten.
Sie führte aus: „Das erste fiktionale Beispiel eines Bösewichts, der jemanden an Bahngleise fesselt scheint lange vor dem Film erschaffen geworden zu sein. Es handelt sich um das 1867 erschienene Theaterstück „Unter dem Gaslicht“. Aber –– passt auf! –– der Bösewicht fesselte einen Mann an die Gleise und es war die Protagonistin, die ihn befreien musste. Dasselbe Motiv kommt in einer Kurzgeschichte und einigen anderen Theaterstücken dieser Zeit vor.“
Riley sah, dass Jenn ziemlich vereinnahmt war von dem, was sie herausgefunden hatte.
Jenn fuhr fort: „Was alte Filme angeht, es gab da grad mal zwei Stummkomödien, in denen genau das passierte –– eine kreischende, hilflose junge Dame wurde von einem heimtückischen Schurken an die Bahngleise gefesselt und wurde dann von einem schönen Helden wieder befreit. Aber die waren der Lacher halber, so wie Zeichentrickfilme am Samstagmorgen.“
Bills Augen weiteten sich vor Interesse.
„Parodien auf etwas, was nie wirklich existiert hatte“, sagte er.
„Genau“, sagte Jenn.
Bill schüttelte den Kopf.
Er sagte: “Aber Dampflokomotiven waren zu diesen Zeiten eine alltägliche Sache –– in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, meine ich. Gab es keine Stummfilme, die jemanden darstellten, der in Gefahr war von einem Zug überfahren zu werden?“
„Doch, klar“, sagte Jenn. „Manchmal fielen Figuren auf die Gleise oder wurden geschubst und durch den Fall K.O. geschlagen. Aber das ist nicht dasselbe Szenario, oder? Außerdem waren die Filmfiguren meistens Männer, wie in dem Theaterstück, und mussten von der weiblichen Heldin gerettet werden.“
Riley war nun ganz Ohr. Sie wusste genau, dass Jenn nicht ihre Zeit vergeudete, wenn sie solche Dinge recherchierte. Sie mussten alles wissen, was einen Killer womöglich antreiben könnte. Es könnte sich als nützlich erweisen die kulturellen Vorläufer der Szenarien, mit denen sie zu tun hatten, zu kennen und zu verstehen–– selbst, wenn diese womöglich fiktional waren.
Oder in diesem Fall, nichtexistent, dachte Riley.
Alles, was den Killer möglicherweise beeinflusst hatte, könnte relevant werden.
Sie dachte einen Moment lang nach, fragte dann Jenn: „Bedeutet das, dass es keine realen Fälle gab, in denen Menschen umgebracht wurden, indem sie an Bahngleise gefesselt wurden?“
„Nein, es ist tatsächlich auch mal passiert“, antwortete Jenn, auf den Bildschirm zeigend. „Zwischen 1874 und 1910 sind mindestens 6 Menschen so umgekommen. Ich kann gerade keine anderen Beispiele seit dieser Zeit ausfindig machen, außer dieses eine, das erst vor Kurzem passiert ist. Es ging um ein entfremdetes Ehepaar in Frankreich. Der Mann hatte damals seine Frau an ihrem Geburtstag an die Gleise gefesselt und warf sich gleichzeitig selber vor den Zug um mit ihr zu sterben –– ein erweiterter Selbstmord also. Ansonsten scheint das eine ziemlich unübliche Art um jemanden umzubringen. Und in keinem dieser Fälle handelte es sich um eine Mordserie.“
Jenn drehte ihren Computerbildschirm wieder zu sich und schwieg.
Riley ließ sich eine Phrase, die Jenn benutzt hatte, durch den Kopf gehen …
„…eine ziemlich unübliche Art jemanden umzubringen.“
Riley dachte sich…
Unüblich, aber nicht unerhört.
Jetzt fragte sie sich, ob die Mordfälle zwischen 1874 und 1910 alle von diesen alten Theaterstücken inspiriert waren, in denen die Figuren an Gleise gefesselt wurden. Riley konnte sich in der jüngsten Vergangenheit auch an andere grauenhafte Umsetzungen von Kunst ins eigentliche Leben erinnern –– dort waren Mörder von Büchern oder Filmen oder Videospielen inspiriert worden.
Vielleicht hatten sich die Dinge gar nicht so sehr verändert.
Vielleicht hatten sich die Menschen gar nicht so sehr verändert.
Und was war mit dem Killer, nach dem sie sich bald auf die Suche machen würden?
Es schien lächerlich anzunehmen, dass sie nach einem Psychopaten suchten, der einen heimtückischen, melodramatischen, Schnurrbart-zwirbelnden Bösewicht nachahmte, welcher nie wirklich existiert hatte –– nicht einmal im Film.
Aber was könnte dann diesen Killer antreiben?
Die Situation war ihr klar und allzu gut bekannt. Riley und ihre Kollegen würden diese Frage so bald wie möglich beantworten müssen, sonst würden weitere Menschen sterben.
Riley sah Jenn dabei zu, wie diese an ihrem Laptop arbeitete. Es war ein ermutigender Anblick. Gegenwärtig schien Jenn ihre Sorgen was die mysteriöse “Tante Cora” anging beiseite gelegt zu haben.
Doch wie lange wird das anhalten? fragte sich Riley.
Jenns Anblick rief Riley zurück zu ihren eigenen Rechercheaufgaben. Sie hatte nie an einem Fall gearbeitet der Züge involvierte und musste sich daher noch vieles aneignen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Bildschirm.
*
Genau wie Meredith es versprochen hatte, wurden Riley und ihre Kollegen in O’Hare von zwei uniformierten Eisenbahnpolizisten empfangen. Alle stellten sich vor und Riley stieg zusammen mit Bill und Jenn in den Dienstwagen.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte der Polizist, der im Beifahrersitz saß. Die Eisenbahnlobby macht dem Chief grade echt die Hölle heiß, weil die Leiche immer noch auf den Gleisen ist.“
Bill fragte: „Wie lange brauchen wir denn dahin?“
Der Polizist am Lenkrad antwortete: „Normalerweise `ne Stunde, aber wir werden nicht solange brauchen.“
Er schaltete die Lichter und Sirene ein und das Auto begann sich durch den dichten Feierabendverkehr zu winden. Es war eine angespannte, chaotische, sehr schnelle Fahrt, die sie schließlich zu einem kleinen Städtchen Namens Barnwell, Illinois brachte. Kurz nachdem sie den Ort passierten, kamen sie an einer Eisenbahnkreuzung vorbei.
Der Polizist im Beifahrersitz zeigte aus dem Fenster.
„Es sieht ganz danach aus, als wäre der Killer in einem Geländewagen genau hier von der Straße abgebogen und die Gleise entlang gefahren bis zu dem Ort, an dem er mordete.“