Kapitel 1
Wenigstens hat der Gestank noch nicht eingesetzt, dachte Spezialagent Bill Jeffreys.
Während er sich noch über die Leiche beugte, konnte er nicht verhindern, dass ihm erste Anzeichen davon in die Nase stiegen. Er vermischte sich mit dem frischen Geruch von Tannen und dem klaren Dunst, der aus dem Bach aufstieg; der Leichengeruch, an den er sich schon vor langer Zeit gewöhnt haben sollte. Aber das würde er wohl nie.
Der nackte Körper der Frau war sorgfältig auf einem großen Felsen neben dem Bach drapiert worden. Sie saß aufrecht, gegen einen weiteren Felsen gelehnt, Beine gerade und gespreizt, ihre Hände an der Seite. Ein seltsamer Knick in ihrem rechten Arm war sichtbar, der auf einen gebrochenen Knochen hinwies. Das gelockte Haar war offensichtlich eine Perücke, strähnig und mit sich beißenden Blondtönen. Ein pinkes Lächeln war mit Lippenstift auf ihren Mund geschmiert.
Die Mordwaffe war noch um ihren Hals gewickelt; sie war mit einer pinken Schleife erdrosselt worden. Eine künstliche Rose lag vor ihr auf dem Felsen, neben ihren Füßen.
Bill versuchte sanft ihre linke Hand anzuheben. Sie bewegte sich keinen Zentimeter.
“Sie befindet sich noch in der Leichenstarre,” sagte Bill zu Agent Spelbren, der auf der anderen Seite neben der Leiche hockte. “Ist nicht länger als vierundzwanzig Stunden tot.”
“Was ist mit ihren Augen?” fragte Spelbren.
“Festgenäht mit einem schwarzen Faden,” antwortete er ohne sich die Mühe zu machen näher hinzusehen.
Spelbren starrte ihn ungläubig an.
“Sehen sie selber nach,” sagte Bill.
Spelbren betrachtete die Augen.
“Mein Gott,” murmelte er leise. Bill bemerkte, dass er nicht vor Abscheu zurückschreckte. Das wusste er zu schätzen. Er hatte mit anderen Agenten gearbeitet—einige davon gleichermaßen erfahren wie Spelbren—die sich spätestens an dieser Stelle die Seele aus dem Leib kotzten.
Bill hatte bisher noch nicht mit ihm gearbeitet. Spelbren war vom Büro in Virginia für diesen Fall gerufen worden. Es war Spelbrens Idee gewesen jemanden vom BAU, der Abteilung für Verhaltensanalyse, in Quantico zu rufen. Deshalb war Bill hier.
Kluge Entscheidung, dachte Bill.
Bill konnte sehen, dass Spelbren einige Jahre jünger war als er selbst, aber er hatte trotzdem ein verwittertes, von Erfahrungen gezeichnetes Gesicht, das ihm sympathisch war.
“Sie trägt Kontaktlinsen,” bemerkte Spelbren.
Bill sah sich die Augen näher an. Er hatte recht. Das schaurige, künstliche Blau brachte ihn dazu den Blick abzuwenden. Es war kühl hier unten neben dem Bach am frühen Morgen, aber die Augen waren schon tief in die Sockel gefallen. Es würde schwer werden den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Bill war sich sicher, dass die Leiche in der Nacht hierher gebracht und positioniert worden war.
Er hörte eine Stimme in der Nähe.
“Verdammte FBI Typen.”
Bill blickte auf und sah die drei örtlichen Polizisten, die einige Meter entfernt standen. Sie wisperten jetzt wieder unhörbar, weshalb Bill wusste, dass er die drei Worte hatte hören sollen. Sie waren von Yarnell ganz in der Nähe und nicht froh darüber, dass das FBI aufgetaucht war. Sie dachten, sie könnten mit dem Fall auch alleine umgehen.
Der leitende Parkwächter des Mosby State Park hatte das allerdings anders gesehen. Er war es nicht gewohnt etwas Schlimmeres als Vandalismus, Abfall und illegales Fischen oder Jagen zu sehen und er war sich sicher gewesen, dass die örtlichen Polizisten damit nicht fertig werden würden.
Bill war mit dem Helikopter die mehr als hundert Meilen gekommen, damit er den Tatort erreichte, bevor die Leiche bewegt wurde. Der Pilot war den Koordinaten zu einer Lichtung in der Nähe der Hügelspitze gefolgt, wo der Parkwächter und Spelbren ihn erwartet hatten. Der Parkwächter hatte sie die restliche Strecke über einen kleinen Waldweg gefahren und als sie hielten, konnte Bill den Tatort von der Straße aus sehen. Es war nur ein kurzer Weg bis zum Bach.
Die Polizisten, die ungeduldig in der Nähe standen, waren bereits über den Tatort gegangen. Bill wusste genau, was sie dachten. Sie wollten diesen Fall alleine lösen; ein paar FBI Agenten waren das Letzte, was sie sehen wollten.
Sorry, ihr Hinterwäldler, dachte Bill, aber ihr habt keine Ahnung mit was ihr es zu tun habt.
“Der Sheriff denkt, dass es um Menschenhandel geht,” sagte Spelbren. “Er liegt falsch.”
“Warum sagen Sie das?” fragte Bill. Er wusste die Antwort selbst, aber er wollte einen Eindruck davon bekommen, wie Spelbrens Kopf arbeitete.
“Sie ist Mitte dreißig, nicht mehr sehr jung,” sagte Spelbren. “Schwangerschaftsstreifen, also hat sie mindestens ein Kind. Nicht der Typ, der normalerweise gehandelt wird.”
“Sie haben recht,” sagte Bill.
“Aber was ist mit der Perücke?”
Bill schüttelte den Kopf.
“Ihr Kopf wurde rasiert,” erwiderte er, “ also wofür auch immer die Perücke war, sie dient nicht dazu ihre Haarfarbe zu ändern.”
“Und die Rose?” fragte Spelbren. “Eine Nachricht?”
Bill betrachtete sie genauer.
“Billiges Fabrikat,” antwortete er. “Die Art, die man in jedem billigen Laden findet. Wir werden sie nachverfolgen, aber wahrscheinlich nichts herausfinden.”
Spelbren sah ihn eindeutig beeindruckt an.
Bill bezweifelte, dass irgendetwas, das sie fanden, ihnen weiterhelfen würde. Der Mörder war zu methodisch, zu vorsichtig. Die ganze Szene war mit einem gewissen Stil ausgerichtet worden, der ihn nervös machte.
Er sah, wie die Polizisten näherkamen um einzupacken. Fotos waren gemacht und die Leiche würde jeden Moment abtransportiert werden.
Bill stand auf und seufzte, als er die Steifheit in seinen Beinen spürte. Seine Vierzig Jahre fingen an sich langsam zu zeigen, wenn auch nur ein wenig.
“Sie wurde gefoltert,” kommentierte er bedrückt. “Sehen sie sich all die Schnitte an. Einige verheilen schon wieder.” Er schüttelte düster den Kopf. “Jemand hat sie tagelang bearbeitet, bevor er sie mit dieser Schleife getötet hat.”
Spelbren seufzte.
“Der Täter war über irgendetwas wirklich wütend,” sagte Spelbren.
“Hey, wann können wir denn einpacken?” rief einer der Polizisten.
Bill sah in ihre Richtung und zwei von ihnen grummelten leise vor sich hin. Bill wusste, dass die Arbeit hier getan war, aber er sagte es nicht. Er zog es vor diese Dummköpfe warten zu lassen.
Er drehte sich langsam um und betrachtete die Szene. Es war ein dicht bewaldetes Gebiet, alles Tannen und Zedern und viel Unterholz, mit einem Bach, der an dieser friedlichen und idyllischen Szene vorbei in den nächsten Fluss plätscherte. Selbst jetzt, im Hochsommer, würde es hier heute nicht besonders heiß werden, also würde auch die Leiche nicht sofort verrotten. Es wäre trotzdem besser sie hier rauszubekommen und nach Quantico bringen zu lassen. Die Gerichtsmediziner dort würden sich die Leiche wahrscheinlich gerne ansehen, während sie noch einigermaßen frisch war. Der Wagen des Gerichtsmediziners stand wartend hinter dem geparkten Streifenwagen.
Der Weg bestand aus nicht mehr als parallelen Spurrillen durch den Wald. Der Mörder musste hier ebenfalls entlanggefahren sein. Er hatte aber sicherlich nicht viel Zeit hier verbracht. Auch wenn das Gebiet abgelegen erschien, fuhren die Parkwächter regelmäßig Kontrolle und private Wagen waren hier nicht erlaubt. Er hatte gewollt, dass die Leiche gefunden wird. Er war stolz auf sein Werk.
Und sie war gefunden worden, von einem Pärchen frühmorgendlicher Reiter. Touristen auf gemieteten Pferden laut dem Parkwächter. Sie waren Urlauber aus Arlington, die sich auf einer Western Ranch gleich vor Yarnell eingemietet hatten. Laut dem Parkwächter waren sie vollkommen außer Fassung. Ihnen war gesagt worden, sie sollten die Stadt nicht verlassen und Bill plante sich später mit ihnen zu unterhalten.
Um die Leiche herum schien nichts Ungewöhnliches zu sein. Der Kerl war sehr vorsichtig gewesen. Er hatte etwas hinter sich hergezogen, als er vom Bach zurück zu seinem Auto ging – vielleicht eine Schaufel – um seine Fußspuren zu verwischen. Keine Spur von etwas, das absichtlich oder versehentlich zurückgelassen wurde. Alle Reifenspuren, die möglicherweise da gewesen waren, hatten die Streifenwagen und der Gerichtsmediziner zerstört.
Bill seufzte.
Verdammt, dachte er. Wo ist Riley wenn ich sie brauche?
Seine langjährige Partnerin und beste Freundin hatte Zwangsurlaub, um sich von dem Trauma ihres letzten Falles zu erholen. Und das war ein wirklich schlimmer gewesen. Sie brauchte die Zeit, und um die Wahrheit zu sagen, es bestand die Möglichkeit, dass sie nicht zurückkommt.
Aber er brauchte sie jetzt wirklich. Sie war viel klüger als Bill und es macht ihm nichts aus das zuzugeben. Er liebte es ihrem Kopf dabei zuzusehen, wie er arbeitete. Er stellte sie sich vor, wie sie die Szene auseinandernahm und jedes noch so kleinste Detail beachtete. Sie würde ihn wegen der offensichtlichen Hinweise aufziehen, die ihm mitten ins Gesicht gestarrt hatten.
Was würde Riley hier sehen, das Bill nicht gesehen hatte?
Er fühlte sich ahnungslos und das Gefühl mochte er gar nicht. Aber es gab nichts, was er jetzt noch daran machen konnte.
“Okay, Jungs,” rief Bill den Polizisten zu. “Bringt die Leiche weg.”
Die Polizisten lachten und klatschen sich ab.
“Denken Sie, er wird es wieder tun?” fragte Spelbren.
“Da bin ich mir sicher,” sagte Bill.
“Woher wissen Sie das?”
Bill atmete tief durch.
“Weil ich seine Arbeit schon einmal gesehen habe.”