Prolog
Ein schmerzhafter Muskelkrampf ließ Rebeccas Kopf nach oben schnellen. Sie riss an den Seilen, die ihren Körper fesselten. Ihr Bauch war vertikal an das Rohr gebunden, das in der Mitte des kleinen Raumes durch Schrauben an der Decke und am Boden fest verankert war. Ihre Handgelenke waren vor ihr gefesselt und ihre Knöchel waren ebenfalls mit einem Seil zusammengebunden.
Sie bemerkte, dass sie weggedöst sein musste und war sofort hellwach als die Angst sie wieder durchfuhr. Sie wusste, dass der Mann sie töten würde. Stück für Stück, Wunde für Wunde. Er hatte es nicht auf ihren Tod abgesehen und auch nicht auf s*x. Er wollte nur ihren Schmerz.
Ich muss wach bleiben, dachte sie. Ich muss hier raus. Wenn ich wieder einschlafe, dann sterbe ich.
Trotz der Hitze in dem kleinen Zimmer zitterte ihr nackter Körper vor kaltem Schweiß. Sie sah an sich herunter. Ihre Füße standen barfuß auf dem Hartholzboden. Die Fläche um ihre Füße herum war übersät mit getrockneten Blutflecken; ein sicheres Zeichen dafür, dass sie nicht die erste Person war, die er hier festgehalten hatte. Ihre Panik vertiefte sich.
Er war weggegangen. Die einzige Tür im Raum war verschlossen, aber er würde zurückkommen. Er kam immer zurück. Und dann würde er alles tun, was er konnte, um sie zum Schreien zu bringen. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt und sie hatte keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war. Das einzige Licht kam von einer nackten Glühbirne die an der Decke baumelte. Wo auch immer dieser Ort war, es schien als könnte sie niemand schreien hören.
Sie fragte sich, ob dieses Zimmer früher einmal das Schlafzimmer eines kleinen Mädchens gewesen war; es war, auf groteske Weise, pink mit Verschnörkelungen und Märchenmotiven an den Wänden. Jemand—sie nahm an ihr Kidnapper—hatte seitdem den Raum verwüstet. Kleine Tische und Stühle waren zerbrochen und der Boden war übersät mit den zerrissenen Körpern von Kinderpuppen. Kleine Perücken—die der Puppen, dachte Reba—waren wie kleine Skalpe an die Wand genagelt. Die meisten waren aufwendig geflochten, aber alle hatten die unnatürlichen Farben von Spielzeug. Ein heruntergekommener, pinker Schminktisch stand aufrecht an einer Wand; sein herzförmiger Spiegel war in kleine Stücke zersprungen. Das einzige andere noch intakte Möbelstück war ein schmales Himmelbett mit einem zerrissenen pinken Baldachin. Ihr Kidnapper ruhte sich manchmal dort aus.
Der Mann beobachtete sie dann von dort mit dunklen, wachsamen Augen unter seiner Skimaske. Zuerst hatte sie in der Tatsache, dass er eine Maske trug, etwas Trost gefunden. Wenn er nicht wollte, dass sie sein Gesicht sah, hieß das doch, dass er nicht vorhatte sie zu töten und sie vielleicht gehen lassen würde, oder etwa nicht?
Aber sie verstand bald, dass die Maske einen anderen Zweck erfüllte. Sie konnte trotz der Maske sehen, dass sich dahinter ein fliehendes Kinn und ein schiefe Stirn versteckten, und sie war sich sicher, dass die Gesichtszüge des Mannes schwach und einfältig waren. Er war stärker als sie, aber kleiner, was ihn vermutlich unsicher machte. Sie nahm an, er trug die Maske um furchteinflößender zu wirken.
Sie hatte aufgehört zu versuchen ihn durch reden davon abzuhalten sie zu verletzen. Zuerst hatte sie gedacht sie könnte es schaffen. Sie wusste schließlich, dass sie hübsch war. Oder zumindest war ich das einmal, dachte sie traurig.
Schweiß und Tränen mischten sich auf ihrem zerschrammten Gesicht und sie konnte das getrocknete Blut in ihren langen blonden Haaren fühlen. Ihre Augen brannten; er hatte sie gezwungen Kontaktlinsen einzusetzen und sie erschwerten es zu sehen.
Gott weiß wie ich jetzt aussehe.
Sie ließ den Kopf fallen.
Stirb jetzt, flehte sie sich selber an.
Das sollte einfach genug sein. Sie war sich sicher, dass andere vor ihr hier gestorben waren.
Aber sie konnte es nicht. Nur daran zu denken ließ ihr Herz schneller schlagen, ihren Atem heftiger werden, sich gegen das Seil um ihren Bauch wehren. Langsam, als sie verstand, dass sie ihrem unmittelbaren Tod bevorstand, stieg ein neues Gefühl in ihr auf. Es war weder Panik noch Angst. Es war keine Verzweiflung. Es war etwas anderes.
Was fühle ich?
Dann wurde ihr klar, es war Wut. Nicht auf ihren Kidnapper. Sie hatte ihre Wut auf ihn schon lange verbraucht.
Ich bin es, dachte sie. Ich tue was er will. Wenn ich schreie und heule und schluchze und bettele, dann tue ich was er will.
Jedes Mal, wenn sie die kalte, fade Brühe schluckte, mit der er sie durch einen Strohhalm fütterte, tat sie, was er wollte. Jedes Mal, wenn sie erbärmlich jammerte, dass sie die Mutter zweier Kinder war, die sie brauchten, bereitete sie ihm größtes Vergnügen.
Ihr Verstand klärte sich mit neuer Entschlossenheit und sie hörte auf sich gegen die Seile zu drücken. Vielleicht musste sie eine andere Taktik probieren. Sie hatte sich so stark gegen die Seile gewehrt. Vielleicht war das der falsche Ansatz. Sie waren wie diese kleinen Bambusspielzeuge—die chinesischen Fingerfallen, wo man seine Finger jeweils in ein Ende steckte und je stärker man zog, desto weniger konnte man seine Finger befreien. Vielleicht war der Trick einfach sich zu entspannen; absichtlich und vollkommen. Vielleicht war das ihr Weg nach draußen.
Muskel für Muskel ließ sie ihren Körper erschlaffen und fühlte dabei jede Wunde, jede Verletzung, wo ihre Haut die Seile berührte. Und langsam merkte sie, wo die Spannung der Seile lag.
Sie hatte gefunden, was sie brauchte. Da war eine kleine Lockerung um ihren rechten Knöchel. Aber es würde nichts bringen zu ziehen, zumindest noch nicht. Nein, sie musste ihre Muskeln entspannt halten. Sie wackelte sanft mit ihrem Knöchel, ganz leicht, bis sich das Seil lockerte und sie mit mehr Kraft zog.
Schließlich, zu ihrer Freude und Überraschung, sprang ihre Ferse aus dem Seil und sie konnte ihren ganzen rechten Fuß herausziehen.
Sie suchte sofort den Boden ab. Nur etwa dreißig Zentimeter entfernt, inmitten der verstreuten Puppenteile, lag sein Jagdmesser. Er lachte immer, wenn er es dort liegen ließ, so quälend nah. Die Klinge, verkrustet mit Blut, blitze verlockend im Licht auf.
Sie schwang ihren freien Fuß in Richtung Messer. Sie schwang hoch und verpasste es.
Sie ließ ihren Körper wieder erschlaffen. Sie sank Zentimeter für Zentimeter an dem Rohr herunter und streckte ihren Fuß aus, bis das Messer in Reichweite war. Sie klammerte ihre Zehen um die dreckige Klinge, zog es über den Boden und hob es dann vorsichtig mit ihrem Fuß an, bis der Griff in ihrer Handfläche lag. Sie griff das Messer mit tauben Fingern und drehte es, um langsam das Seil durchzusägen, das ihre Handgelenke hielt. Die Zeit schien stillzustehen, während sie den Atem anhielt und hoffte, betete, dass sie das Messer nicht fallen ließ. Dass er nicht zurückkommmen würde.
Schließlich hörte sie einen Riss und sie war fast geschockt zu sehen, dass ihre Hände frei waren. Sofort durchschnitt sie mit klopfendem Herzen das Seil um ihren Bauch.
Frei. Sie konnte es nicht glauben.
Für einen Moment war alles was sie tun konnte dort zu hocken, als ihre Hände und Füße durch die wiederkehrende Blutzirkulation fast schmerzhaft kribbelten. Sie fasste nach den Kontaktlinsen auf ihren Augen, dem Verlangen widerstehend sie einfach herauszureißen. Sie schob sie vorsichtig zur Seite, griff sie mit den Fingerspitzen und zog sie heraus. Ihre Augen schmerzten fürchterlich und es war eine Erleichterung als die Linsen heraus waren. Sie betrachtete die zwei kleinen Plastikscheiben in ihrer Hand und die Farbe machte sie krank. Die Linsen waren ein helles, unnatürliches Blau. Sie warf sie zur Seite.
Mit pochendem Herzen zog Reba sich nach oben und humpelte schnell zur Tür. Sie griff nach dem Türknauf, aber drehte ihn nicht.
Was, wenn er da draußen ist?
Sie hatte keine Wahl.
Reba drehte den Knauf und zog an der Tür, die sich geräuschlos öffnete. Sie blickte den langen, leeren Flur herunter, der nur durch eine Öffnung auf der rechten Seite erleuchtet wurde. Sie schlich nackt, barfuß und leise den Flur entlang und sah, dass das Licht aus einem nur trüb erleuchteten Zimmer kam. Sie hielt inne und starrte. Es war ein einfaches Esszimmer, mit Tisch und Stühlen, alles vollkommen gewöhnlich, als würde eine Familie gleich zum Essen nach Hause kommen. Alte Spitzenvorhänge waren vor den Fenstern.
Ein neuer Horror schnürte ihr die Kehle zu. Diese Gewöhnlichkeit war verstörender als es ein Verließ hätte sein können. Durch die Vorhänge konnte sie sehen, dass es draußen dunkel war. Der Gedanke, dass die Dunkelheit es einfacher machen würde zu fliehen, ermutigte sie.
Sie drehte sich zurück in den Flur. Er endete an einer Tür – einer Tür die einfach nach draußen führen musste. Sie humpelte und lehnte sich schwer auf die kalte Messingklinke. Kalte frische Luft flutete ihre schmerzenden Lungen.
Sie fühlte sich gleichzeitig voller Panik und beschwingt. Die Freude der Freiheit.
Reba machte ihren ersten Schritt, bereit zu rennen – als sie plötzlich den harten Griff einer Hand an ihrem Handgelenk spürte.
Dann kam das vertraute, hässliche Lachen.
Das letzte was sie fühlte war ein hartes Objekt – wahrscheinlich aus Metall – das gegen ihren Kopf schlug. Dann fiel sie in die Tiefen der Dunkelheit.